1.38.2 (mu22p): 2. Arbeitslosenversicherung.

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2. Arbeitslosenversicherung.

A. Der Reichsarbeitsminister trug den Sachverhalt vor. Er führte aus, daß die Reichsregierung entsprechend den im Reichsrat abgegebenen Erklärungen zum Sondergesetz (Gesetzentwurf über befristete Änderungen der Arbeitslosenversicherung) nach Annahme dieses Entwurfs durch den Reichsrat von einer Doppelvorlage absehen solle. Dagegen halte er in 5 Punkten zum Hauptgesetz (Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung) die Einbringung einer Doppelvorlage für erwünscht.

Der Reichsarbeitsminister erläuterte sodann die aus der Anlage ersichtlichen 5 Punkte, in denen er eine Doppelvorlage als notwendig bezeichnete5.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft riet dringend von einer Doppelvorlage ab. Die Öffentlichkeit werde das Einbringen einer Doppelvorlage nicht verstehen und der Ansicht sein, daß die Regierung entgegen den im Reichsrat abgegebenen Versprechungen handele.

[944] Der Reichsarbeitsminister erwiderte, daß die Presse sogleich nach der Reichsratssitzung am 16. September von Ministerialdirektor Dr. Weigert eingehend unterrichtet worden sei. Die Presse zeige auch Verständnis für die Argumente, die zur Einbringung einer Doppelvorlage zum Hauptgesetz nötigten. Er sei auch gern bereit, sich um weitere Unterrichtung der Presse zu bemühen. Zum mindesten in dem unter Nr. 3 genannten Punkte könne er auf Einbringung einer Doppelvorlage nicht verzichten.

Staatssekretär Dr. Weismann wies darauf hin, daß es nur mit der Stimme Lippe-Detmolds gelungen sei, das Sondergesetz im Reichsrat durchzubringen. Er habe ausdrücklich im Reichsrat hingewiesen, daß die Reichsregierung von einer Doppelvorlage absehen werde, wenn das Sondergesetz Annahme finden sollte. Nur durch ein Entgegenkommen in der Frage der Wanderarbeiter sei es gelungen, Lippe für das Sondergesetz zu gewinnen6. Es werde sicher vom Reichsrat und der gesamten Öffentlichkeit falsch aufgefaßt werden, wenn die Reichsregierung jetzt eine Doppelvorlage mache.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete wies gleichfalls darauf hin, daß das Sondergesetz im Reichsrat nur mit einer Stimme Mehrheit verabschiedet worden sei. Nach den Mitteilungen des Reichspostministers Dr. Schätzel und des Württembergischen Staatspräsidenten Dr. Bolz hätte man der Ansicht sein müssen, daß Bayern und Württemberg für das Sondergesetz stimmen würden. In Wirklichkeit hätten beide Länder im Reichsrat gegen das Sondergesetz gestimmt. Evtl. müsse man diese Angelegenheit noch mit den Regierungsparteien besprechen.

Der Reichsminister des Innern bat, die Entscheidung über die Frage der Einbringung einer Doppelvorlage bis nach der morgigen (18. 9.) Besprechung mit den Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien zu vertagen. Vielleicht sei dann eine Entscheidung leichter. Er betonte im übrigen, daß Ministerialdirektor Dr. Weigert in den Ausschüssen des Reichsrats, Staatssekretär Zweigert im Plenum des Reichsrats nur mit Bezug auf das Sondergesetz erklärt hätten, daß die Reichsregierung von einer Doppelvorlage Abstand nehmen wolle.

Der Reichsminister der Finanzen betonte, daß der Sozialpolitische Ausschuß des Reichstags schon im Sinne der vom Reichsarbeitsminister gewünschten Doppelvorlage Beschluß gefaßt habe. Das Kabinett erschwere der Sozialdemokratischen[945] Partei die Situation, wenn es von der Doppelvorlage absehen wolle.

Auf Frage des Reichsministers für die besetzten Gebiete erklärte der Reichsminister des Innern seinen Antrag auf Vertagung der Beschlußfassung nicht aufrecht erhalten zu wollen, da er nunmehr hoffe, daß das Reichskabinett der Einbringung der Doppelvorlage zustimmen werde.

Das Reichskabinett beschloß sodann mit 8 Stimmen, entsprechend dem Vorschlage des Reichsarbeitsministers zu dem Gesetzentwurf über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in den aus der Anlage ersichtlichen 5 Punkten eine Doppelvorlage dem Reichstag zu unterbreiten7.

B. Der Reichsminister für die besetzten Gebiete warf sodann die Frage auf, wie er in der morgigen (18. 9.) Besprechung mit den Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien taktisch vorgehen solle. Er vertrat die Auffassung, daß nunmehr das persönliche Eingreifen des Reichskanzlers dringend erwünscht sei, und bat zu überlegen, ob nicht lieber der Reichsarbeitsminister in der morgigen Besprechung den Vorsitz übernehmen solle.

Der Staatssekretär in der Reichskanzlei teilte mit, daß der Reichskanzler in einer Woche wieder in Berlin sein werde8. Der Reichskanzler sei der Auffassung, daß er zweckmäßigerweise vorläufig noch etwas im Hintergrunde bleibe.

Der Reichsminister der Finanzen führte aus, daß in der morgigen Besprechung (18. 9.) verschiedene Parteien erklären würden, sie seien mit mehreren Punkten nicht einverstanden. Der Reichsminister für die besetzten Gebiete müsse als Vorsitzender verhindern, daß Kompromißmöglichkeiten verschüttet würden. Es sei auch am besten, wenn der Reichsminister für die besetzten Gebiete als Mitglied der Zentrumspartei den Vorsitz führe. Der Reichsarbeitsminister werde als Angehöriger der einen Flügelpartei der Koalition weniger zur Vorsitzführung geeignet sein.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete erklärte sich hierauf bereit, den Vorsitz in der morgigen (18. 9.) Besprechung zu übernehmen9.

Fußnoten

5

Die vom RArbM gewünschte Doppelvorlage bezog sich auf fünf Punkte des Artikels I: 1. Nr. 4 (Spruchkammerkosten); 2. Nr. 7 (Meldepflicht der besetzten Stellen); 3. Nr. 22 (Sperrfristen); 4. Nr. 27 (Lehrlingsunterstützung); 5. Nr. 43 (Zwangsetatisierung gegen die Gemeinden in der Krisenfürsorge). In seiner Kabinettsvorlage hatte Wissell hierzu ausgeführt: „Ich bitte die RReg., diesen Beschlüssen des RR nicht zuzustimmen und mich zu einer Doppelvorlage in diesen Punkten zu ermächtigen. Politische Bedeutung hat vor allem der Beschluß des RR zu 3. Die zeitliche Begrenzung der Sperrfrist, wie sie der Regierungsentwurf vorsieht, ist das Ergebnis eines Kompromisses, das die Zustimmung des RT-Ausschuß für Sozial-Angelegenheiten gefunden hat. Auch die Vertreter Preußens haben sich in den Besprechungen der letzten Wochen mit dieser Regelung einverstanden erklärt und sind im RR für den Antrag der RReg. eingetreten. Bei Nr. 1 handelt es sich nicht nur um eine finanzielle, sondern um eine grundsätzliche Frage. Mit der Streichung des § 65 a, die der RR zu 2 beschlossen hat, verliert der RArbM ein wichtiges Mittel zur Bekämpfung von Mißbräuchen. Lehrlinge, die kein oder nur ein sehr beschränktes Arbeitsentgeld erhalten, gibt es nur in beschränkter Zahl. Immerhin ist es aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen sehr bedauerlich, wenn sie die Fühlung mit dem Arbeitsamt verlieren. Das ist aber nach dem Beschluß des RR zu 4 zu befürchten. Die Pflicht der Zwangsetatisierung, die der RR zu 5 abgelehnt hat, ist nach den Erfahrungen der Praxis dringend erwünscht“ (17. 9.; R 43 I /2036 , Bl. 114 f., hier: Bl. 114 f.).

6

Anträge der Lippischen Landesregierung auf besondere Reichsmittel, um die lippischen Wanderarbeiter seßhaft zu machen, waren am 21.6.28 und 27.3.29 abschlägig beschieden worden (R 43 I /2275 , Bl. 98 f., 105, 110 f., hier: Bl. 98 f., 105, 110 f.). Zur Gewährung der Mittel vor der RR-Abstimmung erklärte der BVP-Vorsitzende Schäffer: „Lippe hat im Ausschuß gegen den Kompromiß gestimmt. Im Plenum hat es auf einmal dafür gestimmt; wie ganz offen zugegeben wird nur deshalb, weil die RReg. dem Landespräsidium von Lippe besondere Zusagen hinsichtlich der Belastung gab, die Lippe mit 12 000 Wanderarbeitern zu tragen hat. Die Stimme Lippes wurde also in aller Öffentlichkeit gekauft! Im RR hat man bei diesem Theaterstück gelacht. Es wird jetzt vor ganz Deutschland offenbar, daß manche kleinen Länder nichts anderes sind als Trabanten des Staates Preußen oder des RKab.; daß sie für finanzielle Gegenleistungen dieser beiden sehr empfänglich sind und daß vom Standpunkt eines gesunden föderativen Aufbaues des Deutschen Reiches die Aufrechterhaltung dieses Zustandes gar nicht wünschenswert erscheint“ (Bayer. Kurier; 20.9.29).

7

Siehe RT-Drucks. Nr. 1311, Bd. 437 .

8

In einem undatierten Schreiben, wahrscheinlich vom 16. 9., hatte Pünder den Wunsch der SPD übermittelt, der RK möge an der Fraktionssitzung vom 20. 9. teilnehmen (BA: Nachlaß Pünder  129).

9

Siehe Dok. Nr. 296.

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