2.32.3 (sch1p): 3. [Unruhen in Bayern und im Ruhrgebiet]

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3. [Unruhen in Bayern und im Ruhrgebiet]

Reichsminister Erzberger brachte die Zuspitzung der Verhältnisse in Bayern und im Ruhrgebiet zur Sprache. In Bayern scheine die Ausrufung der Räterepublik in 2 bis 3 Tagen bevorzustehen3. Im Ruhrrevier nehme der Streik rapide zu, er sei rein politischer Natur mit rigorosesten Forderungen (6-, zum Teil sogar 5stündiger Arbeitstag) und könne die schwersten Folgen haben4. Die übrigen Reichsminister trugen ergänzende Mitteilungen vor, darunter auch[119] solche über Ausbruch des Generalstreiks in Württemberg5. Über den Umfang der bevorstehenden Ereignisse konnte zwar vollständige Klarheit nicht erzielt werden, doch war man darüber einig, daß die Lage außerordentlich ernst sei und schnellste Gegenmaßnahmen erfordere.

3

Einer möglicherweise von Erzberger stammenden unsignierten Aufzeichnung vom 2.4.1919 zufolge hatte der Schreiber „den bestimmten Eindruck gewonnen, daß es lediglich von den Herren Landauer und Levien abhängt, den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem eine dritte Revolution unter Beseitigung des Landtages die Räteverfassung in Bayern einsetzen soll. Die Lage, die übrigens durch die letzten Pressenachrichten blitzartig beleuchtet wird, ist mehr als bedenklich. Die Reichsleitung wird ihr ein ernstes Augenmerk zuwenden müssen. Ob das Versäumte nachgeholt werden kann, ist heute bereits fraglich […].“ (Nachl. Erzberger , Nr. 14). Der pr. Geschäftsträger in München telegrafierte an das AA unter dem 1.4.1919: „Hier sind durch Budapester Ereignisse radikale Tendenzen stark gewachsen. Durch Weimarer Unitarisierungsbestrebungen ganz allgemein erregt, verfällt Bevölkerung immer stärker spartakistischen Gedanken. Der Ausbruch einer dritten Revolution, die deutliche Spitze gegen das Reich voraussichtlich haben wird, ist in bedrohliche Nähe gerückt. Regierung, die äußersten Ernst der Lage voll einsieht, ist machtlos wegen gänzlichen Fehlens zuverlässiger Truppen und ständigen Nach-links-gleitens der Massen […].“ Das Telegramm wurde der Rkei vom AA am 3. 4. zugeleitet und am 4. 4. von Scheidemann abgezeichnet (R 43 I /2212 , Bl. 34 f.).

4

Der Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet hatte am 31.3.1919 56 Zechen und 52 100 Bergleute erfaßt (DAZ, Nr. 156, 1.4.1919). Die der MSPD nahestehenden „Politisch-Parlamentarischen Nachrichten“ berichteten von der Lage im Ruhrrevier: „Der Hauptherd der Unruhen ist das Dortmunder, Bochumer, Wittener Revier, auf welche bisher die Bewegung noch ziemlich lokalisiert ist […] Die Bewegung geht von den Spartakisten aus und hat rein politischen Hintergrund. Ihre Ziele sind der Sturz der gegenwärtigen Regierung und die Durchführung des Bolschewismus. Die Führer der Bewegung sind sich darüber völlig klar, daß, wenn der 6-Stunden-Tag eingeführt würde, das ganze westliche Industrierevier bankrott machen würde. Es würden dann monatlich nur 180 000 Tonnen Kohle gefördert werden können gegen eine normale Förderung von 340 000 bis Oktober 1918. Unabhängige und Spartakisten arbeiten in der jetzigen Bewegung eng zusammen. Der geistige Leiter ist der russ. Bolschewist Dr. Karski, der wirtschaftliche Beirat der sogenannten Neuner-Kommission, die übrigens nur aus 6 Leuten besteht. Bei der Tagung in Essen wurden nur Leute zugelassen, die der Neuner-Kommission bekannt waren. In dieser Sitzung wurde, wie schon gemeldet, der Generalstreik für das ganze Industrierevier zum 1. April beschlossen […].“ (DAZ, ebd.).

5

Am 31.3.1919 brach in Stuttgart ein Generalstreik aus. Die Forderungen der Streikenden lauteten: 1. Freilassung der politisch Inhaftierten, 2. Aufhebung des Belagerungszustandes und des Versammlungsverbots, 3. Einstellung der im Januarstreik ausgesperrten Genossen, 4. „Sofortige Neuwahl der A. u. S.-Räte auf revolutionärer Grundlage“. Am selben Tag setzte nachmittags ein Gegenstreik der Stuttgarter Bürgerschaft ein (Vorwärts, Nr. 167, 1.4.1919).

Nach längerer Aussprache wurde beschlossen:

a) Es soll sofort versucht werden, durch geeignete Vertreter der Parteien, namentlich der Sozialdemokratie und des Zentrums auf die süddeutschen Regierungen einzuwirken und eine Konsolidierung der Verhältnisse zu erreichen6. Es soll möglichst auch mit der Sächsischen Regierung in dieser Weise Fühlung genommen werden7.

6

Erst am 6.4.1919 wurden die MSPD-Abg. in der NatVers Stücklen (-Chemnitz) und Wels (-Frankfurt/O.) telegrafisch beauftragt, Fühlung mit der bayer. Reg. Hoffmann und der württ. Reg. Blos zu nehmen. Telegramme und Berichte von Wels und Stücklen in: R 43 I /2212 , Bl. 37 f..

7

In den Akten der Rkei nicht zu ermitteln.

b) Über das Ruhrrevier soll noch heute Nacht der Belagerungszustand verhängt und der Einmarsch von Truppen angekündigt werden. Gleichzeitig soll unter Hinweis auf die entsprechenden Bedingungen des Brüsseler Lebensmittelabkommens erklärt werden, daß die streikenden Arbeiter keine Zuschüsse aus den eingehenden Nahrungsmitteltransporten erhalten könnten. Dagegen würden steigende Lebensmittelzulagen solchen Belegschaften zugeteilt werden, die den 7½-Stundentag einhalten und bestimmte Prozentsätze der Friedensförderung leisten würden. Für Streiktage soll in den Staatsbetrieben weder Lohn noch Arbeitslosenunterstützung gezahlt werden; die Privatunternehmer sollen ersucht werden, ebenso zu handeln.

Der Pressechef Rauscher verlas den Entwurf eines Aufrufs, der die unter b) bezeichneten Erklärungen enthielt. Der Entwurf wurde gebilligt. Er soll mit den Unterschriften der Reichsminister sofort veröffentlicht werden8.

8

Der Aufruf erschien am folgenden Tag in der dt. Tagespresse und lautete: „Für das Ruhrrevier hat über den Kopf der berufenen Arbeitervertretungen hinweg eine ‚Delegiertenkonferenz der revolutionären Bergarbeiter‘ den Beschluß gefaßt, am 1. April aufs neue in den Generalstreik zu treten. Die Forderungen, die dabei gestellt werden, würden in ihrer Gesamtheit die dt. Republik der politischen Anarchie und dem wirtschaftlichen Zusammenbruch ausliefern. Wäre dieser Streik, der den Arbeitern nicht helfen soll, sondern die Allgemeinheit zerstören will, siegreich, so würde das bedeuten: Vernichtung der Kohlenförderung durch 6-Stunden-Schicht und sinnlose Lohnerhöhungen; Stillegung aller Industrien, die auf Ruhrkohle angewiesen sind; Vereitelung der endlich zugesicherten Lebensmittelzufuhr, die mit Industrieprodukten und Kohlenausfuhr bezahlt werden muß […] Die RReg. hält nach wie vor fest an den Vereinbarungen, die sie seit Februar mit den Bergarbeitern getroffen hat: Arbeiter- und Bezirksräte, durch die allein die Arbeiterschaft in den Produktionsprozeß hineingeführt und zur gleichberechtigten Mitbestimmung und Mitarbeit hinzugezogen werden kann, – dazu das Sozialisierungsgesetz im Zusammenhang mit der Sozialisierung des Kohlenhandels, und schließlich die Einführung der 7½-Stunden-Schicht. Es ist keine Politik, keine Verwaltung, keine Ernährung mehr möglich, wenn solche grundsätzlichen Einigungen nach wenigen Tagen und Wochen umgeworfen und durch unmögliche und übertriebene Forderungen gegenstandslos gemacht werden, deshalb hat die RReg. in Erfüllung ihrer heiligsten Pflicht, Reich und Volk zu retten, zusammen mit der pr. Reg. folgendes beschlossen: Über das Ruhrrevier wird der Belagerungszustand verhängt. Die Regierungstruppen rücken in das Revier ein, um die Arbeiter und die Betriebsanlagen vor dem Terrorismus zu schützen. Der REM wird entsprechend den Brüsseler Forderungen der Alliierten in das Streikgebiet kein Pfund der eingeführten Lebensmittel abliefern lassen […] Dagegen soll den Arbeitern der Zechen, auf denen nach der 7½-Stundenschicht gefördert wird, eine besondere Schwerstarbeiterzulage, steigend mit dem Förderquantum, bereitgestellt werden […].“ (DAZ, Nr. 156, 1.4.1919).

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