2.63 (feh1p): Nr. 63 Der Preußische Staatskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung an den Reichskanzler. 4. September 1920

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Nr. 63
Der Preußische Staatskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung an den Reichskanzler. 4. September 1920

R 43 I /352 , Bl. 10–18

[Betrifft: Lage in Oberschlesien nach dem polnischen Aufstand]

Sofort. Vertraulich1

In einer Besprechung, die am gestrigen Nachmittag in meinem Amt mit einer Reihe führender Herren aus der oberschlesischen Großindustrie stattfand, wurde die Lage in Oberschlesien eingehend besprochen und dabei folgendes festgestellt:

Vor dem polnischen Aufstand2 waren die Aussichten für die kommende Abstimmung für Deutschland außerordentlich günstig. Man konnte mit ziemlicher Sicherheit auf einen Erfolg rechnen, der nicht weit hinter dem in Westpreußen zurückblieb3. In Erkenntnis dieser Lage haben die Polen den seit langer Zeit geplanten und wohl vorbereiteten Gewaltstreich ausgeführt, um[154] sich im Vertrauen auf die französische Untätigkeit oder sogar auf ihre Mithilfe in den Besitz von Oberschlesien zu setzen. Die Kampforganisation der Polen und ihre Absicht, mit Gewalt von Oberschlesien Besitz zu ergreifen, ist vor längerer Zeit durch die bekannten Dokumente, die mir in die Hände gefallen und die seinerzeit dem Auswärtigen Amt überreicht worden sind, bekannt gewesen.

[…]

Es erübrigt sich eine weitere Ausführung über diesen Punkt, da es der Reichs- und Preußischen Regierung genügend bekannt ist, daß nicht etwa die Deutschen, sondern umgekehrt die Polen den Gewaltakt absichtlich hervorgerufen haben. Ich unterlasse auch, im einzelnen einen Nachweis dafür zu erbringen, daß die Franzosen dem polnischen Aufstand nicht nur untätig gegenüber gestanden, sondern ihm teilweise direkte Unterstützung geliehen haben. […] Jedenfalls kann und muß hier soviel mit Bestimmtheit behauptet werden, daß keinem vorurteilslosen Kenner der oberschlesischen Verhältnisse und keinem Beobachter der letzten Vorgänge in Oberschlesien der leiseste Zweifel daran besteht, daß die Franzosen nicht nur nicht, wie es nach dem Versailler Vertrag ihre Pflicht gewesen wäre, den polnischen Aufstand unterdrückt haben, sondern daß sie ihn zum mindesten stillschweigend geduldet und ihm sogar ihre Sympathie nicht verhehlt haben.

Nach den Ereignissen in Oberschlesien hat sich die Lage zu Ungunsten Deutschlands sehr erheblich verschoben. Das Ergebnis der Abstimmung, die jetzt oder in kurzer Zeit erfolgen würde, würde im allgemeinen zweifelhaft, in den Kreisen Pleß und Rybnik sicherlich zugunsten der Polen ausfallen. Bei dem Charakter des Oberschlesiers ist zu befürchten, daß er demjenigen Staat seine Stimme gibt, der Macht gezeigt hat und ihm für die Zukunft Schutz verheißt. Diese Macht aber haben während des letzten Aufstandes die Polen gezeigt, während Deutschland durch die Fesseln des Versailler Vertrages ohnmächtig der Vergewaltigung einer seiner wichtigsten Provinzen zusehen mußte. In Oberschlesien ist mehr als anderswo die Abstimmungsfrage eine Prestige- frage. Dazu kommt, daß es während des Aufstandes den Polen in den von ihnen besetzten Gebieten gelungen ist, die deutschen offiziellen Abstimmungseinrichtungen zu zerstören und die meisten Ortsgruppen der Vereinigten Verbände4 zu zersprengen. Gerade die tätigsten Mitglieder dieser Ortsgruppen sind geflüchtet, viele haben ihr gesamtes Hab und Gut verloren, einige hat man sogar ermordet, so daß in absehbarer Zeit mit einer Rückkehr gerade dieser für die deutsche Sache wichtigen Leute nicht gerechnet werden kann. Die Zurückgebliebenen hat neben einer starken moralischen Depression eine solche Furcht vor polnischen Gewalttaten erfaßt, daß sie es nicht wagen dürfen, ihre deutsche Gesinnung zum Ausdruck zu bringen oder gar für die deutsche Sache zu wirken. Es ist daher ein Glück, daß die von deutscher Seite eingerichtete Geheimpropaganda,[155] die im wesentlichen den Polen unbekannt geblieben ist, deshalb während des Aufstandes verschont wurde, so daß sie noch mehr als zuvor die eigentliche Trägerin der deutschen Abstimmungsarbeit ist. Um Zeit zu gewinnen, den Oberschlesiern das Vertrauen in die deutsche Sache wieder einzuflößen und den durch den Aufstand Geschädigten ihre materiellen Verluste zu ersetzen, um überhaupt die offizielle Werbetätigkeit für Deutschland wieder ins Werk zu setzen, ist daher dringend erforderlich, daß die Abstimmung verschoben wird, sicherlich nicht vor dem Frühjahr 1921 stattfindet5 . Man muß auch damit rechnen, daß viele außerhalb Oberschlesiens wohnende Abstimmungsberechtigte sich zur Zeit scheuen würden, in ihr Heimatland zur Ausübung ihres Abstimmungsrechts zu fahren, weil sie Gefahr für ihr Leben durch den polnischen Terror, und nicht mit Unrecht, fürchten. Diese Forderung wurde als eine der wesentlichsten von allen Sachverständigen übereinstimmend erhoben.

Die Lage in Oberschlesien ist aber trotz des auf Frieden hinauslaufenden Abkommens6 zwischen den Deutschen und Polen keineswegs eine ruhige. Bei den Deutschen auf der einen Seite hat sich ein so gewaltiger Haß gegen Polen und Franzosen gebildet, daß man immer mit dem leidenschaftlichen Ausbruch einzelner unbesonnener, die Tragweite ihrer Handlungen nicht überblickender Personen rechnen muß. Die Bedeutung solcher Gewaltaktionen darf nicht unterschätzt werden. Im Gegenteil könnten sie unermeßliches Unglück für unser Vaterland dadurch herbeiführen, daß der Oberste Rat in Paris unter der Erklärung, Deutschland hätte unter Verletzung des Friedensvertrages sich mit Gewalt in den Besitz von Oberschlesien setzen wollen, über das Schicksal Oberschlesiens, ohne eine Abstimmung vorzunehmen, selbständig entscheiden würde. Andererseits haben die Polen durchaus nicht auf ihren Plan, sich mit Gewalt in den Besitz Oberschlesiens zu setzen, verzichtet. […] Der neue Gewaltstreich wird in Oberschlesien ganz offen auf den 18. und 19. September angekündigt.

Um dem neuen Plan der Polen wirksam entgegentreten zu können, ist als unerläßliche Forderung zu bezeichnen, daß die Ostgrenze Oberschlesiens geschlossen und so sicher geschützt wird, daß dem augenblicklich bestehenden ungehemmten Verkehr ein Riegel vorgeschoben wird. Dazu ist es aber erforderlich, daß nicht etwa die parteiischen Franzosen, sondern die Italiener den Grenzschutz übernehmen. Es ist schon an und für sich ein Unding und mit der Forderung einer den Volkswillen zum Ausdruck bringenden Abstimmung unvereinbar, daß fast ausschließlich Franzosen den Schutz der Volksabstimmung in Oberschlesien übernommen haben. Die Franzosen sind offene Verbündete der Polen.[156] Es ist menschlich und politisch unmöglich, daß sie diesen ihren Freunden, mit denen sie gemeinsame Sache gegen Sowjetrußland machen, in ihrem Verlangen nach dem Besitz Oberschlesiens vorurteilslos und objektiv gegenüberstehen. Ich will dabei noch darauf hinweisen, daß es auch völkerrechtlich nicht zu rechtfertigen ist, daß gerade die Franzosen als Verbündete der Polen in ihrem Kriege gegen Rußland die Neutralität Oberschlesiens in diesem Kriege garantieren sollen. Ich kann nicht beurteilen, ob das einzig gerechtfertigte Verlangen, die Franzosen in Oberschlesien durch Italiener oder Engländer abzulösen, bei dem Obersten Rat in Paris durchgesetzt werden kann. Der Versuch hierzu muß jedenfalls in Anbetracht der ungeheuren Wichtigkeit, die der Gewinn oder Verlust Oberschlesiens für Deutschland hat, auch mit Rücksicht auf die Volksabstimmung in Oberschlesien, die geradezu nach einer in die Erscheinung tretenden Tat des Reichs schreit, gemacht werden. Sicherlich muß aber der Grenzschutz durchgeführt und nicht den Franzosen übertragen werden. Auf der anderen Seite wird von den deutschen Organisationen mit aller Entschiedenheit darauf gewirkt werden, daß die oben erwähnten unbesonnenen Führer von sogenannten Stoßtrupps, deren Beseitigung immer noch nicht gelungen ist, im Schach gehalten und vor voreiligen Gewaltstreichen bewahrt werden.

Es wird sich weiter empfehlen, dem mit der Leitung der offiziellen Propaganda in Oberschlesien betrauten Landrat a. D. Lukaschek7 einen bestimmenden Einfluß auf das Plebiszit-Kommissariat in Oberschlesien8 zu sichern. Das Plebiszit-Kommissariat hat in den Augen der Oberschlesier versagt. Das Abkommen, das unter seiner Mitwirkung zwischen den Deutschen und Polen abgeschlossen worden ist, hat die Gemüter in Oberschlesien nicht nur nicht beruhigt, sondern im Gegenteil in erneute Aufregung versetzt. Man hat nicht verstehen können, daß man mit einem Korfanty, der einen Vertrag nur deshalb schließt, um ihn brechen zu können, sich an einen Verhandlungstisch setzt. Weiter hat auch das Telegramm an den General Le Rond und die in dem Schlußsatz enthaltenen Drohungen, vielfaches Mißfallen in Oberschlesien erregt9. Es muß unter allen Umständen erreicht werden, daß künftig derartig einschneidende Maßregeln nur nach vorheriger Zustimmung des Herrn Lukaschek vorgenommen werden können. Landrat Lukaschek, der durch seine Tätigkeit in Oberschlesien mit den Verhältnissen und mit der Stimmung der Bevölkerung genau vertraut ist und mit sämtlichen in Frage kommenden Stellen in inniger Verbindung steht, bietet die Gewähr, daß Vorkommnisse vermieden werden, die der deutschen Sache in Oberschlesien zum Schaden gereichen.

[157] In der Versammlung wurde endlich gebeten, und auch diese Bitte vermag ich nur auf das eindringlichste zu unterstützen, daß möglichst bald eine offizielle Erklärung der Reichsregierung bekanntgegeben werden müsse, wonach den Deutschen in Oberschlesien volle Garantie für die materiellen Verluste zugesichert wird, die sie bei dem letzten Polenaufstand erlitten haben. Das erscheint auch deshalb umso dringender geboten, als Korfanty bereits eine Entschädigungsaktion eingeleitet hat. Es muß unter allen Umständen vermieden werden, daß Korfanty seinen Stimmenfang damit betreiben kann, daß er erklärt: „Wir Polen unterstützen Euch Deutsche für die erlittenen Verluste, da das deutsche Reich für Euch nichts tut.“

Die Forderungen, deren Erfüllung ich für unumgänglich nötig halte, wenn man Oberschlesien Preußen und dem Reiche erhalten will, erlaube ich mir daher, der Reichs- und Preußischen Regierung hiermit vorzuschlagen:

1.

Hinausschiebung der Abstimmung,

2.

Absperrung der Ostgrenze mit nicht französischen Truppen,

3.

Ablösung der Franzosen in Oberschlesien,

4.

erweiterte Befugnisse für den Landrat Lukaschek in Hinblick auf die Plebiszitkommission,

5.

feierliche Erklärung der Reichs- und Preußischen Regierung auf Schadloshaltung der Deutschen in Oberschlesien.

Ich möchte nicht unterlassen, noch zu bemerken, daß in der gestrigen Besprechung hervorgehoben worden ist, daß die in Oberschlesien weilenden Engländer ihr Mißfallen über das Verhalten der Franzosen gegenüber dem Polenaufstand offen zum Ausdruck gebracht haben, daß drei englische Kreiskontrolleure aus Empörung über das gekennzeichnete Verhalten ihr Amt niedergelegt, schließlich aber auf höhere Weisung weiter ausgeführt haben. Es wurde auch erzählt, daß der Leiter der mitteleuropäischen Kohlenkommisson, der amerikanische Wirtschaftssachverständige Oberst Nutt, nach Paris gefahren sei, um dort seine Entrüstung über die Verhältnisse vorzutragen10.

Weismann

Fußnoten

1

Handschriftl. Vorlageverfügung von unbekannter Hand. Gleichlautende Schreiben erhielten sämtliche RM, das Büro des RPräs., der PrMinPräs. und sämtliche pr. Minister.

2

Es handelte sich hier um den poln. Aufstand in Oberschlesien im August 1920. Siehe dazu Schultheß 1920, I, S. 238–242.

3

Bei der Volksabstimmung in Westpreußen am 11.7.1920 war die Entscheidung mit 92,4% der abgegebenen Stimmen für Dtld. ausgefallen (Schultheß 1920, I, S. 193).

4

Die Organisation „Vereinigte Verbände heimattreuer Oberschlesier“ war ein Zusammenschluß aller der Verbände, die ein Verbleiben Oberschlesiens beim Dt. Reich erstrebten. Die Verbände waren an der dt. Propaganda in Oberschlesien wesentlich beteiligt (Telegramm der „Vereinigten Verbände“ an den RK am 23.8.1920, R 43 I /351 , Bl. 204).

5

Nach § 4 der Anlage zu Art. 88 VV sollte der Termin der Abstimmung in Oberschlesien durch die Alliierten festgesetzt werden. Dieser Termin sollte jedoch nicht früher als 6 Monate und nicht später als 18 Monate nach dem Amtsantritt der Interalliierten Kommission liegen.

Stimmberechtigt waren sowohl die dort geborenen als auch die dort wohnenden Personen.

6

Am 27.8.1920 war es in Beuthen zwischen den Vertretern der dt. Parteien und dem poln. Plebiszitkommissar Korfanty zu Verhandlungen über die Beendigung des oberschlesischen Aufstandes gekommen. Diese Verhandlungen hatten am 28. 8. zu einem Abkommen geführt, dessen wesentliche Bestimmungen am gleichen Tage in einem Aufruf der dt. und poln. politischen Parteien und der Gewerkschaften veröffentlicht wurden. Zu diesen Verhandlungen und zu dem Abkommen s. Schultheß 1920, I S. 241.

7

Landrat Lukaschek war der Leiter der offiziellen dt. Propaganda in Oberschlesien. In dieser Eigenschaft hatte er für die propagandistische Vorbereitung der Abstimmung zu sorgen (Besprechung über Fragen der Propaganda in Oberschlesien am 3.8.1920, R 43 I /2505 , Bl. 87).

8

In Oberschlesien war aus Vertretern der SPD, der DDP, der Katholischen Volkspartei (Zentrum) und der DNVP ein „Plebiszit-Kommissariat für Deutschland“ gebildet worden, das es als seine Aufgabe ansah, die mit der Abstimmung zusammenhängenden Probleme zu lösen (Schreiben des Plebiszit-Kommissariats an den RK am 29.7.1920, R 43 I /351 , Bl. 123).

Das Abkommen vom 28.8.1920 zwischen Deutschen und Polen (s. o. Anm. 6) war unter wesentlicher Mitwirkung des Plebiszit-Kommissariats zustande gekommen.

9

Hier handelte es sich offenbar um ein Telegramm des Plebiszit-Kommissariats an General Le Rond. Nähere Einzelheiten ließen sich in R 43 I nicht ermitteln.

10

Siehe dazu weiter Dok. Nr. 64, P. 1.

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