1.12 (bau1p): Militär und Innenpolitik, der Kapp-Lüttwitz-Putsch und der Rücktritt des Kabinetts Bauer

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Das Kabinett BauerKabinett Bauer Bild 183-R00549Spiegelsaal Versailles B 145 Bild-F051656-1395Gustav Noske mit General von Lüttwitz Bild 183-1989-0718-501Hermann EhrhardtBild 146-1971-037-42

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Militär und Innenpolitik, der Kapp-Lüttwitz-Putsch und der Rücktritt des Kabinetts Bauer

Die Streitkräfte der Republik befanden sich zur Zeit des Kabinetts Bauer noch immer in einem strukturell und ideologisch spannungsreichen Reorganisasationsprozeß. Die Determinanten dieses Vorgangs reichten bis in die revolutionäre Phase des nachkaiserlichen Deutschlands zurück, in der es den Anhängern der parlamentarischen Demokratie nicht gelungen war, die Erringung der staatlichen Macht durch die Schaffung einer eigenen, regierungsabhängigen Militärgewalt abzusichern. Während die demokratische Arbeiterschaft in ihrer traditionellen „wehrpolitischen Zuschauerrolle“314 verharrte, vollzog sich die Konsolidierung der frühen Weimarer Republik auf der Basis des Ebert-Groener-Bündnisses vom 10. November 1918. Den weiteren Rahmen für die aus den Kadern der alten Armee, der Marine und den nachrevolutionären Freikorps zu konstitutierenden Streitkräfte hatte die Verfassungsgebende Nationalversammlung durch Gesetze vom 6. März und 16. April 1919 abgesteckt. Da diese Gesetze bis zum 31. März 1920 befristet waren, oblag es nun der von Gustav Bauer geführten Reichsregierung, die militärische Neuorganisation definitiv zu regeln315[LXXXIV] und dabei die in Versailles diktierten militärpolitischen Bestimmungen in die bereits ablaufende Umstrukturierung miteinzubringen.

Als Generalleutnant Groener am 23. Juni 1919 Reichspräsident Ebert gegenüber die ausschlaggebende Stellungnahme für die Annahme des Friedensvertrags abgab, schien – zumindest nach außen – die Tragfähigkeit jenes zwischen diesen beiden Männern geschlossenen Bündnisses erneut unter Beweis gestellt. Ursprünglich hatte es ein wechselseitiges Loyalitätsverhältnis zwischen ziviler und militärischer Gewalt begründet. Die Vorbehalte aber, mit denen Groener nunmehr seinen Ratschlag umgab, enthüllten überdeutlich, in welchem Maße sich die politische Führung in den vergangenen Monaten in die Abhängigkeit von der alten Armeeführung begeben hatte316. Der Tendenz dieser Kräfteverschiebung hat sich auch die Regierung Bauer in der Folgezeit nicht entziehen können.

Die Pressionen und Interventionen, denen die Reichsregierung im Gefolge der Räumung des Baltikums, der Bewältigung der Auslieferungsproblematik und der sozialpolitischen Absicherung der Heeresverminderung ausgesetzt war, sprachen in dieser Hinsicht eine eindeutige Sprache. Von nicht minderem Gewicht für das Schicksal der Republik war die Frage, wie in Zeiten ernsthafter Bedrohung der Rechts- und Staatsordnung des Reichs die Regierungsautorität aufrechterhalten und Macht zum Zwecke der inneren Friedensicherung ausgeübt werden könnte. Der hergebrachten Praxis des Kaiserreichs, sich dazu des militärischen Instruments zu bedienen, war nach der Novemberrevolution eine deutliche Absage erteilt worden317. Dennoch erfolgte die Selbstbehauptung des demokratischen Staates in den politischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit erneut mit Waffengewalt, so daß Mitte 1919 große Teile des Reichs wieder – Bayern noch immer – dem herkömmlichen Kriegs- oder Belagerungsrecht unterworfen waren.

Für die Regierung Bauer war erkennbar, daß das kommende Verfassungsrecht einen automatisch bestimmte exekutive Sondervollmachten auslösenden, vom Militär zu handhabenden Belagerungszustand alter Prägung nicht mehr kennen würde. An seine Stelle sollte die Ermächtigung des Reichspräsidenten (und der Länderregierungen) treten, bei einer erheblichen Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die zu ihrer Wiederherstellung geeigneten Maßnahmen zu treffen und dabei „erforderlichenfalls“ – also nicht notwendigerweise – mit Hilfe der bewaffneten Macht einzuschreiten; das Nähere werde ein Reichsgesetz bestimmen318. Unter dem Eindruck erneut ins Politische umschlagender Unruhen und Streiks setzte die neue Reichsregierung in einer ihrer ersten Sitzungen ordnungspolitisch eindeutige Prioritäten, um bis zum Inkrafttreten des angekündigten Gesetzes Unsicherheiten bei der Handhabung[LXXXV] des Ausnahmerechts aus dem Wege zu räumen. Auf Antrag des Reichswehrministers wurde am 26. Juni 1919 die Ausarbeitung inzwischen notwendig werdender Verfügungen des Reichspräsidenten beschlossen319. Der zehn Tage später vorliegende Entwurf entsprechender Prädidialverordnungen rückte ungeachtet der verfassungsmäßigen Möglichkeit, die dem Reichspräsidenten zustehenden Vollmachten durch zivile Instanzen vollziehen zu lassen, das Militär erneut ins Zentrum staatlicher Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Das Kabinett verständigte sich noch im Juli über das Grundmuster von Verordnungen, in denen durch die Verfassung garantierte Freiheitsrechte und Rechtsstaatsprinzipien je nach Entwicklung der Lage zur Disposition gestellt wurden. Unstimmigkeiten im Detail konnten bald darauf ausgeräumt werden. Unbestritten blieb im Verlauf der Diskussionen die bewußte Angleichung der neuen Ausnahmevorschriften an die in der Öffentlichkeit weithin diskreditierten Bestimmungen des alten Belagerungszustandsrechts320.

Als daraufhin nach Arbeitsniederlegungen im Bitterfelder Industrierevier am 17. Oktober 1919 der „Ausnahmezustand“ erstmals gestützt auf Artikel 48 Abs. 2 der neuen Reichsverfassung verhängt werden sollte, nahm das alte Rechtsinstitut in neuer, wenn auch modifizierter Form wieder praktische Gestalt an321. Die Maßnahmen richteten sich vor allem gegen Streiks in „lebenswichtigen“ Betrieben und in besonders exponierten Industrie- und Gewerbezweigen (Bergbau und Verkehrswesen). Vor die Alternative gestellt, entweder „das ganze Volk von 60 Millionen einer [wirtschaftlichen] Katastrophe preiszugeben“ oder demokratische Grundpositionen im Einzelfall einer auch systemstabilisierenden Friedenswahrung unterzuordnen, zielte die Ordnungspolitik der Reichsregierung besonders auf diejenigen Kräfte der extremen Linken, die sich in der zweiten Jahreshälfte 1919 weniger der Mittel des gewaltsamen Aufruhrs als vielmehr jener Arbeitskämpfe zur Durchsetzung ihrer eigenen politischen Ziele bedienten. Der Vollzug der Ausnahmevorschriften wurde fast wie selbstverständlich, ohne daß dies im Kabinett umstritten war, dem Militär übertragen. Weitergehende Vorschläge, z. B. der Erlaß eines den Arbeitszwang bringenden Gesetzes über den „wirtschaftlichen Belagerungszustand“ und die Ernennung General Groeners zum „Wirtschaftsdiktator“ fanden zwar Fürsprecher im Kabinett, die Reichsregierung als Ganzes war aber zu dieser obrigkeitsstaatlichem Denken verhafteten Selbstentmachtung nicht bereit322.

[LXXXVI] In den Augen der Kritiker der auf Artikel 48 gestützten Ausnahmepraxis handhabte die Armee die ihr verliehenen Vollmachten nur zu oft provozierend und politisch einseitig. Die den Militärbefehlshabern an die Seite gestellten Zivilkommissare wirkten in dieser Hinsicht in der Regel nicht ausgleichend323. Dem zuständigen Reichswehrminister Noske im Extremfall Komplizenschaft mit reaktionären Offizieren vorzuwerfen, von ihm zumindest Rechenschaft für sein optimistisch bekundetes Vertrauen in die Loyalität der Armeeführung zu fordern, lag aus dieser Sicht nahe. Die Furcht vor dem als „System Noske“ verketzerten „Militarismus“ neuer Prägung, den der Reichswehrminister in seiner Gefährlichkeit zu unterschätzen schien, bildete Ende 1919 und Anfang 1920 den Nährboden für die auch in anderen politischen Bereichen zu beobachtende Entfremdung zwischen der Regierung Bauer und weiten Teilen der sie tragenden Arbeiterschaft, der Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei324. Andererseits war die im Sturz Noskes gipfelnde Kritik an der Ordnungspolitik der Reichsregierung325 geeignet, in den Reihen der politischen Rechten und bei den ihr nahestehenden militärischen Führern in dem Sinne solidarisierend zu wirken, daß ihre antirepublikanischen Affekte verstärkt wurden326. Zwischen diesen sich verhärtenden Fronten geriet die Regierung Bauer zunehmend in die Isolation.

Eine verhängnisvolle Wendung nahm die Entwicklung, als konservative und reaktionäre Kräfte von verbaler Agitation und persönlicher Diffamierung zum offenen Angriff auf die Republik und ihre Repräsentanten übergingen. Die von einem entlassenen Offizieranwärter auf Reichsfinanzminister Erzberger abgegebenen Schüsse markierten am 26. Januar 1920 überdeutlich den Vollzug des atmosphärischen Wandels327. Anfang März 1920 durchkreuzten die DVP und DNVP endgültig den von den Regierungsparteien langfristig verfolgten Plan, durch das Hinausschieben der ersten Reichstagswahlen den Boden für ein auf innere Konsolidierung und stabile Wirtschaftsverhältnisse gegründetes Wahlklima zu bereiten, das als Voraussetzung für die erneute Erlangung demokratischer Mehrheiten angesehen wurde328. Ihr Vorwurf, die stillschweigend vollzogene Mandatsverlängerung der Nationalversammlung sei „undemokratisch“ und die indirekte Wahl des Reichspräsidenten „verfassungswidrig“, fiel bei einer Reihe ehrgeiziger Offiziere auf fruchtbaren Boden. Den Antrag der Rechtsparteien, die Nationalversammlung aufzulösen und die für die Reichstags- und Reichspräsidentenwahl erforderlichen Wahlgesetze beschleunigt zu verabschieden, nahm der Kommandierende General des Reichswehrgruppenkommandos 1 in Berlin, Freiherr von Lüttwitz, bereitwillig auf. Er intervenierte am 10. März 1920 bei Reichspräsident Ebert und konfrontierte ihn, seine eigene Zuständigkeit weit überschreitend, mit militärischen und politischen Forderungen329. Damit[LXXXVII] war zu der von den Verfassungsschutzbehörden im wesentlichen erkannten konservativ-gegenrevolutionären Bewegung, die seit dem Spätsommer 1919 einen Statsstreich vorbereitete, endlich der für dessen erfolgreiche Durchführung notwendige „starke Mann“ gestoßen.

Gemessen am Stand der Putschvorbereitungen erfolgte Lüttwitz’ Intervention verfrüht. Sein Eingreifen wurde bestimmt vom Zeitplan der im Versailler Vertrag vorgeschriebenen Truppenreduzierung, der ursprünglich eine Heeresiststärke von 100 000 Mann zum 31. März 1920 vorsah. Lüttwitz hatte wiederholt seine Sorge zum Ausdruck gebracht, daß ein so vermindertes Heer nicht in der Lage sein werde, der permanenten Bürgerkriegssituation im Innern Herr zu werden oder die Grenzen des Reichs nach außen zu verteidigen. Nach dem den Alliierten in der Auslieferungsfrage abgerungen Erfolg glaubte Lüttwitz nun, daß auch in Fragen der Heeresstärke Zugeständnisse ertrotzt und Fristverlängerungen erwirkt werden könnten330. Obwohl das Reich Schritte in diese Richtung unternahm, war der Abbau weiterer Heeres- und Marineformationen nicht zu umgehen. Der zum 10. März 1920 befohlenen Auflösung von seinem Kommando unterstehenden Marinebrigaden widersetzte sich der General zunächst mit Worten, dann mit Taten. Reichswehrminister Noske sah sich erst nach der bereits erwähnten Audienz Lüttwitz’ beim Reichspräsidenten hinreichend über das Zusammenspiel der militärischen Fronde mit der zum Umsturz bereiten Rechtsbewegung informiert, um darauf mit der Beurlaubung des Generals und der – vom preußischen Polizeiapparat zum Teil vereitelten – Verhaftung des inneren Verschwörerkreises zu reagieren. Indirekt setzte er damit das nunmehr überhastet anlaufende Putschgeschehen in Gang331.

In der Vergangenheit waren Nachrichten über Gewaltaktionen, die Teile der Reichswehr und rechtsstehende Persönlichkeiten planten, vom Preußischen Staatskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung von Berger leichtfertig heruntergespielt worden; Reichswehrminister Noske hatte immer wieder versichert, die Situation im Griff zu haben332. So blieb – von Berger wohl gewollt – auch der einzige amtliche Hinweis auf die Konkretisierung der Staatsstreichabsichten, den der Staatskommissar mit Datum vom 8. März 1920 dem Reichskanzler, dem Reichsaußen- und dem Reichswehrminister sowie Mitgliedern des Preußischen Staatsministeriums zukommen ließ, folgenlos. Berger, der von Lüttwitz insgeheim ins Vertrauen gezogen worden war, hatte es wider besseres Wissen unterlassen, Roß und Reiter zu benennen333.

Es verwundert deshalb nicht, daß das Reichskabinett am Spätnachmittag des 12. März 1920 die Mitteilung des Reichswehrministers über den bevorstehenden Marsch der Marinebrigade Ehrhardt auf Berlin mit ungläubiger Skepsis zur Kenntnis nahm und zunächst in der Behandlung der für die Kabinettssitzung vorgesehenen Tagesordnung fortfuhr334. In der darauffolgenden Nacht aber[LXXXVIII] überstürzten sich die hier im Einzelnen nicht nachzuzeichnenden Ereignisse. Von den maßgeblichen militärischen Führern stellte sich in einer improvisierten nächtlichen Kabinettssitzung allein General Reinhardt uneingeschränkt hinter Noskes Forderung, den anrückenden Putschtruppen aktiven Widerstand entgegenzusetzen. Zu Recht sah er voraus, daß, wenn die Reichswehr in diesem Fall als loyales Instrument der verfassungsmäßigen Staatsorgane versage, die bürgerkriegsgleiche Gegenwehr der bislang vom Militär in die Schranken gewiesenen Arbeiterbewegung unausbleiblich sein werde. Da die übrigen befragten Generalstabsoffiziere durch die Flucht in militärische Sachargumente zum Ausdruck brachten, daß sie die Verteidigung der Republik der Einheit der Reichswehr unterordneten, entschlossen sich Reichsregierung und Reichspräsident zunächst nach Dresden und dann nach Stuttgart auszuweichen, während in Berlin der politische Planer des Putsches, der ostpreußische Generallandschaftsdirektor Kapp, am Morgen des 13. März 1920 widerstandlos in das Reichskanzlerpalais einzog und von General von Lüttwitz mit der Bildung einer provisorischen Regierung beauftragt wurde335.

Als die Reichsregierung nach Ablauf von zwei für alle Beteiligten turbulent verlaufenen Tagen am 15. März im Schutz der württembergischen Landesregierung wieder Tritt faßte, war es den Usurpatoren noch nicht gelungen, das vorgefundene Machtvakuum durch die Errichtung einer Militärdiktatur aufzufüllen. Zwar bekannten sich wesentliche Teile der Zivilverwaltung und der Sicherheitskräfte in Berlin und vor allem in den preußischen Nord- und Ostprovinzen zu den Aufständischen; dennoch vermochten letztere nicht, ihre Autorität gegenüber den Berliner Zentralbehörden vollends durchzusetzen oder die Reichswehr in ihrer Gesamtheit in die Pflicht zu nehmen. Aus der Stuttgarter Perspektive der Reichsregierung klärte sich die Lage in dem Maße, wie im Reich und im Ausland der Fortbestand der legalen Verfassungsorgane bekannt wurde. Reichsinnenminister Koch, der eine rührige Informations- und Aufklärungstätigkeit entfaltete, schilderte der anfangs recht niedergeschlagenen Ministerrunde, daß von den durch ihren Eid an die Verfassung gebundenen Beamten und Soldaten der überwiegende Teil sich den Weisungen der Putschisten versage und loyal zur alten Regierung stehe oder zumindest – unter der zwielichtigen Parole, „Recht und Ordnung“ zu sichern – eine unentschiedene Haltung einnehme. Aus dieser Sicht lag es nahe, der inneren Schwäche der Putschisten eine Politik der Stärke entgegenzusetzen und von Süddeutschland aus den Zusammenbruch des Unternehmens abzuwarten.

Als direkte Waffe gegen den sogenannten „Prätorianerputsch“336 wuchs sich in der Hand der organisierten Arbeiterbewegung und der ihr nahestehenden Parteien der politische Generalstreik aus, den der Vorstand des ADGB bereits am 13. März proklamiert hatte. Die sozialdemokratischen Regierungsmitglieder hatten vor ihrer Flucht aus Berlin insgeheim zugestimmt, die Arbeiter, Angestellten und Beamten zur Arbeitsniederlegung aufzufordern. Angesichts[LXXXIX] dieses aus ihrer bisherigen Antistreikpolitik herausfallenden Votums galt es für die Reichsregierung jetzt, den Anschluß an die Putschabwehrfront nicht zu verlieren. Reichskanzler Bauer rückte deshalb das wenige Tage zuvor noch verworfene Argument in den Vordergrund der Regierungstätigkeit, daß man in diesen Tagen Putschisten von rechts nicht anders als kommunistischen Aufständischen früher begegnen dürfe. Kontakte mit Kapp und Lüttwitz sowie Vermittlungsversuche zwischen der alten und der „neuen Regierung“, glaubten die in Stuttgart versammelten Minister offiziell desavouieren zu müssen, bis sie sich, vom Zentrum des Geschehens abgeschnitten, ihnen nicht länger entziehen konnten337.

Die Entscheidung über den Erfolg oder Mißerfolg des Staatsstreichs fiel in Berlin. Dort war als Repräsentant der Reichsregierung – neben dem in Untätigkeit verharrenden Reichsarbeitsminister Schlicke – Vizekanzler Schiffer zurückgeblieben. Die Putschisten hatten ihn in seiner Aktionsfreiheit kaum beschränkt. Er verwarf die von seinen Stuttgarter Kollegen verfolgte Politik des Zuwartens, da Kapp versuchte, der Generalstreikbewegung durch die Androhung schärfster Strafen Herr zu werden. Ein bewaffneter Gegenstoß der so herausgeforderten, von der Wirtschafts-, Sozial- und Ordnungspolitik der Reichsregierung zudem enttäuschten Arbeiterschaft schien nicht ausgeschlossen. Um die Entladung der gespannten Atmosphäre in einen Bürgerkrieg zu verhindern, arbeitete Schiffer im Wettlauf mit der Zeit auf den schleunigen Rücktritt Kapps und Lüttwitz’, aber auch auf die Beendigung des Generalstreiks hin. Anders als für seine nach dem Eingeständnis Reichspräsident Eberts „ohne [hinreichende] Kenntnis der Dinge“ agierenden Stuttgarter Kollegen waren für ihn unter diesen Umständen die äußeren Modalitäten der angestrebten unblutigen Konfliktlösung von sekundärem Interesse. Als Kapp am Morgen des 17. März 1920 von seiner eigenen Gefolgschaft zum Rücktritt gezwungen wurde338, war Schiffer bereit, eine gleichzeitig auf Lüttwitz’ Abschied drängende Offizierjunta dadurch zu unterstützen, daß er informell und verklausuliert den meuternden Soldaten ihre Amnestierung versprach339. Er setzte damit, wie sich bald zeigen sollte, seine eigene politische Karriere aufs Spiel. Da sich die Bemühungen des Vizekanzlers aber im Rahmen eines komplexen Verhandlungsgefüges vollzogen, das von preußischen Ministern, von Partei- und Gewerkschaftsführern ebenso mitgetragen wurde wie von hohen Beamten, Offizieren und Industriellen, war nach der Abwendung der drohendsten Gefahr der Abzug der Putschtruppen aus Berlin und die Wiederaufnahme der Arbeit noch keineswegs eine beschlossene Sache.

Die amtierenden Militärbefehlshaber versuchten ihre Soldaten jetzt zur Abwehr der vor allem in Sachsen, Thüringen und im Ruhrgebiet in kommunistisch beherrschte Räteaufstände einmündenden Generalstreikbewegung zur Verfügung zu halten340. Andererseits waren die Gewerkschaftsführungen angesichts der ungewissen militärischen Lage und unter dem Druck der USPD und KPD in[XC] ihrer Entscheidung nicht frei. Sie versuchten sich zwischen dem 18. und 20. März in mehreren Verhandlungsetappen durch eine mit Vertretern der Regierungsparteien sowie Mitgliedern der Preußischen und der Reichsregierung getroffenen Neun-Punkte-Vereinbarung über die aus dem Putsch zu ziehenden politischen Konsequenzen abzusichern341. Am 22. März wurden Legien, Hilferding und Crispien bei dem inzwischen mit dem Restkabinett nach Berlin zurückgekehrten Reichskanzler vorstellig und setzten die sozialdemokratisch geführte Reichsregierung unter einen im Grunde verfassungswidrigen Zwang, indem sie mit Erfolg als Gegenleistung für den endgültigen Abbruch des Generalstreiks neben dem Rückzug der Truppen aus Berlin einen entscheidenden Einfluß der organisierten Arbeiterbewegung auf die Zusammensetzung der zukünftigen Reichsregierungen verlangten342. Damit drohte sowohl in Berlin wie auch im Ruhrgebiet, wo bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen nicht hatten unterbunden werden können, der ursprünglich zur Verteidigung der parlamentarischen Demokratie begonnene Abwehrkampf gegen Kapp und Lüttwitz neuen revolutionären Veränderungen zuzutreiben. – Während es in Berlin den politischen Parteien sehr schnell gelang, die Gewerkschaftsforderungen durch die nachfolgende Regierungsneubildung in das parlamentarische Kräftespiel einzubinden343, sollte der sogenannte „Ruhrkrieg“344 das von Hermann Müller am 27. März 1920 gebildete Folgekabinett noch in schwere außenpolitische Bedrängnis bringen.

Gustav Bauer mußte mit seiner Regierung zurücktreten, weil er den Kapp-Lüttwitz-Putsch nicht verhindert hatte. Dies war ihm als Regierungschef aber weniger anzulasten als die Tatsache, daß, als Ergebnis seiner Regierungstätigkeit, das Reich im Frühjahr 1920 wieder da stand, wo es ein Jahr zuvor schon einmal gestanden hatte: vor Klassenkampf und Bürgerkrieg. Seine Führungs- und Integrationsfähigkeit hatte weder ausgereicht, die parlamentarische Demokratie sozialliberaler Prägung von dem Stigma der Kriegsniederlage und des in seinen Konsequenzen verheerenden Friedensvertrags, noch von der Unterstellung zu befreien, vornehmlich Sachwalter eines ungebrochenen Kapitalismus und der gesellschaftlichen Kräfte zu sein, die bereits das Kaiserreich beherrscht hatten. Es überrascht nicht, daß Bauer, obwohl alter Gewerkschaftsführer, von seiner Partei und den Gewerkschaften zu einem Zeitpunkt fallen gelassen wurde, als er – mit Unterstützung des hinter ihm stehenden Reichspräsidenten – glaubte, lediglich über eine Ersetzung der infolge des Kapp-Lüttwitz-Putsches untragbar gewordenen Kabinettsmitglieder verhandeln zu müssen. Ohne Rückhalt bei seinen Mitarbeitern und in seiner Partei, war auch er – wenngleich in anderem Sinne – untragbar geworden.

Anton Golecki

Fußnoten

314

Manfred Geßner: Wehrfrage und Freie Gewerkschaftsbewegung in den Jahren 1918 bis 1923 in Deutschland. S. 53.

315

Dok. Nr. 64, P. 4; 110; 169, P. 3; 217, P. 3. – Das Reichswehrgesetz wird in der Zeit des Kabinetts Bauer nicht mehr verabschiedet. Zum Fortgang s. diese Edition: Das Kabinett Fehrenbach.

316

Dok. Nr. 3; 4, P. 5 und 13; 12, P. 1.

317

Siehe dazu die erste Proklamation des Rats der Volksbeauftragten vom 12.11.1918 (RGBl. S. 1303 ).

318

Art. 48 RV; in der Zählung des damals vorliegenden Verfassungsentwurfs: Art. 49.

319

Dok. Nr. 5, P. 5; s. dazu auch Dok. Nr. 10, P. 7.

320

Dok. Nr. 31, P. 1; 35, P. 1; 45, P. 7; 60, P. 4; 63, P. 3; 70; 82, P. 5; 86, P. 1; 120, P. 2.

321

Dok. Nr. 82, P. 5. – Der Terminus „Ausnahmezustand“ findet in den vom 21.11.19 ab zur „Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ erlassenen VOen keine weitere Verwendung (vgl. NatVers.-Drucks. Nr. 1536, Bd. 340 ). Damit soll, wie in „Richtlinien [der Reichskanzlei] für die geschäftliche Behandlung der nach Art. 48 Abs. 2 der Reichsverfassung zu treffenden besonderen Maßnahmen“ vom 9.12.19 festgestellt wird, dem RPräs. die Möglichkeit vorbehalten bleiben, auch von den oben zit. Musterverordnungen abweichende Anordnungen treffen und – anders als vom RWeM beantragt – über den Einsatz des Militärs jeweils „besonders“ entscheiden zu können (R 43 I /2698 , Bl. 185–188); Abdruck der „Richtlinien“ bei Heinz Hürten (Bearb.): Zwischen Revolution und Kapp-Putsch. Militär und Innenpolitik 1918–1920. Dok. Nr. 138. Die „Richtlinien“ traten am 9.1.20 in Kraft.

322

Dok. Nr. 6; 10, P. 7; 13; 63, P. 5; 76; 93; 96; 125, Anm. 7; 143; 144; 146; 151, P. 2; 153, P. 1; 170, P. 4; 173; 181, P. 2; 205; 209, besonders Anm. 10 und 11.

323

Dok. Nr. 6; 115; 120, P. 1; 122, P. 1 und 3134; 170, Anm. 9.

324

Dok. Nr. 127; 150; 158.

325

Dok. Nr. 206, besonders Anm. 8; 211, II.

326

Dok. Nr. 4, Anm. 10; 63, P. 4; 64, P. 3; 71; 102; 219, besonders Anm. 5 und 8.

327

Dok. Nr. 49, P. 8; 56, P. 9; 87; 99, P. 7; 103, P. 3; 115, besonders Anm. 4; 125, P. 11; 127; 133, P. 9; 155; 180.

328

Dok. Nr. 12, P. 8; 45, P. 5; 69, Anm. 2; 174, P. 3, , 4 und 5; 181, P. 4.

329

Dok. Nr. 32, Anm. 5; 210; 219.

330

Dok. Nr. 32; 110; 117; P. 1; 172, P. 2; 173; 184, P. 9.

331

Dok. Nr. 186, P. 3; 210; 219.

332

Dok. Nr. 4, Anm. 10; 32, Anm. 5; 71; 102; 127; 180.

333

Dok. Nr. 183; vgl. in diesem Zusammenhang sowie auch zum Folgenden Dok. Nr. 219.

334

Dok. Nr. 186, P. 3; 187.

335

Dok. Nr. 188; 189; 210, P. 1.

336

Ernst Troeltsch: Spektator-Briefe. S. 122.

337

Dok. Nr. 190; 191; 192; 193; 194; 195; 196; 197; 198; 218; 219.

338

Dok. Nr. Nr. 200; 210, P. 2.

339

Dok. Nr. 199; 201; 202; 203; 211; 218.

340

Dok. Nr. 206; 207, P. 1; 209; 216, P. 6.

341

Dok. Nr. 204; 205; 206; 218, VII und VIII.

342

Dok. Nr. 208; 209; 211.

343

Dok. Nr. 213; 216; 217, Anm. 1. – Die zum Rücktritt des Kabinetts Bauer führende Entwicklung kann an dieser Stelle summarisch behandelt werden, da sie in dieser Edition bereits von Martin Vogt in der Einleitung zu dem Bd. „Das Kabinett Müller I“ im Zusammenhang mit der Bildung des Nachfolgekabinetts zusammenfassend dargestellt worden ist (a.a.O., S. IX–XI).

344

Dok. Nr. 212; 215; 216, P. 3, , 4 und 5; 217, P. 1.

Extras (Fußzeile):