2.194 (ma11p): Nr. 194 Der Reichsminister des Auswärtigen an den Preußischen Minister des Innern. 6. Mai 1924

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[617] Nr. 194
Der Reichsminister des Auswärtigen an den Preußischen Minister des Innern. 6. Mai 1924

R 43 I /134 , Bl. 43-46 Abschrift1

[Zwischenfall in der sowjetischen Handelsvertretung]

Euer Hochwohlgeboren beehre ich mich unter Bezugnahme auf die Vorgänge in der russischen Handelsvertretung am 3. Mai2 die Gründe darzulegen, aus denen ich das Vorgehen des Polizeipräsidiums Berlin als eine schwere Schädigung wichtiger außenpolitischer Interessen des Reichs und deshalb als verfehlt bezeichnen muß.

Die erste Mitteilung von dem Vorfall in dem Gebäude der russischen Handelsvertretung erhielt ich durch die Russische Botschaft. Ich empfing daraufhin sofort den Botschafter, Herrn Krestinski, der mich um Schutz für die Handelsvertretung bat, und setzte mich mit Ihrem Ministerium wegen sofortiger Einstellung der polizeilichen Durchsuchung in Verbindung3.

Hiernach muß ich zunächst feststellen, daß die Durchsuchung angeordnet und erfolgt ist, ohne daß das Auswärtige Amt als die für die Außenpolitik allein verantwortliche Behörde gehört worden wäre. Dieses Vorgehen der hiesigen Polizei ist im vorliegenden Falle umso unverantwortlicher, als die Frage, ob und inwieweit der Polizei das Betreten der Geschäftsräume der russischen Handelsvertretung gestattet werden kann, noch in den letzten Monaten Gegenstand eines Schriftwechsels zwischen den beteiligten Ministerien gewesen ist. Ich beziehe mich hierfür auf das diesseitige Schreiben vom 23. Oktober v. J. – IV a Ru 7103 II –4, in dem es wörtlich heißt: „In der Praxis sind die Geschäftsräume der russischen Handelsvertretung bisher als unverletzlich respektiert worden5. Das Auswärtige Amt muß aus politischen Gründen Wert darauf legen, daß hieran vorläufig auch weiter festgehalten wird“. Danach konnte in Ihrem Ministerium und ebenso bei dem hiesigen Polizeipräsidium über die politische Tragweite, die eine Durchsuchung der Räume der Handelsvertretung für die deutsch-russischen Beziehungen haben könne, keinerlei Zweifel bestehen. Wenn das Polizeipräsidium trotzdem ohne Befragung meines Ministeriums gehandelt hat, so kann ich hierin, abgesehen von der Vernachlässigung[618] gebotener politischer Rücksichten, nur eine gewollte Ausschaltung meines Ministeriums sehen. Die schweren politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen des polizeilichen Vorgehens, die unabsehbar sind, machen sich bereits hier und in Moskau deutlich geltend.

Es ist ferner kein Zweifel, daß man auch in anderen Ländern ein derartiges Vorgehen gegen die Vertretung einer fremden Macht, mit der wir in normalen Beziehungen stehen, als einen groben Verstoß gegen jedes internationale Herkommen abfällig beurteilen wird. Der den Interessen des Reichs höchst schädlichen Auffassung, daß es in Deutschland an einer starken Zentralregierung und einer konsequenten Politik fehle, wird dadurch neue Nahrung gegeben.

Im übrigen ist das Verfahren der Polizei auch mit dem Abkommen vom 6. Mai 1921 nicht vereinbar.

Nach Art. II Abs. 2, Ziffer 1 des Abkommens6 wäre es Sache der Polizei gewesen, das Auswärtige Amt wenigstens sofort von der Durchsuchung der russischen Handelsvertretung zu benachrichtigen und es nicht darauf ankommen zu lassen, daß es davon erst durch die Russische Botschaft erfuhr. Dies ist jedoch nicht geschehen. Ich kann den Einwand nicht gelten lassen, daß es nicht nötig gewesen sein sollte, das Auswärtige Amt, wie vorgesehen, ohne Verzug von einem Vorhaben telefonisch in Kenntnis zu setzen, das das Aufgebot von fast 100 Polizeibeamten notwendig machte. Infolgedessen ist auch die der Russischen Regierung vertraglich zugesicherte Zuziehung eines Beauftragten des Auswärtigen Amts zu der Durchsuchung nicht erfolgt.

Ich muß mit allem Nachdruck betonen, daß es schlechterdings unmöglich ist, die außenpolitischen Interessen des Reichs zu wahren, wenn die Absichten der dafür verantwortlichen Stellen in einer Weise durchkreuzt werden, wie das im vorliegenden Falle geschehen ist. Ich glaube annehmen zu dürfen, daß Sie dieser Auffassung zustimmen und deshalb das Vorgehen der Polizei mißbilligen werden. Für eine tunlichst beschleunigte Äußerung über diese grundsätzliche Seite der Angelegenheit würde ich Ihnen dankbar sein7.

Wegen der sachlichen Weiterbehandlung der Angelegenheit darf ich mir ein besonderes Schreiben vorbehalten.

Abschrift dieses Schreibens lasse ich dem Herrn Reichskanzler, dem Herrn Reichsminister des Innern und dem Herrn Präsidenten des Preußischen Staatsministeriums zugehen.

gez. Stresemann

Fußnoten

1

Die Abschrift wird am 6. 5. vom AA an den StSRkei übersandt.

2

Vgl. Dok. Nr. 191, P. 3 und Dok. Nr. 193, P. 3.

3

S. die Aufzeichnung Stresemanns vom 7. 5. über seine Unterredung mit Krestinski am 3. 5. in: Stresemann, Vermächtnis I, S. 401 ff.

4

In R 43 I nicht ermittelt.

5

In rechtlicher Beziehung hingegen kam nach Auffassung des AA nicht der gesamten Handelsvertretung Exterritorialität zu, sondern nur den mit diplomatischen Vorrechten ausgestatteten Beamten und ihren Diensträumen. Diesen Standpunkt, der sich hauptsächlich auf das dt.-russ. Abkommen vom 6.5.21 stützt (vgl. Anm. 6), vertritt das AA in den Verhandlungen mit der UdSSR über die Beilegung des Zwischenfalles in der sowj. Handelsvertretung (vgl. Dok. Nr. 195, Anm. 9).

6

Art. II des „Vorläufigen Abkommens zwischen dem Dt. Reiche und der RSFSR über die Erweiterung des Tätigkeitsgebiets der beiderseitigen Delegationen für Kriegsgefangenenfürsorge“ vom 6.5.21 (RGBl. S. 929 ) lautet: „Der Leiter der Vertretung genießt die Vorrechte und Befreiungen der Chefs beglaubigter Missionen. Bis zu einer anderweitigen Vereinbarung genießen ferner zunächst 7 Mitglieder der Vertretung die Vorrechte und Befreiungen der Mitglieder beglaubigter Missionen, soweit sie nicht Angehörige des Aufenthaltsstaates sind. – Bezüglich der bei den Vertretungen beschäftigten Personen, die nicht Angehörige des Aufenthaltsstaates sind, verpflichten sich die beiden Regg., die geeigneten Verwaltungsmaßnahmen zu treffen, damit 1. Hausschuchungen nur unter Benachrichtigung der Zentralbehörde für Auswärtige Angelegenheiten des Aufenthaltsstaates und, soweit nicht Gefahr im Verzuge ist, im Beisein eines Beauftragten dieser Behörde und eines Beauftragten der Vertretung stattfinden […]“.

7

Das Antwortschreiben des PrIM Severing vom 8. 5. ist als Dok. Nr. 195 abgedruckt.

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