2.220.1 (mu21p): [Notprogramm für die besetzten Gebiete.]

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[Notprogramm für die besetzten Gebiete.]

Nach Eröffnung der Besprechung durch den Reichskanzler führte der Reichsminister für die besetzten Gebiete aus, daß es an der Zeit sei, die Vorbereitungen zur Aufstellung eines Notprogramms für die besetzten Gebiete zu treffen. Das Reichsministerium für die besetzten Gebiete müsse die Ermächtigung erhalten,[720] ein West-Grenzlandprogramm aufzustellen und die einzelnen Fragen im Laufe des Sommers in ein Gesetz zu kleiden, entsprechend der gesetzlichen Regelung für Ostpreußen2. Der Parteiführer des Zentrums, Herr Prälat Kaas, habe vor einiger Zeit im Namen des Zentrums an ihn die Frage gerichtet, wann mit der Ausarbeitung des Notprogramms für die besetzten Gebiete begonnen würde. Die gleiche Frage habe auch der Fraktionsvorstand des Zentrums ihm vorgelegt. Ausschlaggebend sei, daß nach einer Mitteilung des Abgeordneten Brüning vom Zentrum die Regierungsparteien es für feststehend bezeichneten, daß für den Westen ein Betrag von 15 Millionen ausgeworfen werden solle. Nachdem das Ostprogramm die gesetzliche Form gefunden habe, müsse man auch für den Westen an eine solche Arbeit herantreten. Im Hinblick hierauf stelle er den Antrag, das von ihm geleitete Ministerium mit den Vorarbeiten unter selbstverständlicher Mitwirkung des Reichsfinanzministeriums zu betrauen. Es handele sich zur Zeit lediglich nur um die Erteilung der entsprechenden Ermächtigung.

Der Reichskanzler wies darauf hin, daß ihm nichts davon bekannt sei, daß innerhalb der Regierungsparteien hinsichtlich der Finanzierung eines Westprogramms Einigung über die Zurverfügungstellung eines bestimmten Betrages bestehe. Wenn auch durch die Pariser Verhandlungen gewisse Erleichterungen eintreten würden, so ginge man doch von der Annahme aus, daß keine Mehrausgaben erwachsen sollen. Im übrigen erscheine es ihm richtig, daß das Kabinett zu diesem Fragenkomplex Stellung nehme.

Der Reichsminister der Justiz führte aus, daß die Reichsregierung an der Regelung der vom Reichsminister für die besetzten Gebiete angeschnittenen Frage nicht vorbeikomme. Es sei geboten, ein sogenanntes Westprogramm aufzustellen. Ob ein solches Programm hinsichtlich der Kosten durchführbar sei, bleibe späterer Entscheidung vorbehalten. Die finanzielle Seite des Programms könne später geklärt werden. Es müsse nur etwas geschehen. Es gehe nicht an, daß man sich ablehnend verhalte, zumal im Westen große Interessen auf dem Spiel ständen, besonders, wenn man an das Gebiet der Saar denke. Die Saarwirtschaft sei zur Zeit schon ruiniert.

Der Reichsminister des Innern hob hervor, daß er bereits in dem Anschreiben an den Reichstag zu den Denkschriften der Länder über die wirtschaftliche und kulturelle Notlage in den bedrängten westlichen Grenzgebieten und im besetzten Gebiet darauf hingewiesen habe, daß die Reichsregierung die wirtschaftliche und kulturelle Fürsorge wie für den Osten so auch für die notleidenden westlichen Grenzgebiete und für das besetzte Gebiet als eine besonders wichtige Aufgabe anerkenne, die vom Reich in Gemeinschaft mit den beteiligten Ländern zu lösen sei3. Wenn die Reichsregierung im gegenwärtigen Zeitpunkt davon absehe, das in den Denkschriften zusammengetragene Material zu einem Hilfsprogramm für den Westen auszuwerten, so sei, wie er in dem Anschreiben ausgeführt habe, hierfür in erster Linie Rücksicht auf die derzeitige schwierige Lage der Reichsfinanzen ausschlaggebend, die eine gleichzeitige Einleitung[721] umfassender Aktionen in sämtlichen Grenzgebieten des Reiches verbiete. So wünschenswert es sei, ein Westprogramm aufzustellen, so würde nach seiner Meinung die Durchführung des Programms an der Kostenfrage scheitern. Außerdem sei zu erwägen, daß die Aufstellung eines Westprogramms zur Folge habe, daß auch für den ganzen Osten (Schlesien) ein Programm aufgestellt werden müsse. Man müsse unbedingt damit rechnen, daß Bayern, Sachsen und Preußen bei Aufstellung eines Programms für den Westen mit Anträgen nach Aufstellung eines umfangreichen Ostprogramms kommen würden. Im Hinblick auf die Nöte in Oberschlesien und im Waldenburgischen Bezirk werde man dann an der Aufstellung eines Ostprogramms kaum herumkommen, da der Reichsregierung eine gewisse Pflicht obläge, den Osten in ein solches Programm einzubeziehen. Kollege Brüning gehe vielfach, wie er an Hand eines Schreibens darlegen könne, von falschen Voraussetzungen aus. So habe er hinsichtlich des Waldenburger Bezirks eine falsche Vorstellung über die Ausgaben für den Wohnungsbau. Er befürchte, daß auch die Ansicht des Herrn Abgeordneten Brüning hinsichtlich der angeblich einmütigen Haltung der Regierungsparteien zur Hergabe von Mitteln für ein Ostprogramm4 nicht ganz zutreffend sei. Trotz aller dieser Erwägungen glaube er, daß man den vorgeschlagenen Schritten des Herrn Reichsministers Wirth folgen solle, aber man müsse außerordentlich vorsichtig vorgehen. Die Reichsregierung käme in eine schlechte Lage, wenn sie Versprechungen mache, die sie hinterher nicht halten könne. Aus diesen Erwägungen heraus halte er es auch für nicht richtig, eine besondere Denkschrift aufstellen zu lassen.

Reichsminister Dr. Wirth erwiderte hierauf, daß auch nach seiner Meinung vorsichtig vorgegangen werden müsse. An der Aufstellung eines Programms käme man nicht vorbei, da es nunmehr Zeit sei, die schwimmenden Fragen auf eine Linie zu bringen. Er empfehle den Ausbau eines Programms, das erst bei Vorhandensein der notwendigen Mittel ausgeführt wird. Er verkenne nicht die Sonderstellung der Landwirtschaft im Rahmen dieses Programms. Voraussichtlich werde für die Landwirtschaft noch ein Sonderprogramm aufzustellen sein. Im übrigen riskiere das Reichsfinanzministerium bei den Vorarbeiten nichts, zumal es durch die Bestellung eines besonderen Beamten an der Entstehung des Programms wesentlich beteiligt werden könne.

Der Reichsminister der Finanzen wies darauf hin, daß das Kabinett seinerzeit die Einsetzung eines Titels für den Westen ausdrücklich abgelehnt habe. Er betonte weiter, daß das Ostprogramm lediglich eine landwirtschaftliche Hilfe darstelle5, und legte weiter dar, daß die Ausarbeitung eines besonderen Programms für den Westen sich im Hinblick auf die Finanzlage schwer verantworten lasse, da nicht abzusehen sei, welche weiteren Forderungen noch kommen könnten. Außerdem erschiene es ihm noch nicht an der Zeit, ein Programm aufzustellen. Durch die Rheinlandräumung würden die schwebenden Probleme sich ändern und vor allen Dingen das Saarproblem in den Vordergrund rücken.[722] Im übrigen lasse es sich nicht vermeiden, daß die Programmaufstellung bekannt würde, und das gäbe Veranlassung zu weiteren Forderungen.

Der Reichsminister der Justiz betonte, daß dem Reichsminister Dr. Wirth im Wege der Ermächtigung nur die Möglichkeit gegeben werden sollte, vorbereitende Schritte zu tun. Vorarbeiten müßten doch gemacht werden, wenn rechtzeitige Hilfe gewährt werden solle.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete wies noch darauf hin, daß der Reichsminister des Innern in dem Anschreiben an den Reichstag zu den Denkschriften der Länder über die Notlage in den bedrängten westlichen Grenzgebieten und dem besetzten Gebiet ein Programm angekündigt habe. Er müsse nochmal betonen, daß nach seiner innersten Überzeugung die Probleme vorbereitet werden müßten. Er halte es für einen sträflichen Leichtsinn, wenn in dieser Beziehung nichts geschehe. Selbstverständlich sei Zurückhaltung geboten. In der Saarfrage sei zur Zeit überhaupt nicht klar zu sehen. Hier müsse eine gewisse Klärung erfolgen, um die Wirtschaftsprobleme der Saar richtig zu berücksichtigen.

Der Reichsminister des Innern führte noch aus, daß es ihm auch nützlich erscheine, wenn man sich mal darüber ausspreche, was zu tun sei, wenn die Saar frei sei. Allerdings habe das Wirtschaftsministerium hier ein wichtiges Wort mitzusprechen, insbesondere wenn man an die Behandlung der Saarkohle denke. Die Dinge müßten in der Tat eingehend überlegt werden. Allerdings warne er davor, die Kreise der Experten zu weit zu ziehen, da hierdurch in den beteiligten Kreisen leicht große Hoffnungen erweckt werden könnten, die dann bitter enttäuscht werden müßten.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete wies noch auf die verzweifelte Lage Hessens, das zu zwei Drittel besetzt sei, hin und bat, die Angelegenheit nicht etwa zu vertagen, da seine Partei Auskunft haben wolle, was geschehe6.

Staatssekretär Schmid legte noch dar, daß es für das Rheinministerium nur darauf ankomme, die Tore zu Verhandlungen mit den Ressorts zu öffnen, um die erforderliche Vorbereitung zu treffen. Das aufzustellende Programm soll dem Kabinett zur Entscheidung unterbreitet werden. Dabei werde auch zu entscheiden sein, in welchen Etappen das Programm durchgeführt werden soll. Zur Zeit seien aber für solche Verhandlungen die größten Schwierigkeiten vorhanden, da die Fachressorts dem Rheinministerium die Aktivlegitimation bestritten. In dem Anschreiben an den Reichstag betreffend Denkschriften der Länder über die Notlage im besetzten Gebiet sei bereits angekündigt, daß das Programm im Sommer vorbereitet werde. Solche Vorarbeiten können aber nur geschehen unter der politischen Führung des Ministeriums für die besetzten Gebiete.

Der Reichskanzler betonte, daß er gegen die Ermächtigung zur Aufstellung eines solchen Programms keine Bedenken habe. Fraglich erscheine es ihm nur, ob alles in ein Gesetz kommen könne. Er halte es für zweckmäßig, daß zunächst[723] das Reichsministerium für die besetzten Gebiete einen Katalog aufstelle, damit man übersehen könne, um welche Fragen es sich handele. Seiner Meinung nach werde die Finanzlage entscheidend sein.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete wies nochmals darauf hin, daß er ja nur die Möglichkeit haben wolle, die praktischen Fragen zu durchdenken. Da das Veto des Reichsministeriums der Finanzen gewahrt bleibe, könne er keine Schwierigkeiten vom finanziellen Standpunkt aus anerkennen.

Der Staatssekretär Trendelenburg legte noch dar, daß hinsichtlich der Saargebietsfragen die Zuständigkeit des Auswärtigen Amtes wohl kaum geändert werden könne. Hinsichtlich des Saargebiets werde ein Übergangsregime eingeführt werden müssen. Eine Zusammenarbeit der Ressorts erscheine ihm nicht schwer, sobald die Finanzfragen geklärt seien. Zweifel habe er allerdings, ob man zur Zeit schon an die Aufstellung eines Programms herantreten solle.

Der Reichskanzler regte an, den Fragenkomplex in einer Kabinettssitzung zu klären. Es sei erwünscht, daß in dieser Sitzung der Reichsminister für die besetzten Gebiete einen eingehenden Vortrag halte und seinen Antrag begründe. Er könne sich vorstellen, daß das Kabinett einen entsprechenden Auftrag dem Herrn Reichsminister für die besetzten Gebiete geben werde, ohne daß das Kabinett sich selbst auf das Programm festlege.

Es wurde vereinbart, daß in einer Kabinettssitzung in der nächsten Woche der Reichsminister für die besetzten Gebiete dem Reichskabinett seine Vorschläge unterbreiten solle7.

Fußnoten

2

Siehe Dok. Nr. 180.

3

Siehe RT-Drucks. Nr. 939, Bd. 435 .

4

Nach den oben gemachten Ausführungen muß es wohl richtig „Westprogramm“ heißen.

5

Siehe Dok. Nr. 180.

6

Siehe zur Situation Hessens die Anlage c der RT-Drucks. 939, Bd. 435 .

7

Siehe Dok. Nr. 223, P. 1.

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