1.18 (wir2p): Nr. 253 Ministerialrat Wever an Staatssekretär Hemmer. 21. April 1922

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Nr. 253
Ministerialrat Wever an Staatssekretär Hemmer. 21. April 1922

R 43 I /471 , Bl. 25 f.

[Betrifft: Politische Lage in Berlin1]

Sehr geehrter Herr Staatssekretär!

1. Der gestrige Bericht ist ausgefallen, da ich am Fernschreiber ungefähr 3 Stunden zugebracht habe. Glücklicherweise – oder vielleicht unglücklicherweise – konnte das Gespräch schließlich nach den vielfachen Störungen des Drahts doch noch stattfinden. Ich hatte Ihnen bereits, da 17 Uhr näher rückte und von Ihnen eine Antwort nicht eingegangen war, angefangen zu telegrafieren, daß, falls bis 18 Uhr keine Gegenordre da sein würde, Kempner fahren würde. Nachdem Sie mir die Entscheidung des Herrn Reichskanzlers mitgeteilt hatten, wurde die Reise ja hinfällig2. Ich habe das bedauert, da ich es – und sonst hätte ich nicht zum Fernschreiber gegriffen – für unbedingt erforderlich hielt, daß jemand, und zwar im Interesse der Delegation, herunter fuhr, um Sie über die hiesigen Stimmungen genau zu unterrichten, und um zu verhindern, daß etwa weitere Verschärfungen eintreten. Aus diesem Grunde erklärt sich auch meine nochmalige Rückfrage. Abgesehen von der sachlichen Seite ist ein großer Teil der Verstimmung der verspäteten Information zuzuschreiben. Es ist begreiflicherweise für den Herrn Reichspräsidenten nicht erträglich, daß er von wichtigen Sachen zunächst aus der Presse Mitteilung erhält. Eine vorsichtige Ankündigung[730] der Verhandlungen mit den Russen und der Möglichkeit eines Abschlusses, wenn sie am Sonnabend oder Sonntag, nicht erst am Dienstag eingegangen wäre, nachdem bereits die Tatsache des Abschlusses mitgeteilt war, hätte Verschiedenes verhütet. Seit gestern kommen die Nachrichten schneller, und ich möchte nochmals, und zwar lediglich im Interesse der hauptbeteiligten beiden Delegierten dringend empfehlen, hieran festzuhalten. Der Fernschreiber steht ja von 12 bis 3 Uhr nachts zur Verfügung, so daß also auch Ergebnisse der Abendsitzungen die Nacht hertelegrafiert werden können. Über weiteres werde ich nach Ihrer Rückkehr mündlich berichten3.

2. Abschrift des Kabinettsprotokolls vom 19. April füge ich Ihnen bei4.

3. Mein Telegramm an den Herrn Reichskanzler habe ich auftragsgemäß zur Absendung bringen müssen5. Auch darüber Näheres mündlich.

4. Für Ihre beiden letzten Briefe sage ich Ihnen verbindlichen Dank6. Das zweite Protokoll vom 17. 4. habe ich entsprechend weitergeleitet und auch dem Herrn Reichspräsidenten davon Kenntnis gegeben7. Er hat mich selbst empfangen und bei dieser Gelegenheit betont, daß doch alles getan werden sollte, um rechtzeitig und ausführlich Informationen hierher zu geben.

5. Die Demonstrationen am gestrigen Tage sind ohne Zwischenfall verlaufen. Einen ausführlichen Bericht von Weismann hoffe ich noch beilegen zu können.

6. Heute haben wir Kabinettssitzung, über die ich, falls noch möglich, heute noch berichten werde8. Auf der Tagesordnung steht der Entwurf eines Gesetzes über die Entschädigung der Schöffen, Geschworenen und Vertrauensmänner, über den ich in meinem Bericht Nr. 1 Ziffer 4 berichtet habe, ferner der Entwurf einer Verordnung des Reichsverkehrsministers über Eisenbahnräte, den ich meinem Bericht Nr. 8 zu Ziffer 7 beigefügt habe. Als dritter Punkt[731] steht Aussprache über Genua an. Die Auffassungen hier in amtlichen Kreisen sind geteilt über die Antwortnote9. Im allgemeinen herrscht die Auffassung vor, daß man noch mit einem blauen Auge, dessen Färbung mehr oder minder tief beurteilt wird, davon gekommen sei. Aber auch hier wird schließlich der Enderfolg das Urteil sprechen.

7. Der Geschäftsbetrieb hat im übrigen jetzt nach Ostern mehr zugenommen. Es sind aber meistens weniger bedeutende Sachen.

8. Die Angelegenheit des Ministers Fehr, betreffend die Besetzung des Ministerialdirektorpostens im Reichsernährungsministerium, die bereits kürzlich das Kabinett noch unter Vorsitz des Herrn Reichskanzlers beschäftigt hatte, wird voraussichtlich am Dienstag auf die Tagesordnung gesetzt werden10. Es hat anscheinend eine Bearbeitung der noch wiederstrebenden Herren inzwischen stattgefunden, unterstützt durch ein erstattetes Gutachten.

9. Die Presse ist zur Zeit gut diszipliniert, wie Sie ja aus den Ihnen zugehenden Zeitungen selbst ersehen, und läßt eine Diskrepanz der Auffassungen eigentlich nur ganz versteckt ahnen11.

10. Abschrift eines soeben eingegangenen Berichts der Vertretung der Reichsregierung in München füge ich bei12. Ich habe Abschrift Herrn Staatssekretär von Haniel zur vertraulichen Kenntnis und mit der Bitte um Äußerung mitgeteilt.

Das Wetter ist wieder umgeschlagen; es ist scheußlich kalt, und wir haben uns unsere Winterüberzieher wieder aus der Mottenkammer hervorgeholt. Im Garten wird fleißig gearbeitet, insbesondere habe ich veranlaßt, daß die toten Rasenstellen, die Militär und Schutzpolizei zu unruhigen Zeiten verursacht hatten, wieder angesät werden. Wenn Sie zurückkommen, werden die Flächen dann hoffentlich schon grün schimmern.

Ist wohl schon abzusehen, wann der Herr Reichskanzler zurückreisen kann? Wir rechnen noch mit etwa 8 bis 10 Tagen.

Mit verbindlichem Gruß und der Bitte um eine Empfehlung auch an den Herrn Reichskanzler bin ich Ihr ergebenster

Wever.

Fußnoten

1

In seiner Eigenschaft als Vertreter des StSRkei hat Wever fast täglich, insgesamt 29 numerierte Berichte über die Vorgänge in der Rkei und Berlin geschrieben; der hier abgedruckte Bericht trägt die laufende Nummer 11.

2

In den Akten findet sich nur ein Telegramm Hemmers an Wever vom 22.4.22, um 16.25 Uhr eingegangen, mit dem Inhalt: „Staatssekretär von Simson zur Information des Herrn Reichspräsidenten und des Kabinetts heute früh nach Berlin abgefahren. Von Simson eintrifft Sonntag abend [23. 4.] wird sich Montag früh [24.4.22] beim Herrn Reichspräsidenten melden. Dann Kabinett Bericht erstatten. Anheimstelle, im Benehmen mit Reichspräsidenten und von Simson Montag 11 h Ministerratssitzung unter Vorsitz des Herrn Reichspräsidenten anzusetzen.“ (R 43 I /2451 , S. 1038). Offenbar in Wevers Handschrift steht die Festsetzung eines Ministerrates auf Monatg 11.45 Uhr darunter, zu der die in Berlin anwesenden Minister Bauer, Radbruch, Groener, Giesberts, Fehr und ferner Rauscher geladen werden sollten. Unter seinen Bericht vom 22.4.22 an Hemmer setzte Wever handschriftlich den Satz: „Eben kommt Ihr Telegramm Nr. 145. Beim Herrn Reichspräsidenten ist Ministersitzung um ¾12 am Montag.“ (R 43 I /471 , Bl. 33 f.). Ein Protokoll über diese Sitzung ist in R 43 I nicht ermittelt.

3

Zur Nachrichtenübermittlung siehe Dok. Nr. 250 Anm. 5.

4

Dok. Nr. 250.

5

Gemeint ist offenbar das Telegramm Wevers für den Reichskanzler vom 19.4.22 mit dem Wortlaut: „Kabinett ist der Meinung, daß Berichterstattung über Genua nicht ausreichend und verspätet erfolgt. Kabinett hat den Wunsch, über Vertragsverhandlungen mit Rußland eingehender informiert zu werden, und bittet, informierten Herrn hierher zu senden. Empfehle außerdem dringend bei wichtigen Entscheidungen eingehende Mitteilung auch der Motive zu geben. Mit Bezug auf dortiges Protokoll vom 17. 4. nimmt Vizekanzler an, daß die Bezeichnung Kabinettsprotokoll wohl versehentlich gewählt worden ist, da dort sich Delegation befindet, während das Kabinett hier ist.“ (R 43 I /2451 , S. 988).

6

StS Hemmer hatte auf die Berichte Wevers mit einem Schreiben vom 18.4.22 und einem vom 19.4.22 geantwortet: „Genua, den 18.4.22 – Lieber Herr Wever! […] Die Lage hier ist durch das Bekanntwerden des Abschlusses des deutsch-russischen Vertrages etwas verworren geworden. Frankreich schäumt, und auch England hat das mot d’ordre ausgegeben, daß Deutschland diesen Vertrag hinter dem Rücken der Konferenz von Genua geschlossen habe. Zur Zeit ist noch nicht abzusehen, wie die Dinge sich entwickeln werden, augenblicklich haben Pessimisten und Optimisten noch gleiche Aussichten. Aber man wird ja bald sehen, was an diesen Dingen Theaterdonner und was echt ist. […]“ „Genua, den 19.4.22 [.. .] Hier machen wir relativ kritische Tage durch. Aber ich glaube, daß die Sache nicht zum Abbruch kommt. Ein Argument wird vielleicht auch in der deutschen Öffentlichkeit eine Rolle spielen, nämlich, daß wir die Engländer nicht informiert hätten. Das ist nicht richtig. Die Engländer sind über jede Phase der Verhandlungen von uns ins Bild gesetzt worden.“ (R 43 I /471 , Bl. 16, 18).

7

Dok. Nr. 247.

8

Dok. Nr. 252.

9

Siehe Dok. Nr. 249 Anm. 3.

10

Siehe Dok. Nr. 243, P. 3 und Dok. Nr. 257, P. 3.

11

Am 12. 4. hatte StS Hemmer an MinR Kempner telegrafiert: „Alle Presseartikel betreffend Genua bitte ich zu sammeln“. (R 43 I /2451 , S. 772). Bereits am 12. 4. hatte Kempner einen Vermerk angefertigt: „1. Es sind folgende Sammelmappen anzulegen: a) Berliner Tageblatt, b) Vossische Zeitung, c) Germania, d) Vorwärts, e) Zeit, in die vom 10.4.22 an sämtliche Nachrichten und Artikel über die Konferenz von Genua aufzunehmen sind. Die Mappen sind mir täglich vorzulegen.“ (R 43 I /2451 , S. 774).

12

Der genannte Bericht Zechs vom 20. April 1922 gibt eine Zusammenstellung bayerischer Pressestimmen zum Abschluß des Rapallovertrages (R 43 I /2230 , S. 295 f.).

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