2.175 (bau1p): Nr. 173 Bericht des Reichs- und Staatskommissars Severing über die Lage im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Münster, 25. Februar 1920

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[614] Nr. 173
Bericht des Reichs- und Staatskommissars Severing über die Lage im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Münster, 25. Februar 19201

R 43 I /2691 , Bl. 129–131 Durchschrift

Zur Lage im Industriegebiet Rheinland-Westfalen.

Nach Beschluß der Entente, fußend auf Art. 43 u[nd] 44 des Friedensvertrages von Versailles, soll die Reichswehr in nächster Zeit die neutrale Zone räumen.

Die staatliche Sicherheitspolizei soll alsdann den Sicherheitsdienst in dieser Zone übernehmen2.

Ich bitte, die Entente zur Belassung der Reichswehrtruppen in der neutralen Zone bewegen zu wollen3 und mache folgende Gründe dafür geltend:

Bei der herrschenden politischen und wirtschaftlichen Lage wird die neuorganisierte Polizei4 nach ihrer jetzigen Stärke und Zusammensetzung Mühe haben, ihren eigentlichen Aufgaben des örtlichen und unmittelbaren Schutzes[615] ihrer Standorte gerecht zu werden. Sie wird aber keinesfalls im Stande sein, gleichzeitig die viel weiter gehenden Aufgaben der Reichswehrtruppen in der neutralen Zone zu lösen. Dem Vorhandensein der an sich geringen Zahl von Reichswehrtruppen in der neutralen Zone im Bereich des Wehrkreises VI – es handelt sich im ganzen um 9 Bataillone – ist es zu verdanken, daß hier im Westen und besonders im Industriegebiet das Aufflammen größerer Unruhen noch stets schnell erstickt werden konnte. Die Erfahrungen dieser Truppen und ihrer Führer würden für den Fall neuer Unruhen schwer entbehrt werden können. In diesen Erfahrungen, der Kenntnis aller Verhältnisse sowie in gewissen Eigenschaften, die sich diese Truppen im Lauf der Zeit erworben haben, liegt ihr hoher Wert. Die Bataillone in der neutralen Zone umklammern gleichsam die gefährdetsten Gebietsteile. Sie liegen schlagfertig, sprungbereit, um jederzeit überall hingeworfen werden zu können, wohin es die Lage erfordert. Auf diese Weise konnte mit wenig Truppen viel erreicht werden.

Diesen notwendigen Anforderungen an Spannkraft und Beweglichkeit wird die staatliche Sicherheitspolizei niemals entsprechen können. Darin liegt kein Vorwurf. Für die Polizei ist es vielmehr erforderlich, in Ausübung ihres Dienstes sich örtlich einzugewöhnen und eine gewisse Bodenständigkeit zu gewinnen. Das liegt auch schon in dem Grundsatz, auf dem der ganze Dienst der Sicherheitspolizei sich aufbaut.

Die Sicherheitspolizei zerfällt ständig in 3 Teile: Während ein Teil in Ausübung des örtlichen Sicherheitsdienstes in ganz kleine Einheiten aufgelöst, sich räumlich sehr weit trennt und ausdehnt, soll sich ein anderer Teil in Bereitschaft in den Unterkunftsräumen aufhalten und ein dritter Teil sich im Zustand der Ruhe befinden, d. h. jeder Mann kann sich aufhalten, wo er will, die Verheirateten bei ihren Familien usw.

Aus dem Gesagten erübrigt es sich, den etwaigen Einwurf zu entkräften, daß nötigenfalls aus anderen Teilen Deutschlands Truppen hierher geworfen werden könnten. Ihre Unkenntnis von Land und Leuten würde sich zum Schaden aller fühlbar machen und dann – sie würden immer zu spät kommen!

Im jetzigen Zeitpunkte würde die Entfernung der Reichswehrtruppen aus der neutralen Zone Ruhe und Ordnung im Industriegebiet gefährden. Die durch die Blätter gehenden Nachrichten haben bereits Beunruhigung in die gutgesinnten Kreise getragen und den Umstürzlern neues Wasser auf ihre Mühlen gegeben.

Die Maßnahme kann aber noch weiterhin Schädigungen von großer Tragweite Deutschlands und der Entente nach sich ziehen. Eine nähere Begründung dieser Ansicht erscheint überflüssig, da der Regierung die allgemeine Stimmung der Bevölkerung am besten bekannt ist und erst kürzlich die berufensten Vertreter der Regierung sich durch persönliche Eindrücke ein Urteil über die Zustände im Industriegebiet und die aus ihnen abzuleitenden Möglichkeiten gebildet haben5.

[616] Die russisch-bolschewistischen Erfolge fordern gebieterisch in neuester Zeit dem kommunistischen Treiben in Deutschland weiter größte Aufmerksamkeit zu schenken. Durch die Tatsache dieser Erfolge wird den Sendboten und Agenten der Sowjetregierung sowie anderen Hetzern die Arbeit wesentlich erleichtert. Dies gilt mehr als anderwärts für die Arbeiterbevölkerung des Industriegebiets, die mit vielen landfremden und fluktuierenden Elementen durchsetzt ist. Es ist vorauszusehen, daß wir weiteren wirtschaftlichen Schwierigkeiten entgegengehen. Auch die Bolschewisten rechnen damit und setzen große Hoffnungen darauf.

Die Regierung verlangt als unerläßlich für Deutschlands Wiederaufbau und zur Erfüllung der vertragsmäßigen Verpflichtungen gegen die Entente Arbeit, geregelte, zielbewußte Arbeit unter Anspannung aller Kräfte bis zur Grenze der Leistungsfähigkeit. Sie findet darin die Unterstützung aller vaterlandliebenden und arbeitswilligen Kreise der Bevölkerung. Diesem Teil der Bevölkerung muß ein starker Schutz gewährt werden. Dieser Schutz würde aber für den Industriebezirk nach Ersatz der Reichswehr durch die Sicherheitspolizei in der neutralen Zone nicht gewährleistet. Nach Verlust des Saargebiets und Elsaß-Lothringens, ganz zu schweigen von Oberschlesien, über dessen künftiges Geschick heute noch starke Zweifel herrschen, muß sich doch die Entente völlig klar darüber sein, daß auf der Sicherheit des Ruhrgebietes allein die Möglichkeit für Deutschland beruht, die vertragsmäßigen Kohlenlieferungen an die Ententeländer zu tätigen und die Abtragung der demnächst festzusetzenden Kriegskosten6 nach erneutem Erstarken unserer Industrie zu verwirklichen.

Derselbe Versailler Vertrag, der uns diese Verpflichtungen auferlegt, verlangt auch die Zurückziehung der Reichswehrtruppen aus der neutralen Zone. Es dürfte gelingen, die Entente zum Verzicht auf diesen letzten Punkt zu bewegen, wenn ihr klar gemacht wird, daß davon die Erfüllung der erstgenannten Verpflichtungen abhängt.

Im Hinblick auf die große Bedeutung der Angelegenheit wird ergebenst gebeten, unter tunlichster Beschleunigung in Verhandlungen mit der Entente einzutreten7.

Severing

Fußnoten

1

Der Bericht wurde dem RK mit formlosem Anschreiben vom 25. 2. – „Dem Herrn Reichskanzler ergebendst vorzulegen“ – übersandt. Er ging am 27. 2. in der Rkei ein. Abschriften erhielten der RIM und der RWeM.

2

Vgl. Dok. Nr. 110, Anm. 6. – Für die Ersetzung der bis dahin zugelassenen Reichswehrtruppen durch entsprechende Polizeikräfte war in einer all. Note vom 21.8.19 eine Frist von drei Monaten nach Inkrafttreten des VV gesetzt worden. Über die Aufstellung der Sicherheitspolizei und die Durchführung der die entmilitarisierte 50-km-Zone betreffenden Forderungen sollten Verhandlungen geführt werden, die jedoch infolge der Verzögerung der Ratifikation des VV bisher nicht aufgenommen worden waren. Den dt. Vorstellungen von einer effektiven Organisation der Polizeikräfte (vgl. Dok. Nr. 117, P. 1) war in einer all. Note vom 1.12.19 unter dem Gesichtspunkt der Wiedererstarkung des Militarismus entgegengetreten worden (vgl. ebd., Anm. 12), so daß, nachdem auch noch das RIMin. und das RWeMin. mit unterschiedlichen sicherheitspolitischen Konzeptionen miteinander konkurrierten, die bevorstehenden Verhandlungen mit der IMKK über die entmilitarisierte Zone unter keinem guten Stern standen. Dazu hatte der RWeM dem RK am 13. 2. Auszüge aus dem entstandenen Schriftwechsel vorgelegt und um die Herbeiführung eines Kabinettsbeschlusses darüber gebeten, welches Ministerium seine Auffassung fallen lassen solle. Den Unterlagen ist zu entnehmen, daß der RIM in einer Gen. Nollet durch die Friedensabt. des AA unmittelbar überreichten Denkschrift vom 21. 1. erklärt hatte, daß die pr. und bad. Sicherheitspolizei fristgemäß in der Lage sei, die öffentliche Ordnung in der Zone zu gewährleisten. Für den hessischen Teil wurde ein Verbleiben der Reichswehr bis zum 30.6.20 erbeten. Nur im Falle von Unruhen und Aufständen größeren Umfangs würden die Landesregierungen gezwungen sein, von den All. den vorübergehenden Einmarsch dt. Reichswehrtruppen zu erbitten. Dagegen hatte das RWeMin. in einer Denkschrift vom 27. 1. die „unerläßliche Forderung“ aufgestellt, „daß im rheinisch-westfälischen Industriegebiet und in der Gegend von Frankfurt a. M. die jetzt dort stehende Truppenmacht auch nach Einrücken der Sicherheitspolizei verbleibt, bis die innere Lage sich beruhigt hat“ (Der RWeM an den RK u. a., 13.2.20, nebst Anlagen; R 43 I /2691 , Bl. 117–121).

3

Vgl. in gleichem Sinne die Telegramme des Zementverbandes Bochum vom 27. 2. und der Handelskammer Essen namens verschiedener Industrieverbände vom 28. 2. an den RK (R 43 I /2691 , Bl. 132–139).

4

Einzelheiten über den Stand der Neuorganisation, die Ausbildung, Bewaffnung und Ausrüstung der Sicherheitspolizei s. in der Denkschrift des RIM vom 24.2.20, die im Februar 1920 den all. Regg. zur Kenntnis gebracht wird (abgedruckt im Weißbuch der RReg. über die Konferenz von Spa; RT-Bd. 363 , Drucks. Nr. 187 , Anl. 3).

5

Vgl. Dok. Nr. 170, P. 4.

6

Vgl. Dok. Nr. 177.

7

Die Unstimmigkeiten zwischen dem RIMin. und dem RWeMin. kommen am 24. und 25. 2. in Ressortbesprechungen unter Beteiligung des AA zur Sprache, wobei ein nicht näher zu ermittelnder „modus vivendi“ erzielt wird (Aktenvermerk von Bornstedts vom 26.2.20; R 43 I /2691 , Bl. 126). – In einer an die Friedensabt. des AA gerichteten Note vom 6. 3. unterstreicht der Präs. der IMKK, Gen. Nollet, den fortbestehenden mil. Charakter der Sicherheitspolizei, der unter Hinweis auf die Strafbestimmungen des Art. 44 VV in der entmilitarisierten 50-km-Zone längs des Rheins nicht geduldet werden könne. Neben den lokalen Ordnungspolizeien gesteht er hier die Unterhaltung einer 10 000 Mann umfassenden Sicherheitspolizeitruppe zu, die nach den 1913 gültigen Richtlinien gegliedert und bewaffnet sein dürfe. Gleichzeitig wird die weitergehende Forderung nach Belassung von Reichswehrkräften in dieser Zone kategorisch zurückgewiesen (R 43 I /2691 , Bl. 157 f.). Die in Verfolg des Kapp-Lüttwitz-Putsches das Ruhrgebiet erschütternden Unruhen führen zunächst zur Heranziehung weiterer Reichswehrtruppen und lassen die Durchführung der Entwaffnungsbestimmungen des VV illusorisch erscheinen. – Zum Fortgang s. diese Edition: Die Kabinette Müller I und Fehrenbach.

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