1.4 (feh1p): Reparationsfrage

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   Das Kabinett Fehrenbach  Konstantin Fehrenbach Bild 183-R18733Paul Tirard und General Guillaumat Bild 102-01626AOppeln 1921 Bild 146-1985-010-10Bild 119-2303-0019

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Reparationsfrage

Beginn, Tätigkeit und Ende des Kabinetts Fehrenbach wurden wesentlich durch die Entwicklung der Reparationsfrage bestimmt. War bisher die deutsche Reparationsschuld im Friedensvertrag nur im Grundsatz festgelegt worden, so galt es nun, Höhe, Art und Zahlungsmodus der deutschen Reparationsleistung festzulegen. Am Anfang dieser Entwicklung stand die Konferenz von Spa, auf der Deutsche und Alliierte sich zum ersten Mal in direkten Verhandlungen gegenüberstanden.

Die Konferenz war bereits mehrfach verschoben worden. Erst nachdem am 25. Juni die neue Reichsregierung gebildet worden war und damit auf der deutschen Seite eine verantwortliche Instanz bestand, war ihr Beginn auf den 5. Juli festgesetzt worden134. Der neuen Regierung blieben damit lediglich zehn Tage, um sich in die komplizierte Vertrags- und Verhandlungsmaterie einzuarbeiten.

Wesentliche Vorentscheidungen für die Verhandlungsführung auf der Konferenz hatte bereits das Kabinett Müller getroffen. So war beschlossen worden, den Alliierten kurz vor der Konferenz drei Denkschriften über die Wirtschafts- und Finanzlage Deutschlands zu überreichen, ohne dabei jedoch genaue Angaben[XXXV] über die Höhe der zukünftigen deutschen Reparationszahlungen zu machen. Diese Angaben sollten vielmehr erst im Laufe der Konferenz je nach dem Gang der Verhandlungen mitgeteilt werden135. Auch über die Höhe dieser Zahlungen waren auf deutscher Seite bereits Vorüberlegungen angestellt worden, doch war eine Entscheidung darüber noch nicht gefallen. So hatte etwa der Bankier Melchior vorgeschlagen, jeweils einen bestimmten Prozentsatz des Reichshaushalts für die Dauer von 30 Jahren zu zahlen, doch sollte der jährliche Betrag nicht höher als 1 Milliarde Goldmark sein. Der deutsche Geschäftsträger in Paris, Mayer, hatte hingegen davor gewarnt, überhaupt eine fixierte Summe anzubieten, und hatte empfohlen, diese Verhandlungen Sachverständigenkommissionen zu überlassen136.

Anfang Juni 1920 hatte die deutsche Seite dann einen ersten indirekten Kontakt mit den Alliierten selbst aufgenommen. In einer Unterredung zwischen Bergmann und Melchior und den Repko-Mitgliedern Theunis und Bradbury in Paris hatten die deutschen Vertreter auf die grundsätzliche Schwierigkeit eines Gesamtangebots hingewiesen und stattdessen eine jährliche Mindestzahlung vorgeschlagen, die mit der Besserung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland steigen sollte. Ferner sollten die Sachleistungen auf die Annuitäten angerechnet werden, und schließlich sollte eine deutsche Reparationsleistung an bestimmte allgemeine Voraussetzungen geknüpft werden. Der Gedanke, einen bestimmten Prozentsatz des Reichshaushalts als Reparationszahlung vorzusehen, war nicht wieder aufgenommen worden, da man auf deutscher Seite einer etwaigen interalliierten Finanzkontrolle entgehen wollte. Mindestannuität, Besserungsschein, Anrechnung der Sachleistungen und die Erfüllung allgemeiner Voraussetzungen waren seit dieser Unterredung Elemente der Reparationspolitik, die für die deutsche Position in den Jahren 1920 und 1921 bis zum Londoner Ultimatum hin bestimmend sein sollten137.

Die Ergebnisse dieser Besprechung schlugen sich nieder in einem schriftlich gefaßten Vorschlag Carl Melchiors zur Verhandlungsführung auf der Konferenz von Spa. Dieser Vorschlag enthielt sowohl Anweisungen für ein mögliches taktisches Vorgehen als auch Zahlenmaterial für die Grundlinien eines deutschen Reparationsangebots. Melchior hatte hier alle die Wünsche und Anregungen für eine zukünftige Reparationsregelung zusammengestellt, die von deutscher Seite bisher geäußert worden waren, hatte jedoch gleichzeitig stets auch die mögliche Reaktion der Alliierten miteinbezogen. Sein zahlenmäßiger Ausgangspunkt war dabei eine Mindestannuität von 1 Milliarde Goldmark auf die Dauer von 30 Jahren. Verhandlungstaktisch beabsichtigte er, die Diskussion der zahlenmäßigen Einzelheiten aus dem unter dem Druck der politischen Öffentlichkeit stehenden Konferenzplenum herauszunehmen und sie in die Sachverständigenkommissionen zu verlagern138. In zwei Besprechungen vom 28. und[XXXVI] 30. Juni befaßte sich dann auch das Kabinett mit dem Vorschlag Melchiors und stimmte ihm in seinen Grundlinien zu139.

Die Reparationsfrage wurde auf der Konferenz von Spa entgegen den deutschen Erwartungen nur kurz behandelt. Ursache war, daß zunächst die Entwaffnungsfrage die Konferenz beherrschte und daß dann die dramatische Entwicklung der Kohleverhandlungen dominierte. Erst auf der Nachmittagssitzung vom 10. Juli erhielt Simons Gelegenheit, die deutschen Vorstellungen über die Lösung der Reparationsfrage vorzutragen. Der Reichsaußenminister hielt sich in den Grundlinien des deutschen Angebots an den von Melchior ausgearbeiteten Vorschlag, nannte jedoch gemäß Melchiors Empfehlung weder Zahlen noch zeitliche Fristen140. Zur Ergänzung dieser Ausführungen überreichte die deutsche Delegation am 12. Juli den Alliierten eine Reihe von Finanzvorschlägen, die nun 30 Annuitäten vorsahen, jedoch wiederum keine Zahlen enthielten141. Es kam dann zwar am 13. Juli noch zu einer vorbereitenden Beratung dieser Finanzvorschläge durch eine deutsch-alliierte Unterkommission142, doch hatten sich die parallel laufenden Kohleverhandlungen am gleichen Tage so zugespitzt, daß die weiteren Beratungen dieser Kommission zunächst ausgesetzt wurden. Eine weitere Behandlung der Reparationsfrage fand auf der Konferenz von Spa nicht statt. Sie wurde auf Vorschlag des belgischen Ministerpräsidenten Delacroix einer internationalen Sachverständigenkonferenz vorbehalten, die einige Wochen später in Genf stattfinden sollte143.

Weit bedeutsamer für den Verlauf der Konferenz wurde die Kohlenfrage. Hier handelte es sich um die Regelung der Kohlelieferungen an Frankreich, Belgien und Italien gemäß Art. 236 und Anlage V zu Teil VIII des Friedensvertrages. Deutschland hatte sich in einem am 29. August 1919 in Versailles unterzeichneten Protokoll zu bestimmten Lieferungen verpflichtet, hatte diese jedoch wegen der innenpolitischen Unruhen im Frühjahr 1920 und wegen der damit verbundenen Streiks nicht einhalten können.

Die Kohleverhandlungen von Spa, die am 9. Juli begannen, ließen schon bald erkennen, daß die Alliierten zu keinen Zugeständnissen bereit waren. Verhandlungstaktisch gingen die alliierten Mächte so vor, daß sie gleich zu Beginn der Unterredungen unter Hinweis auf die Lieferungsversäumnisse mit Sanktionen drohten, um so die deutsche Seite gefügig zu machen. Zum Sprecher der Alliierten machte sich Millerand, der bereits in der Eröffnungssitzung diesen alliierten Standpunkt mit aller Schärfe vertrat144. Nach sehr harten Verhandlungen145, die am 14. Juli fast zum Abbruch der Konferenz führten, unterzeichneten Fehrenbach und Simons schließlich am 16. Juli das Kohlenprotokoll von[XXXVII] Spa gemäß den alliierten Bedingungen. Danach erklärte Deutschland sich bereit, für 6 Monate je 2 Millionen Tonnen Kohle an die Alliierten zu liefern, und erhielt als Gegenleistung für das Vorrecht der Alliierten, sich Kohlen besonderer Sorten und Qualitäten liefern zu lassen, eine Prämie von 5 Goldmark je Tonne zur Anschaffung von Lebensmitteln für die deutschen Bergleute. Ferner waren von alliierter Seite monatliche Vorschußzahlungen für die Kohlelieferungen vorgesehen, deren Zweckbestimmung jedoch nicht vorgeschrieben war. Nicht gedeckt durch die deutsche Unterschrift wurde allerdings die Drohung der Alliierten, bei Lieferungsverzögerungen das Ruhrgebiet oder einen anderen deutschen Gebietsteil zu besetzen146.

Trotz der finanziellen Zugeständnisse der Alliierten bedeutete das Kohleabkommen von Spa eine schwere Schädigung des deutschen Wirtschaftslebens. War die Kohleversorgung vor Spa im allgemeinen ausreichend gewesen, so kam es nach dem Abkommen zu einer Kohlenverknappung, die besonders die Hüttenindustrie, die Eisenbahnen und die kohleverarbeitende Industrie schwer traf. Für die deutsche Wirtschaft bedeutete dies einen Rückschlag, der unter den gegebenen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht so leicht wieder aufgeholt werden konnte147.

Der Gesamtverlauf der Konferenz von Spa machte deutlich, daß eine sachliche Behandlung der Reparationsfrage noch nicht möglich war. Zu sehr standen die beteiligten Staaten unter dem Druck ihrer eigenen Öffentlichkeit, deren extremen Forderungen sie vollständig ausgeliefert waren. Hinzu kam auf deutscher Seite die Erfahrung, daß der allgemeine Spielraum solcher Verhandlungen sehr eng begrenzt war und daß die Alliierten bei einem deutschen Widerstand die ihnen zu Gebote stehenden Sanktionsmöglichkeiten voll wahrnehmen würden. Klar wurde auch, daß die zwischen den Ententemächten über die Maingaubesetzung entstandenen Gegensätze beigelegt waren und daß diese wieder in geschlossener Front handelten.

Zwei Monate später fand in Brüssel eine internationale Finanzkonferenz statt, die der Völkerbund einberufen hatte und zu der auch Deutschland geladen war. Zwar hatte Frankreich es verstanden, eine Diskussion der Reparationsfrage zu verhindern148, doch bestanden für die deutschen Vertreter indirekt genügend Möglichkeiten, den neutralen Mächten den Standpunkt der Reichsregierung in dieser Frage darzulegen. Die Konferenz faßte eine Reihe von finanz-, währungs- und kreditpolitischen Beschlüssen, die jedoch, da die Konferenz nur eine beratende Funktion hatte, unter den gegebenen politischen Verhältnissen keine Aussicht auf eine Verwirklichung hatten. Für Deutschland hatte die Tagung insofern ein wichtiges Ergebnis, als das Reich wieder als gleichberechtigter Partner in den Kreis der Staaten aufgenommen wurde. Nach der demütigenden Behandlung in Spa war dies ein erster Prestigegewinn, von[XXXVIII] dem man sich auf deutscher Seite auch Auswirkungen auf die folgenden Reparationsverhandlungen erhoffte149.

Tatsächlich schien sich dieser Zug zu einer sachlichen Behandlung des Reparationsproblems in der folgenden Zeit fortzusetzen. Im November 1920 kamen die Alliierten überein, anstelle der in Spa vereinbarten Genfer Konferenz zunächst eine Sachverständigenkonferenz nach Brüssel einzuberufen, die das Gesamtproblem der Reparationen gleichsam vorberatend behandeln sollte. Entscheidungsbefugnisse sollte diese Konferenz jedoch nicht besitzen; vielmehr sollten die Sachverständigen ihren Regierungen Bericht erstatten, und das Protokoll der Konferenz sollte der Repko vorgelegt werden150.

Die Richtlinien für die deutschen Delegierten zur Brüsseler Konferenz wurden auf zahlreichen interministeriellen Besprechungen unter der Federführung des Auswärtigen Amts erarbeitet151. Ausgangspunkt der Richtlinien war der deutsche Finanzvorschlag, der bereits in Spa übergeben, dort aber nicht weiter beraten worden war152. In Brüssel sollte vor allem auf die Umstände hingewiesen werden, die die deutsche Leistungsfähigkeit beeinträchtigten und die Deutschland an der Abgabe eines bestimmten endgültigen Reparationsangebots hinderten. Sollten in diesen Punkten von den Alliierten Erleichterungen zugestanden werden, so wollte sich die deutsche Regierung zur Zahlung einer Pauschalsumme bereit erklären, auf die die bereits erfolgten Leistungen angerechnet werden sollten. Zahlen für diese Pauschalsumme sollten nicht genannt werden, doch sollte sich die Delegation um die zahlenmäßige Bewertung der bereits erfolgten Leistungen bemühen. Abschließend wurden in den Richtlinien dann noch einige Einzelheiten zum Zahlungsmodus, zur Anrechnung der Sachleistungen und zur Aufstellung eines Besserungsscheins mitgeteilt und Anweisungen für ihre Behandlung auf der Konferenz gegeben. Im ganzen ließen diese Richtlinien erkennen, daß die deutsche Regierung bestrebt war, die Festsetzung einer endgültigen Reparationssumme von ihrer Seite aus so weit wie möglich hinauszuschieben und die grundsätzliche Bereitschaft zur Zahlung von einem Entgegenkommen der Alliierten in Einzelbestimmungen des Friedensvertrages abhängig zu machen. Es war fraglich, ob man mit diesem Versuch einer Aufweichung grundsätzlicher Bestimmungen des Friedensvertrages bei den Alliierten durchdringen würde.

In seiner Sitzung vom 8. Dezember befaßte sich auch das Kabinett mit diesen Richtlinien und stimmte ihnen mit geringfügigen Änderungen zu. Zu deutschen Delegierten auf der Konferenz von Brüssel wurden Staatssekretär Bergmann und Reichsbankpräsident Havenstein ernannt; begleitet wurden sie von einer ganzen Reihe von Sachverständigen, zu denen u. a. Cuno, Melchior, Silberschmidt und Prof. Bonn gehörten153.

Die Konferenz von Brüssel tagte vom 16.–22. Dezember 1920. Zum Auftakt der Konferenz fand eine Reihe von Vollsitzungen statt, in denen die deutsche[XXXIX] Delegation ihre Position zu den finanz- und währungspolitischen Aspekten des Reparationsproblems darlegte154. Das Hauptreferat der deutschen Delegation wurde am 17. Dezember von Staatssekretär Bergmann gehalten, der die grundsätzliche deutsche Bereitschaft zur Lösung der Reparationsfrage zu erkennen gab, gleichzeitig aber auch – entsprechend den Richtlinien – auf die Bedingtheiten der deutschen Leistungsfähigkeit hinwies155. Zur Prüfung der von Bergmann gemachten Vorschläge wurde eine Reihe von Kommissionen eingerichtet, in denen Deutsche und Alliierte gemeinsam mögliche Erleichterungen einer deutschen Reparationszahlung erörtern sollten156. Insgesamt fanden die Verhandlungen in einer ruhigen, sachlichen Atmosphäre ohne jeden politischen Druck statt, so daß die Überleitung des bisher so spannungsreichen Reparationsproblems in sachlichere Bahnen durchaus möglich schien.

Das gute Verhandlungsklima der Konferenz führte schon bald zu Überlegungen, über die eigentliche Aufgabe hinaus auch zahlenmäßige Vorschläge über eine deutsche Reparationsleistung zu erörtern. Hauptsächlich gefördert wurden diese Bestrebungen von dem britischen Delegierten Lord D’Abernon, der damit vor allem die Geneigtheit maßgebender französischer Kreise zu einer vorzeitigen Regelung der Reparationsfrage ausnutzen wollte. Da zur Klärung dieser Frage auf beiden Seiten umfangreiche Beratungen notwendig waren, beschloß man am 22. Dezember, die Konferenz auf den 10. Januar 1921 zu vertagen. In der Zwischenzeit sollten in Paris die Sachverständigenverhandlungen fortgesetzt werden, um die näheren Einzelheiten einer solchen Regelung auszuarbeiten157.

Schon unmittelbar nach Weihnachten stellte sich jedoch heraus, daß die Haltung der Alliierten zu einer vorzeitigen Regelung der Reparationsfrage durchaus nicht einheitlich war. Bergmann wurde erklärt, daß Frankreich der Aufstellung eines Reparationsplans und der Festlegung der Höhe der Annuitäten bereits in Brüssel ganz und gar fernstehe und einer solchen Regelung nie zustimmen würde. Es wurde daher vorgeschlagen, die für den 10. Januar 1921 geplante Wiederaufnahme der Konferenz zu vertagen158.

Bei den Sachverständigen stießen diese Bestrebungen auf Widerstand; sie wollten die durch die Konferenz geschaffene günstige Konstellation ausnutzen. Schon bald wurden daher von anderer alliierter Seite Versuche unternommen, die festgefahrenen Verhandlungen wieder in Gang zu bringen. Eine von belgischer Seite Anfang Januar vorgetragener förmlicher Reparationsplan fand jedoch weder die deutsche noch die englische und französische Zustimmung und wurde ohne weitere Beratung verworfen. Daraufhin kam der französische Delegierte Seydoux mit einem Gegenvorschlag, der von einer provisorischen Regelung[XL] ausging: Deutschland sollte für die Dauer von 5 Jahren eine Annuität von 3 Milliarden Goldmark zahlen; während dieser Zeit sollte möglichst bald die deutsche Gesamtschuld festgesetzt werden159.

Dieser Provisoriumsvorschlag schien die Unterstützung aller Alliierten gefunden zu haben. Sowohl der britische wie auch der französische Botschafter in Berlin drängten Simons, auf den von Seydoux vorgeschlagenen vorläufigen Zahlungsplan einzugehen160. Das Kabinett, das sich am 15. Januar mit dieser Angelegenheit befaßte, verhielt sich dagegen zurückhaltend. Hier glaubte man auf die Festsetzung einer Globalsumme nicht verzichten zu können und wollte nur unter bestimmten Umständen über den Vorschlag Seydoux verhandeln161. Mit diesen Richtlinien kehrte Bergmann nach Paris zurück162.

Die weiteren Bemühungen der Sachverständigen um eine Übergangslösung wurden durch die Pariser Note der Alliierten vom 29. Januar 1921 jäh unterbrochen. Ohne weitere Anhörung der deutschen Seite verfügten die Alliierten hier neben einer Entscheidung in der Entwaffnungsfrage auch eine Regelung der Reparationsfrage, die zwar als „Vorschlag“ (proposition) bezeichnet wurde, im Prinzip jedoch einem Ultimatum gleichkam. Im einzelnen forderte die Note die Zahlung von insgesamt 226 Milliarden Goldmark, die auf 42 Annuitäten verteilt werden sollten. Zusätzlich wurde die Zahlung von 12% der deutschen Ausfuhr als Reparationsleistung verlangt. Zur Sicherung und Durchführung der Zahlungen hatten die Alliierten ein genaues Verfahren vorgeschrieben, durch das die deutsche Währungs- und Finanzpolitik einer strengen Kontrolle unterworfen wurde. In einer Mantelnote wurde die deutsche Regierung aufgefordert, bevollmächtigte Delegierte zu einer Konferenz zu entsenden, die Ende Februar in London stattfinden sollte163.

Die Reichsregierung wurde durch die alliierte Note vollkommen überrascht. Bei den Verhandlungen im Kabinett wurde zunächst empfohlen, die Note ablehnend zu beantworten und die Teilnahme an der Konferenz in London zu verweigern, doch setzte sich bald eine ruhigere Betrachtungsweise durch. Klar war dabei allen Beteiligten. daß die Reparationsvorschläge der Alliierten unannehmbar waren164. Man beschloß daher, von deutscher Seite Gegenvorschläge auszuarbeiten, mit der Veröffentlichung dieser Vorschläge jedoch aus taktischen Gründen nicht zu früh hervorzutreten. Zunächst wollte man den Verlauf vertraulicher Verhandlungen abwarten, die von Lord D’Abernon vorgeschlagen worden waren165. Am 5. Februar wurden auch die Ministerpräsidenten der Länder informiert166, und am 7. Februar faßte das Kabinett den förmlichen Beschluß, die Einladung nach London anzunehmen. Bedingung sollte allerdings sein, daß auch über die deutschen Gegenvorschläge verhandelt würde. Gleichzeitig[XLI] wurde verabredet, ein besonderes Gremium zur Vorbereitung dieser Gegenvorschläge zu bilden167.

Schon Anfang Februar hatte sich auf deutscher Seite die Überzeugung durchgesetzt, daß eine provisorische Lösung der Reparationsfrage nach der Pariser Note nicht mehr möglich sei, sondern daß in London eine Gesamtsumme genannt werden müsse168. Der deutsche Gegenvorschlag ging daher von einer Gesamtsumme von 50 Milliarden Goldmark aus, die sich bei Rückrechnung der 226 Milliarden Goldmark der Pariser Note auf das Jahr 1921 ergaben. Auf diese Summe von 50 Milliarden sollten die deutschen Vorleistungen angerechnet werden, die von deutscher Seite auf 20 Milliarden beziffert wurden. Allerdings sollte der genaue Wert der Vorleistungen erst von einer gemischten Sachverständigenkommission festgestellt werden. Die verbleibende Summe sollte zunächst durch eine internationale Anleihe in Höhe von 8 Milliarden Goldmark zu günstigen Bedingungen finanziert werden, und die Restsumme sollte mit 5% verzinst werden. Eine Regelung der weiteren Tilgung blieb vorbehalten. Ferner wurde vorgeschlagen, an die Stelle der 12%igen Ausfuhrabgabe ein anderes Indexschema treten zu lassen, dessen Ausarbeitung ebenfalls einer gemischten Kommission übertragen werden sollte. Voraussetzung für diese deutschen Vorschläge sollte der Erhalt Oberschlesiens beim Reich und die Wiederherstellung des freien Wirtschaftsverkehrs sein169. In seiner Sitzung vom 25. Februar stimmte das Kabinett den Vorschlägen zu170, und einen Tag später wurden auch die Parteiführer informiert171. Zum Verhandlungsführer auf der Londoner Konferenz wurde Außenminister Simons bestimmt172.

Die Verhandlungen in London begannen am 1. März 1921. Am Vorabend der Konferenz hatte noch eine Sitzung der deutschen Delegation in London stattgefunden, bei der Botschafter Sthamer nachdrücklich darauf gedrängt hatte, aus verhandlungstaktischen Gründen nicht gleich den deutschen Gesamtvorschlag vorzulegen, sondern bestimmte Teile daraus zurückzuhalten. Die Delegation stimmte dem zu, und so wurde beschlossen, den Besserungsschein (Indexschema) aus dem deutschen Gegenvorschlag zunächst herauszunehmen173. Am Morgen des 1. März übergab Simons den Alliierten den so verminderten deutschen Vorschlag und begründete ihn in einer eingehenden Rede. Die Schwierigkeiten der Übersetzung des verwickelten deutschen Vorschlages und die offensichtliche Enttäuschung der Alliierten über das ihrer Ansicht nach unzureichende deutsche Angebot führten dazu, daß Lloyd George die Sitzung abrupt schloß und die Konferenz vertagte174.

[XLII] Die alliierte Antwort erfolgte am 3. März. Im Namen der Entente lehnte Lloyd George die deutschen Gegenvorschläge ab und drohte eine Reihe von Sanktionen an, falls Deutschland nicht bis zum 7. März die Reparationsvorschläge der Pariser Note angenommen habe175. Es war dies die bereits aus Spa bekannte Taktik der Alliierten, durch Sanktionsdrohungen jede Verhandlung unmöglich zu machen und die deutsche Seite damit zur Annahme der alliierten Bedingungen gleichsam zu zwingen.

In Berlin fanden bei Eintreffen der Nachricht von den Vorgängen in London eine ganze Reihe von Sitzungen statt, auf denen man sich über die möglichen Folgen der Sanktionen klar zu werden versuchte. Es wurde beschlossen, an den deutschen Gegenvorschlägen festzuhalten und das alliierte Diktat nicht zu unterschreiben176. Gleichzeitig teilte Simons aus London mit, daß er Vermittlungsversuche eingeleitet habe, die die Aufschiebung der Sanktionen und die Verständigung über ein Provisorium zum Ziele hätten177. Politische Gremien, amtliche Stellen und die Delegation zeigten eine einheitliche Reaktion. War es in Berlin die Festigkeit in der einmal eingenommenen Haltung, so war es in London der Versuch, die Verbindungen nicht abreißen zu lassen und der deutschen Delegation wieder Verhandlungsmöglichkeiten zu schaffen. Gefährdet wurde die deutsche Position nur durch das Verlangen der Parteien nach einer Erklärung der Regierung im Reichstag. Eine solche Erklärung und die nachfolgende Debatte bargen die Gefahr in sich, daß durch eine mögliche Polemik die Alliierten provoziert und die Verhandlungen in London empfindlich gestört würden. Schließlich entschloß sich das Kabinett nach einer Rückfrage bei Simons, nur eine förmliche Erklärung abzugeben, auf die Angabe von Einzelheiten jedoch zu verzichten178.

In London hatten indessen seit dem 4. März inoffizielle Verhandlungen stattgefunden, bei denen man eine Vermittlung anstrebte. Sowohl in getrennten Gesprächen mit der französischen und der britischen Seite als auch in einer Gesamtbesprechung versuchte die deutsche Delegation, die Zustimmung der Alliierten für eine provisorische Regelung zu erlangen. Alle diese Versuche scheiterten jedoch an der unnachgiebigen französischen Haltung179. Auf der Konferenzsitzung am Morgen des 7. März machte Simons dann noch einen letzten Vermittlungsvorschlag, der sogar die vom Kabinett gesteckten Grenzen überschritt, doch wurde auch dieser Vorschlag von den Alliierten als unzureichend abgelehnt. Damit traten die Sanktionen in Kraft. Am 8. März wurden Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort von alliierten Truppen besetzt, und gleichzeitig übernahm die Irko die Zollverwaltung für das gesamte besetzte Gebiet180.

[XLIII] Wiederum hatte die Politik der Drohung und der Sanktionen gesiegt. Unter der harten Führung Frankreichs hatten die Alliierten eine Position bezogen, die, wenn nicht Deutschland die alliierten Vorschläge bedingungslos annahm, schwer wieder zu räumen war. Es war eine Politik, die blind war für das wirtschaftlich und finanziell Mögliche und die den Ausweg allein in Zwangsmitteln suchte.

Es wurde sehr bald klar, daß dieser Zustand des begrenzten Konflikts nicht von Dauer sein konnte. Da sich ein Einlenken der deutschen oder auch der alliierten Seite nach der Durchführung der Sanktionen von selbst ausschloß, blieb nur eine Vermittlung der traditionell neutralen Mächte, etwa der Schweiz und des Vatikans, oder der USA. Besonders wünschenswert war es, die USA in die Lösung der Reparationsfrage miteinzubeziehen, da sie der Hauptgläubiger im interalliierten Schuldensystem waren. Immer stärker wurde daher die Tendenz, die Reparationen mit den interalliierten Schulden zu verflechten und mit der Lösung des einen Problems auch das andere zu beseitigen.

Zunächst erfolgte Ende März/Anfang April ein Vermittlungsversuch des Vatikans, doch scheiterte dieser Versuch an einer Indiskretion der deutschen Seite181. Mitte April wandte sich die Reichsregierung dann direkt an die USA und bat um die Übernahme des Schiedsrichteramtes in der Reparationsfrage. Die USA lehnten die Übernahme eines solchen Amtes ab, gaben jedoch zu verstehen, daß sie bei der Vorlage neuer deutscher Reparationsvorschläge diese an die Alliierten weiterleiten würden182.

In Berlin machte man sich daraufhin an die Ausarbeitung eines neuen deutschen Reparationsangebots. Dabei setzte das abgewiesene Londoner Angebot eine Grenze, die nicht unterschritten werden durfte, wenn man sich nicht erneut der Gefahr einer Zurückweisung aussetzen wollte. Nach sehr intensiven Verhandlungen im Kabinett und mit den Parteiführern wurde beschlossen, den Alliierten ein Alternativangebot in Höhe von 50 Milliarden Goldmark Jetztwert oder Annuitätenzahlungen bis zum Gesamtwert von 200 Milliarden Goldmark zu machen. Ein möglichst hoher Barbetrag sollte unmittelbar durch eine internationale Anleihe beschafft werden. Ferner wurden der Besserungsschein und die Mitarbeit beim Wiederaufbau der zerstörten Gebiete angeboten. Den Adressaten der Note, die USA, suchte man dadurch miteinzubeziehen, daß man seine Bereitschaft erklärte, die Schulden der Alliierten an die Vereinigten Staaten zu übernehmen. In dieser Form wurde die Note der amerikanischen Regierung am 24. April übermittelt183.

Doch auch dieser Vermittlungsversuch scheiterte. Am 3. Mai teilten die USA der Reichsregierung mit, daß die Alliierten das deutsche Angebot zurückgewiesen hätten184. Der Grund für diese Ablehnung lag dabei offenbar weniger in der unzureichenden Höhe der Zahlungen als vielmehr darin, daß sich die Alliierten inzwischen selbst an die Aufstellung eines Zahlungsplans gemacht hatten. Die Nachricht vom Bestehen eines solchen alliierten Zahlungsplanes war zwar schon[XLIV] an die Öffentlichkeit gedrungen, doch waren Einzelheiten noch nicht bekannt geworden185. Angesichts dieser Sachlage beschloß das Kabinett daraufhin, kein neues Reparationsangebot zu machen, sondern den USA in einer Antwortnote nur die grundsätzliche Bereitschaft Deutschlands zur Verständigung in der Reparationsfrage mitzuteilen186.

Nach der gescheiterten Vermittlung der USA und in Aussicht eines von den Alliierten oktroyierten Zahlungsplanes schien dem Kabinett die Möglichkeit zur Fortführung seiner Politik nicht mehr gegeben. Nach längeren Beratungen am 3. und 4. Mai beschloß das Kabinett am Nachmittag des 4. Mai seinen Rücktritt. Der Bitte des Reichspräsidenten, die Geschäfte fortzuführen, wurde zugestimmt187. Am 5. Mai wurde dann der Londoner Zahlungsplan der Alliierten übermittelt188, doch blieb dessen förmliche Annahme dem Kabinett Wirth vorbehalten.

Fußnoten

134

Am 25. 6. teilte der englische Geschäftsträger dem Auswärtigen Amt offiziell mit, daß die Konferenz von Spa am 5. 7. beginnen sollte. Schultheß 1920, I, S. 154.

135

Siehe dazu den Band „Das Kabinett Müller I“ dieser Edition, Dok. Nr. 19; 50; 66; 70; 77, P. 1.

136

Siehe dazu „Das Kabinett Müller I“, Dok. Nr. 66; 70.

137

Siehe dazu „Das Kabinett Müller I“; Dok. Nr. 133.

138

Dok. Nr. 1.

139

Dok. Nr. 4; 6.

140

Zur Rede des Reichsaußenministers siehe DBFP, 1st Series, Vol. VIII, p. 538 f.; siehe dazu auch RT-Drucks. Nr. 187, Bd. 363, S. 18 –21.

141

Zu den deutschen Finanzvorschlägen siehe RT-Drucks. Nr. 187, Bd. 363 , Anlage 23.

142

Zur Sitzung dieser Unterkommission siehe DBFP, 1st Series, Vol. VIII, p. 568 ff.

143

Dok. Nr. 28, Anm. 3.

144

Zu diesen Verhandlungen siehe RT-Drucks. Nr. 187, Bd. 363, S. 12  ff. und DBFP, 1st Series, Vol. VIII, p. 507 ff.

145

Siehe dazu Dok. Nr. 24; 25.

146

Zu den Einzelheiten des Kohlenprotokolls von Spa siehe RT-Drucks. Nr. 187, Bd. 363 , Anlage 21 und Dok. Nr. 28.

147

Siehe Dok. Nr. 66; 128.

148

Siehe dazu Schultheß 1920, I, S. 242; C. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 66 und Dok. Nr. 59, P. 1.

149

C. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 66.

150

Schultheß 1920, II, S. 385–386.

151

Dok. Nr. 129.

152

RT-Drucks. Nr. 187, Bd. 363 , Anlage 23.

153

Dok. Nr. 131.

154

Dok. Nr. 145.

155

Zur Rede StS Bergmanns siehe C. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 70–72.

156

Siehe dazu die „Sammlung von Aktenstücken über die Verhandlungen auf der Sachverständigenkonferenz zu Brüssel vom 16. bis 22. Dezember 1920“, hrsg. vom AA, Berlin 1921, S. 60–232.

157

Siehe dazu C. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 72 f.; D’Abernon, Botschafter der Zeitenwende, Bd. 1, S. 119 und Dok. Nr. 145.

158

C. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 75.

159

C. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 75.

160

Dok. Nr. 156, Anm. 17.

161

Dok. Nr. 156, P. 11.

162

Dok. Nr. 156, Anm. 20.

163

Zum Wortlaut der Note siehe RT-Drucks. Nr. 1640 , Nr. 1, Bd. 366.

164

Dok. Nr. 165; 166.

165

Dok. Nr. 169.

166

Dok. Nr. 171.

167

Dok. Nr. 172, P. 2 und 3.

168

Dok. Nr. 172, P. 3.

169

Zum Wortlaut der deutschen Vorschläge siehe Dok. Nr. 181, Anlage.

170

Dok. Nr. 181.

171

Dok. Nr. 183.

172

Dok. Nr. 180.

173

Dok. Nr. 192; siehe dazu die abweichende Schilderung bei C. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 87.

174

RT-Drucks. Nr. 1640, Bd. 366, S. 137 –145 und 149–151; C. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 89.

175

Zu der Rede Lloyd George’s siehe RT-Drucks. Nr. 1640, Bd. 366, S. 153 –167; siehe auch Dok. Nr. 188.

176

Dok. Nr. 188; 189; 190.

177

Dok. Nr. 189, Anm. 1.

178

Dok. Nr. 190; 191; 194, P. 2; 195; zur Erklärung der RReg. siehe RT-Bd. 348, S. 2656 –2657.

179

Dok. Nr. 194, Anm. 2; Dok. Nr. 196; 197; 198; 199; 205. Siehe dazu auch C. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 93.

180

Dok. Nr. 199; 201.

181

C. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 97; Dok. Nr. 220.

182

Dok. Nr. 238, Anm. 1.

183

Dok. Nr. 238; 239; 240; C. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 98.

184

Dok. Nr. 243.

185

Dok. Nr. 244.

186

Dok. Nr. 244, Anm. 6.

187

Dok. Nr. 244; 245; siehe dazu auch unten S. LXVIII ff.

188

Dok. Nr. 248; 249; 250; 252.

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