1.2 (mu11p): Die Reparationsfrage

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Das Kabinett Müller IHermann Müller Bild 146-1979-122-28APlakat der SPD zur Reichstagswahl 1920Plak 002-020-002Wahlplakat der DNVP Plak 002-029-006Wahlplakat der DDP Plak 002-027-005

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[XXV] Die Reparationsfrage

Welchen Belastungen die Weimarer Republik durch die Reparationsleistungen ausgesetzt sein sollte, war in den drei Regierungsmonaten des ersten Kabinetts Hermann Müller noch nicht vorauszusehen71. Aber die Sachleistungen, die auf Grund des Versailler Vertrages zu erbringen waren, zeigten bereits, daß die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft besonders hohen Anforderungen ausgesetzt sein würde. Der Versuch, mit Frankreich in zweiseitigen Verhandlungen eine deutsche Beteiligung am Wiederaufbau der zerstörten Industriegebiete zu vereinbaren, war bereits im Jahr 1919 gescheitert, weil die französische Regierung unter dem Druck der öffentlichen Meinung jede Maßnahme unterließ, die dazu hätte führen können, daß die von Deutschland erwarteten Zahlungen sich verringert hätten. Dennoch forderte Reichskanzler Müller in seiner Regierungserklärung Frankreich zur Zusammenarbeit auf, „wenn sich Deutschland nicht wirtschaftlich und finanziell verbluten soll, was den wirtschaftlichen Ruin der übrigen europäischen Länder zur unmittelbaren Folge hätte“. Deutschland werde, so hatte der Kanzler zuvor gesagt, die bisherige Außenpolitik fortsetzen und damit auch die Friedensbedingungen erfüllen, um dadurch eine „Atmosphäre des Vertrauens und der Gemeinsamkeit zwischen den Völkern“ zu schaffen72. Die Ehrlichkeit dieser Ausführungen Müllers wird dadurch erhärtet, daß sich sein Kabinett schon Anfang April mit der Frage der deutschen Reparationsleistungen beschäftigte. Allerdings stand die Regierung auch unter Zeitdruck; denn das Protokoll zum Versailler Vertrag enthielt die Aufforderung, Deutschland möge vier Monate nach Friedensschluß den alliierten Mächten Vorschläge unterbreiten, wie es seine Verpflichtungen zur Wiedergutmachung einzuhalten gedenke73. Das Kabinett Bauer hatte noch Anfang März 1920 beschlossen, eine Denkschrift über die deutsche Wirtschaftslage vorzubereiten und vorzuschlagen, daß nunmehr die endgültige Reparationssumme festgestellt werde74. Der Kapp-Putsch hatte auf diesem Gebiet die Tätigkeit der Regierung verzögert, so daß für das Kabinett Müller nur anderthalb Monate zur Verfügung standen, um fristgerecht die deutschen Vorstellungen zu unterbreiten, die von Wirtschaftsführern und dem Volkswirtschaftler Professor Bonn ausgearbeitet werden sollten.

[XXVI] Die erste Frage, die sich dem Kabinett stellte, lautete, in welchem Umfang Deutschland überhaupt Reparationszahlungen anbieten könne. Im Jahr 1919 hatte Deutschland den Alliierten einen Pauschalbetrag von 100 Milliarden Mark genannt, mit dem die Wiedergutmachung abgegolten werden sollte; doch ein knappes Jahr später bestand kein Zweifel daran, daß diese Summe nicht mehr aufzubringen sei. Daraufhin entspann sich im Kabinett eine Diskussion, die bis in den Mai andauerte, ob überhaupt präzise Angaben gemacht werden dürften und wie stark die Regierung die deutsche Leistungsfähigkeit einschätze. Der Betrag von zehn bis zwölf Milliarden Goldmark, den Unterstaatssekretär Albert zu Beginn der Reparationsverhandlung im Kabinett genannt hatte75, war für die Alliierten unannehmbar. Insbesondere Unterstaatssekretär Bergmann, der Leiter der deutschen Kriegslastenkommission, wies wiederholt und unterstützt von Unterstaatssekretär Schroeder und dem deutschen Geschäftsträger in Paris, Mayer76, darauf hin, daß die Erwartungen in Frankreich sich auf deutsche Reparationszahlungen in Höhe mehrerer hundert Milliarden Mark bewegten und daß daher ein allzu geringes Angebot als Verspottung aufgefaßt werden könne. Aus dieser Überlegung heraus kam Bergmann zu dem Ergebnis, Deutschland solle besser kein Angebot, sondern stattdessen Material über die finanzielle und wirtschaftliche Lage unterbreiten, um dadurch eine Revision der Wirtschaftsbestimmungen des Friedensvertrags anzuregen77. Auch die Vertreter der deutschen Wirtschaft, die gebeten worden waren, die Denkschrift über die ökonomische Lage zu beurteilen, waren der Ansicht, daß Deutschland nach dem Abschluß des Versailler Vertrags keine präzise Vorschläge vorzulegen vermöge, da ihm hierzu die wirtschaftlichen Voraussetzungen fehlen und die vorhandenen sogar noch weiter eingeengt würden78.

Obwohl die Abtrennung des kohlereichen Oberschlesiens vom Reich drohte, waren die Alliierten nicht bereit, ihre Ansprüche auf deutsche Kohlenlieferungen herabzusetzen79. Die Reichsregierung mußte sogar den Plan aufgeben, von den Niederlanden gegen Sonderlieferungen an Kohlen einen günstigen Kredit zur Lebensmittelbeschaffung und zum Erwerb von Rohstoffen zu erhalten, da die Alliierten verlangten, ohne Gegenleistung gleiche Vergünstigungen des Reichs zu erhalten80. Im Juni 1920 verlangten die alliierten Mächte schließlich, daß Deutschland über die bisherige Rate hinaus zusätzlich Kohlen an Polen abgeben sollte. Daraufhin beschloß das Kabinett, die entsprechende Menge, nämlich 200 000 Tonnen, den Staaten der Entente abzuziehen81. So wenig wie hier ein Übereinkommen zu erzielen gewesen war, konnte von den deutschen Delegierten bei der Londoner Schiffahrtskonferenz erreicht werden, daß[XXVII] die Ablieferungsquote der Schiffe herabgesetzt werde. Die Delegation bat sogar das Kabinett, die Überführung der Schiffe nicht zu verzögern, damit die Verhandlungen über den Neubau von Schiffen nicht gestört würden82.

Trotz dieser deprimierenden Erfahrung regte sich im Kabinett Müller die Hoffnung, daß es gelingen werde, einen Keil in die Front der Alliierten zu treiben und Amerikaner, Engländer und Italiener für eine wohlwollende Beurteilung der wirtschaftlichen Situation Deutschlands zu gewinnen. Für diese Erwartung schien zu sprechen, daß Anfang des Jahres in England die aufsehenerregende Arbeit von Keynes über die deutschen Reparationsleistungen erschienen und daß es zwischen Frankreich und den anderen alliierten Staaten zu erheblichen Differenzen wegen der Besetzung des Maingaues durch französische Truppen gekommen war83. Selbst in Frankreich schienen unterschiedliche Ansichten über Art und Ausmaß der deutschen Wiedergutmachung zu herrschen, die aber den Weg zu direkten Gesprächen der Wirtschaftssachverständigen beider Länder ebnen konnten84. Doch das Kabinett hatte sich geirrt, wenn es gemeint hatte, aus den differierenden Meinungen im Lager der Alliierten für Deutschland eine günstige Ausgangsposition in der Frage der Reparationsleistungen zu gewinnen. Denn wenn auch auf der Konferenz von San Remo, die im April 1920 stattfand, die materiellen Interessengegensätze zwischen der französischen und der britischen Regierung nicht ausgeräumt wurden, so führte sie aber ebenso wie die spätere Konferenz von Hythe dazu, daß sich die Alliierten über ihre Deutschlandpolitik aussprachen und einigten. Die Vorwürfe, die der französische Ministerpräsident Millerand gegen deutsche Verletzungen des Friedensvertrags in San Remo erhob, hatten auf Verlangen des britischen Premierministers Lloyd George zur Folge, daß die deutsche Regierung aufgefordert wurde, auf einer Konferenz in Spa Rechenschaft abzulegen85 .

Mit der Einladung zur Konferenz von Spa erhielt die Diskussion des Kabinetts Müller über die Reparationsdenkschriften einen neuen Akzent. Jetzt ging es nicht mehr allein darum, ob und welche Angebote unterbreitet werden sollten86, sondern auch um den Zeitpunkt zu dem die Denkschriften vorliegen müßten, nämlich vor oder während der Konferenz. Der Termin des 10. Mai 1920 wurde durch eine Zwischennote umgangen. Die ganze Unsicherheit gegenüber den Alliierten, die eindeutig zu erkennen gaben, daß sie als Siegermächte mit den Unterlegenen des Krieges sprachen87, kam in den Verhandlungen des Kabinetts zum Ausdruck88. Neben der Sorge, daß besonders die Franzosen[XXVIII] sich durch Denkschriften mit präzisen Vorschlägen, die erst in Spa den Alliierten übergeben würden, „überrumpelt“ fühlen könnten und dies die Konferenz gefährden werde, stand die Überlegung, daß diese Memoranden vorzeitig überreicht den Vorwurf entkräften würden, Deutschland verschweige seine Leistungsfähigkeit. Zugleich schienen sie geeignet, den Verhandlungen als Diskussionsgrundlage zu dienen und falsche Vorstellungen über die deutsche Wirtschaftskapazität auszuräumen89. Der Reichskanzler entschied schließlich, die Denkschriften sollten ohne ein Leistungsangebot kurz vor der Konferenz übergeben werden und exakte Vorschläge während der Verhandlungen erfolgen. Diese Entscheidung wurde auch aufrechterhalten, als im Anschluß an die Konferenz von Hythe englische Sachverständige die deutsche Finanzlage überprüften90. Doch auch jetzt waren die Schwierigkeiten nicht behoben. Tadelnd stellte Staatssekretär Bergmann fest, „bei den Gegensätzen innerhalb des Kreises der deutschen Sachverständigen“ scheine es unmöglich, „der Konferenz in Spa einen Vorschlag zu unterbreiten, welcher einer einheitlichen deutschen Auffassung entspringt“. Von den belgischen Mitgliedern der Reparationskommission Theunis und Bemelmans erfuhr Bergmann, daß die eigentlichen Reparationsverhandlungen nicht auf der Konferenz von Spa, sondern von der Reparationskommission geführt werden sollten. Es werde aber erwartet, daß das deutsche Zahlungsversprechen so ausfalle, daß daraufhin Frankreich amerikanische Kredite in Anspruch nehmen könne91.

In diesem Zusammenhang werden die Überlegungen interessant, die während der Kabinettsberatungen vorgetragen worden sind. Der Bankier Melchior hatte vorgeschlagen, „einen bestimmten Prozentsatz“ des Reichshaushalts für 30 Jahre zu verpfänden, der aber im Jahr nicht mehr als 1 Milliarde Goldmark betragen sollte. Professor Bonn meinte, zusätzlich solle auch ein Prozentsatz der deutschen Ausfuhr angeboten werden, und Unterstaatssekretär Boyé hielt es für richtig, auch die „Verpfändung eines Monopols in Erwägung zu ziehen“92. Als Anfang Juni Bergmann und Melchior in Paris Gespräche mit den Repko-Mitgliedern Bradbury und Theunis führten, wurde auch erörtert, „wie man einen Schlüssel für die Beteiligung der Alliierten an einer etwaigen Besserung unserer wirtschaftlichen Verhältnisse finden könne“. Um einer interalliierten Finanzkontrolle zu entgehen, wurde von den deutschen Gesprächspartnern die Verpfändung eines Prozentsatzes des Budgets nicht mehr genannt. Zweckdienlich erschien es aber, „eine Art Spezialindex zu finden, dem bestimmte Ziffern zu Grunde zu legen seien, wie z. B. Ertrag der Einkommensteuer, Überschüsse der Staatsbahnen, Überschüsse der Ausfuhr über die Einfuhr usw., alles in Verbindung mit dem jeweiligen Kursstand der Mark“. Unter diesen Voraussetzungen sollte eine Mindestannuität von der deutschen Regierung genannt werden, auf die die Sachlieferungen anzurechnen seien93.[XXIX] In der Folgezeit sind auf den zahlreichen Reparationskonferenzen bis hin zur Londoner Konferenz im Jahr 1924 die Pfandmöglichkeiten und das Indexschema im Gespräch geblieben, und schließlich fanden sie Eingang in den Dawes-Plan.

In der Betrachtung der Reparationsfrage machte das erste Kabinett Müller einen Fehler, den andere Kabinette wiederholen sollten: Das Kabinett und mit ihm seine Berater und die Fachbeamten der Ressorts meinten, daß die Probleme der deutschen Wiedergutmachungsleistungen allein auf der Grundlage ökonomischer Fakten zu lösen seien. Dabei wurde aber trotz aller Hinweise übersehen, daß zwar Industrie- und Wirtschaftskreise in Frankreich und Großbritannien zu Gesprächen auf einer derartigen Basis bereit sein würden, daß jedoch die Regierungen der alliierten Staaten unter dem Druck der Innenpolitik standen und daher ihre Forderungen denen der öffentlichen Meinung ihrer Länder anzupassen hatten94.

Da die Wirtschaftspolitik der Reichsregierung nach dem Krieg und unter dem Eindruck der alliierten Reparationsforderungen von eminenter außenpolitischer Bedeutung war, stimmte das Kabinett der Forderung des Auswärtigen Amts zu, daß nur unter seiner Beteiligung oder Federführung mit ausländischen Interessenten Finanz- und Wirtschaftsverhandlungen zu führen seien. Als bald danach das Wirtschaftsministerium sich über diesen Beschluß hinwegsetzte und einen Beauftragten Kontakte mit dem sowjetischen Volkskommissar Krassin anknüpfen ließ, der zu diesem Zeitpunkt auch Verhandlungen in Dänemark und Großbritannien führte, erhob das Auswärtige Amt scharfen Protest95.

Fußnoten

71

Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieser Edition fehlt noch immer eine umfassende Darstellung der deutschen Reparationspolitik. Hinzuweisen ist daher auf die erste Serie der „Documents on British Foreign Policy“, die die alliierten und Reparationskonferenzen sowie die Berichte der englischen Vertreter in Deutschland aus den frühen zwanziger Jahren enthalten; ferner auf die Darstellung C. Bergmanns, Der Weg der Reparation, und auf E. Weill-Raynal, Les réparations allemandes et la France.

72

NatVers. Bd. 332, S. 4933  f.

73

Offensichtlich bestanden zwischen Deutschland und den Alliierten unterschiedliche Ansichten über die Terminierung; während die deutsche Regierung von der Ratifizierung, also vom 10.1.20 an, rechnete, waren die Alliierten von der Unterzeichnung in Versailles ausgegangen. S. dazu Bergmanns Bericht über ein Gespräch mit dem Belgier Theunis, Dok. Nr. 85.

74

Anm. 1 zu Dok. Nr. 19; Dok. Nr. 77, P. 1.

75

Dok. Nr. 19.

76

Dok. Nr. 66; 70.

77

Dok. Nr. 50; 66.

78

S. hierzu besonders die Ansichten des Direktors der Krupp-A. G. Otto Wiedfeldt in Anm. 6 zu Dok. Nr. 70.

79

S. hierzu C. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 45 ff.

80

Dok. Nr. 55, P. 4.

81

Gleichzeitig wurde beschlossen, den Stromverbrauch in den deutschen Großstädten einzuschränken, in denen alliierte Kommissionen arbeiteten, um den Vorwurf unnötigen Kohlenverbrauchs zuvorzukommen; Dok. Nr. 139.

82

Dok. Nr. 30, P. 1; 102, P. 4. Zur Überführung der Schiffe mußten die Kohlen selbstverständlich von Deutschland gestellt werden, Dok. Nr. 77, P. 2.

83

Anm. 1 zu Dok. Nr. 19; Dok. Nr. 20, P. 10.

84

Dok. Nr. 70; 85.

85

Zu den alliierten Konferenzen in San Remo und Hythe s. DBFP 1st ser. vol. VIII; Schultheß 1920 II, S. 366 ff.; Egelhaaf 1920, S. 27 ff. Der Termin für die Konferenz von Spa wurde in Anbetracht der Reichstagswahlen und der Regierungsneubildung mehrfach verschoben.

86

Vorbereitet wurde eine Finanz- und eine Wirtschaftsdenkschrift sowie die zur Regierungsdenkschrift umgestaltete Arbeit Professor Bonns.

87

S. Anm. 3 zu Dok. Nr. 70.

88

Dok. Nr. 77, P. 1; 94; 115.

89

Dok. Nr. 85; 94; 115; 121; 133.

90

Dok. Nr. 77, P. 1; 94; 115.

91

Dok. Nr. 85.

92

Dok. Nr. 66.

93

Dok. Nr. 133.

94

Dok. Nr. 85; 94; 121.

95

Dok. Nr. 30, P. 9; 108.

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