2.177.1 (feh1p): [Ernährungslage der Arbeiterschaft]

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 11). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

   Das Kabinett Fehrenbach  Konstantin Fehrenbach Bild 183-R18733Paul Tirard und General Guillaumat Bild 102-01626AOppeln 1921 Bild 146-1985-010-10Bild 119-2303-0019

Extras:

 

Text

RTF

[Ernährungslage der Arbeiterschaft]

Herr Leipart dankt der Regierung, daß den Führern der Gewerkschaften Gelegenheit gegeben sei, über die Lage und Stimmung der Bevölkerung zu berichten2. Im ganzen Reiche herrsche eine große Notlage bei der Arbeiterschaft,[472] wie aus zahllosen Protesten und Beschwerden hervorgehe. Allgemein würde ein Preisabbau verlangt. Daher hätten insbesondere die Gerüchte über eine bevorstehende Steigerung für Brotgetreide3 und Kohle eine schwere Beunruhigung in die Kreise der Arbeiterschaft getragen.

Staatssekretär Albert begrüßt Herrn Leipart in seinem neuen Amt4 und gibt dem Bedauern des Reichskanzlers Ausdruck, daß er wegen Unwohlseins der Besprechung nicht beiwohnen könne.

Herr Graßmann: Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund habe Feststellungen über die Steigerung von Preisen und Löhnen in 30 verschiedenen Städten getroffen. Dabei habe sich ergeben, daß, während die Lebenskosten seit der Vorkriegszeit um das zwölf- bis fünfzehnfache gestiegen seien, die Steigerung der Löhne hiermit in keiner Weise Schritt gehalten habe. Von den in die Feststellung einbezogenen etwa 2½ Millionen Arbeitern sei bei etwa 1½ Millionen eine achtfache Lohnsteigerung eingetreten, bei 800 000 nur eine fünffache, bei dem Rest eine noch geringere. Der Vorstand des Allg. Deutschen Gewerkschaftsbundes befände sich in einer schwierigen Lage; so würde von vielen Seiten bereits zur Aktion gedrängt; man verlange von ihm, daß er zum Generalstreik, ja sogar zu bewaffneten Aufständen schreite.

Allgemein würde so argumentiert, daß die Preissteigerung während des Krieges von der Landwirtschaft ausgegangen sei, wodurch schließlich die jetzigen unerträglichen Zustände herbeigeführt worden seien. Daher müsse auch die Landwirtschaft mit dem Preisabbau beginnen.

Die Landwirtschaft arbeite nun auf eine weitere beträchtliche Preissteigerung ihrer Produkte hin, sie habe ihr Augenmerk stets auf die Auslandspreise gerichtet und wolle die inländischen allmählich zu jenen hinaufschrauben. Der Zulauf, den die Kommunisten hätten, erkläre sich ausschließlich durch die verzweifelte Lebenslage der Arbeiterschaft.

[473] Eine Erhöhung des Brotgetreidepreises würde eine Erhöhung der Löhne zwingend nach sich ziehen. Die gleiche Folge würde eine Erhöhung des Kohlenpreises haben. Die Gewerkschaften hätten kein Interesse an einer weiteren Lohnsteigerung, aber es müsse etwas geschehen, um die Kaufkraft des Geldes zu stärken.

Reichsminister Dr. Brauns: Niemand in der Reichsregierung würde den Ernst der dargelegten Tatsachen verkennen. Man müsse aber berücksichtigen, daß die Arbeiterlöhne immer noch ansteigende Tendenz hätten, er erinnere nur an die jüngsten Lohnsteigerungen bei Bergarbeitern, Bahnbeamten, Buchdruckern usw.5.

Ein Abbau der Preise sei teilweise schon erfolgt. In der Frage der Kohlenpreiserhöhung sei die Ansicht der Arbeiterschaft geteilt, ein Teil von ihr halte eine Steigerung der jetzigen Kohlenpreise für notwendig.

Über die wesentlichste Frage, nämlich die des Preisabbaues in der Landwirtschaft, werde sich der Herr Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft äußern.

Reichsminister Dr. Hermes: Er sei von der großen Bedeutung der aufgeworfenen Frage überzeugt. Bezüglich des Preisabbaues sei er der Ansicht, daß man ihn nicht auf dem künstlichen Wege der Verordnung herbeiführen könne, er sei vielmehr nur von einer Gesundung der gesamten Wirtschaft zu erwerben. Man könne deshalb nicht willkürlich mit der Herabsetzung des Preises für landwirtschaftliche Produkte beginnen. Der Kernpunkt des Problems sei, daß das Angebot gesteigert, daß Waren geschaffen würden. In dieser Richtung bewege sich der planvolle Abbau der Zwangswirtschaft. Mit ihm habe man begonnen, wo es im Interesse der Produktion nötig gewesen sei, so beispielsweise bei den Kartoffeln. Hierbei lasse es sich nicht umgehen, daß die Preise zunächst aber vorübergehend stiegen6. Inzwischen setze eine verstärkte Produktion ein, die allmählich zu einer allgemeinen Senkung der Preise führe. Um die schwierige Übergangszeit zu erleichtern, müßten in solchem Falle ausländische Lebensmittel herangezogen werden. Dies sei erfolgreich geschehen, wodurch in letzter Zeit eine Preissenkung für Schmalz, Margarine, Reis, Heringe und Hülsenfrüchte eingetreten sei, in letzter Zeit auch für frische Fische und Eier. In weiterer Folge seien hierdurch bereits auch die Schweinepreise zum Wanken gebracht, deren weiterer Rückgang zu erwarten sei. Im Frühjahr erwarte er das gleiche für Kartoffeln. Im ganzen sei also die Ernährungslage gegen früher stark entspannt.

Er halte es nicht für zutreffend, daß die Preissteigerung einseitig von der Landwirtschaft ausgegangen sei, wenn er auch nicht verkenne, daß einzelne Landwirte durch Zurückhaltung ihrer Produkte erheblich geschadet hätten. Die Kontrolle bei säumigen Landwirten habe bereits seit längerer Zeit energisch eingesetzt.

[474] Zu berücksichtigen sei ferner, daß die Weltgetreidepreise im Weichen seien, was sich auch bei uns stark fühlbar machen werde. Er erwarte, daß im Sommer Preise auf dem Weltmarkt herrschen würden, die auch die deutschen Landwirte im Sinne einer Preissenkung beeinflussen würden.

Die Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft lägen sehr verschieden; während beispielsweise im Süden und in Teilen Mitteldeutschlands die Landwirte bei den jetzigen Preisen gut auskämen, würden im Osten die Produktionskosten kaum gedeckt. Der Ausgleich würde hier nur durch Kartoffeln und Rüben gefunden. Er müsse auch darauf hinweisen, daß beispielsweise die Milchproduktion infolge der Zwangswirtschaft stark zurückgegangen sei. Dies beweise, daß ein gewaltsames Herabsetzen der Preise für die Produktion gefährlich sei.

Eine Preiserhöhung für Brotgetreide sei bis heute vom Ernährungsministerium nicht vorgeschlagen worden. Bisher habe sich lediglich die Indexkommission über die Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktionskosten geäußert und zwar dahin, daß diese Kosten seit der letzten Feststellung bis zum 1. Dezember 1920 um 40% gestiegen seien7. Lediglich dieses Ergebnis habe er in Dresden mitgeteilt8. In der nächsten Zeit würde dieser ganze Fragenkomplex in München mit den Landwirtschaftsministern der Länder erneut beraten werden9. Er, der Minister, neige der Ansicht zu, daß ein Umlageverfahren je auf den Morgen berechnet, das geeignetste Mittel sei, um größere Getreideanlieferungen zu erzielen. Ob der Überschuß dann zweckmäßig auf den freien Markt gelange oder ob man für ihn höhere Preise zulassen solle, werde ebenfalls in München erörtert werden10. Er glaube zusagen zu können, daß der Mehlpreis im laufenden Wirtschaftsjahr, also bis zur Ernte, keine Erhöhung erfahren werde. Die spätere Gestaltung der Dinge sei noch nicht zu übersehen. Eine Erleichterung im ganzen würde seines Erachtens aus der Senkung der anderen Lebensmittelpreise und aus der entgegenkommenden Tendenz des Weltmarktes sich ergeben.

Herr Cohen verspricht sich von dem Umlageverfahren nicht so viel wie der Minister Hermes.

Herr Leipart: Die Ausführungen des Ministers Hermes seien nicht geeignet, die schwere Sorge zu zerstreuen, mit der die Führer der Gewerkschaften gekommen seien. Eine Hoffnung auf baldigen Preisabbau sei ihnen nicht gemacht worden, höchstens eine solche auf Preisabbau nach einer längeren Übergangszeit.[475] Hiermit würden die Arbeiter kaum zufrieden sein. Tröstlich sei, daß eine Erhöhung des Mehlpreises bis zum August nicht eintreten würde, dies würde aber durch die zu erwartende Milchpreiserhöhung wieder ausgeglichen. Er möchte dem Wunsche Ausdruck geben, daß das gesamte Kabinett die Gefahr nicht außer acht lasse, die in einer Erhöhung der Getreidepreise läge.

Staatssekretär Albert weist darauf hin, daß nach Lage der Verhältnisse eine Politik auf lange Frist nicht gemacht werden könne. Das heutige Ergebnis, daß eine Erhöhung des Brotgetreidepreises für das laufende Wirtschaftsjahr nicht eintreten werde, sei immerhin ein recht erfreuliches. Im übrigen würde die Politik des Kabinetts dahin gehen, eine Erhöhung, wenn irgend möglich, auch für die spätere Zeit hintanzuhalten.

Herr Leipart macht ferner auf die Schwierigkeiten aufmerksam, die sich daraus ergeben hätten, daß für den Stinnes-Konzern gebaute Schiffe auf die Namen „Hindenburg“, „Ludendorff“ und „Boche“ getauft werden sollten11. Hierin läge eine Provokation der Bevölkerung, auch seien außenpolitische Reibungen zu befürchten.

Staatssekretär Albert sagt zu, daß die Reichsregierung der Angelegenheit nachgehen werde12.

Fußnoten

2

Diese Besprechung war erst nach einem längeren Schriftwechsel zwischen dem ADGB und der RReg. zustande gekommen.

Am 27.1.1921 hatte der Vorstand des ADGB ein Schreiben an den RK gerichtet, in dem er auf die steigende Erregung der Arbeiterschaft über die Verteuerung der Lebenshaltung hingewiesen hatte. Der Vorstand des ADGB erklärte, daß es fraglich sei, ob die Gewerkschaften weiterhin bestimmte radikale Bestrebungen innerhalb der Arbeiterschaft abzuwehren vermöchten. Der ADGB bat den RK, möglichst bald eine Sitzung des Kabinetts stattfinden zu lassen, in der der ADGB seine Auffassung über die Ernährungslage und den Preisabbau darlegen wollte (R 43 I /1258 , Bl. 104–105).

Das Schreiben des ADGB wurde am 2.2.1921 von StS Albert beantwortet. Im Auftrage des RK teilte er dem ADGB mit, daß die RReg. durch außenpolitische Ereignisse so überlastet sei, daß sie die Darlegungen des ADGB nicht entgegennehmen könne. Der StSRkei verwies den ADGB an den REM (R 43 I /1258 , Bl. 107).

Der ADGB gab sich mit dieser Antwort jedoch nicht zufrieden. In einem weiteren Schreiben v. 5.2.1921 an den RK wiederholte er sein Ersuchen, seine Auffassung über die Lage in einer Sitzung des Reichskabinetts vortragen zu wollen (R 43 I /1258 , Bl. 110–111). Auf Anregung der Rkei schaltete sich am 7.2.1921 der RPräs. in die Angelegenheit ein. Am 10.2.1921 empfing der RPräs. den 2. Vorsitzenden des ADGB, Graßmann, und erläuterte ihm, daß grundsätzlich eine Verhandlung des ADGB mit dem Kabinett abgelehnt werden müsse. Graßmann erklärte sich daraufhin damit einverstanden, daß die Aussprache in Form einer Chefbesprechung beim RK zusammen mit dem REM und dem RArbM stattfinden sollte (Schreiben des Büros des RPräs. über die Unterredung mit Graßmann an die Rkei v. 10.2.1921, R 43 I /1258 , Bl. 124).

3

So hatte der Abg. Hertz (USPD) am 29.1.1921 im RT erklärt, daß die Getreidepreise nach Plänen des REMin. um 40% erhöht werden sollten (RT-Bd. 347, S. 2268 ). Der REM hatte daraufhin anschließend erklärt, daß das REMin. in dieser Frage noch keinen Beschluß gefaßt habe (RT-Bd. 347, S. 2283 ).

4

Theodor Leipart war am 19.1.1921 als Nachfolger Carl Legiens zum Vorsitzenden des ADGB gewählt worden (Schultheß 1921, I, S. 12).

5

Im Rahmen der Besoldungsverhandlungen im Januar 1921 waren auch die Gehälter der Eisenbahnbeamten erhöht worden. Siehe Dok. Nr. 154.

6

Vgl. Dok. Nr. 45, P. 1 und Dok. Nr. 75, P. 1.

7

Die Indexkommission war vom REMin. gebildet worden. Sie setzte sich aus Sachverständigen und aus Vertretern der Verbraucher zusammen. Ihre Aufgabe war es, durch Berechnung von Indexzahlen für die Produktionskosten bei der Preisfestsetzung für landwirtschaftliche Erzeugnisse mitzuwirken (REM Hermes vor dem RT am 2.7.1920, RT-Bd. 344, S. 122 ).

8

In Dresden hatte am 15.1.1921 eine Konferenz der Landwirtschafts- und Ernährungsminister der Länder stattgefunden, auf der auch die Frage der Getreidewirtschaft behandelt worden war (Schultheß 1921, I, S. 9).

9

Konferenz der dt. Ernährungs- und Landwirtschaftsminister am 21. Februar 1921 in München. Auf dieser Konferenz wurde die Durchführung des Umlageverfahrens in der Getreidebewirtschaftung beschlossen (Schultheß 1921, I, S. 63).

10

Zum Umlageverfahren vgl. Dok. Nr. 231, Anm. 7.

11

Die zwei Schiffe mit den Namen „Hindenburg“ und „Ludendorff“ wurden auf der Bremer „Vulkan-Werft“ gebaut. Proteste der Arbeiterschaft hatte Stinnes damit beantwortet, daß er, wenn das Schiff nicht rechtzeitig geliefert werde, sämtliche Aufträge zurückziehen werde. Darauf hatte die Taufe durch Hindenburg und der Stapellauf des Schiffes am 8. 2. stattfinden können (R 43 I /2146 , Bl. 98).

Was ein Schiff mit dem Namen „Boche“ anging, so teilte das RWiMin. auf Befragen der Rkei mit, daß nach eigenen Erkundigungen Stinnes nicht beabsichtige, ein Schiff mit diesem Namen zu benennen (Handschriftl. Notiz MinR Wevers v. 5.4.1921, R 43 I /2146 , Bl. 96).

12

In dieser Angelegenheit wurde von der Rkei nichts weiteres unternommen (Handschriftl. Notiz MinR Wevers v. 5.4.1921, R 43 I /2146 , Bl. 96).

Extras (Fußzeile):