2.7 (ma31p): Nr. 7 Der Reichsminister der Finanzen an die Reichsminister. 21. Mai 1926

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[13] Nr. 7
Der Reichsminister der Finanzen an die Reichsminister1. 21. Mai 1926

R 43 I /2359 , Bl. 241–243 Umdruck

[Zur Lage der Reichsfinanzen.]

Vertraulich!

In den letzten Wochen sind in immer steigendem Maße Anforderungen auf Einstellung neuer Ausgaben oder Erhöhung bereits bestehender Ausgaben geltend gemacht worden, die den mit der Steuersenkungsaktion2 verfolgten Zweck zu gefährden drohen und ernste Besorgnis für die Entwicklung der Finanzlage des Reiches hervorrufen müssen.

In Abweichung von dem Grundsatz, daß die Stützung einzelner notleidender Unternehmungen oder Erwerbszweige nicht zu den Aufgaben des Reichs gehört, sind angesichts der Wirtschaftskrise in steigendem Umfang in Fällen, in denen besondere Gründe vorlagen, Stützungsmaßnahmen durch Bürgschaften oder Darlehen des Reiches eingeleitet worden3. Je mehr aber die Zahl solcher bisher auch von mir für notwendig gehaltenen Ausnahmen wächst, um so größer wird die Gefahr, daß die Regierung den bereits geltend gemachten und noch zu erwartenden Berufungen gegenüber ihren bisherigen grundsätzlichen Standpunkt nicht mehr zu halten vermag und in eine Subventionspolitik gerät, die nicht nur volkswirtschaftlich, sondern auch vom Gesichtspunkt der Reichsfinanzen aus verhängnisvoll wirkt.

Auf dem Gebiete der Entschädigungen wird durch den Antrag Ulitzka, der die Gewährung von Krediten an die aus den abgetretenen Gebieten verdrängten Deutschen bezweckt4, eine neue große Entschädigungsaktion in Gang gesetzt. Diese droht nach meiner Ansicht die Reste des noch in den abgetretenen Gebieten ansässigen Deutschtums nach Deutschland zu ziehen; sie gefährdet damit die Grundlagen der von Deutschland im Hinblick auf die abgetretenen Gebiete zu führenden Politik. Vor allem aber sind ihre Wirkungen finanziell[14] nicht abzusehen, sie können Hunderte von Millionen betragen5. Ferner ist eine Änderung der Abgeltungsverordnung6 angeregt worden. Hierdurch würde die jahrelange Arbeit der Abgeltungskommission zunichte gemacht und viele Tausende längst erledigter Ansprüche an das Reich würden neu entstehen. Auch hier ist die finanzielle Auswirkung nicht abzusehen.

Der bisherige Gang des Anleiheablösungsverfahrens7 läßt mit Sicherheit erwarten, daß die in den Haushalt eingesetzten Summen nicht ausreichen werden; um so gefährlicher sind alle über die Bestimmungen des Anleiheablösungsgesetzes hinausgehenden Anträge8.

Die anhaltende Wirtschaftskrise hat bereits zu einer Erhöhung der Haushaltsansätze für die Erwerbslosenfürsorge um 200 Millionen genötigt. Alle Anzeichen lassen darauf schließen, daß selbst bei einer Besserung der gegenwärtigen Wirtschaftslage die Zahl der Erwerbslosen dauernd sehr groß bleiben und eher zu Mehrausgaben als zu Ersparnissen bei der Erwerbslosenfürsorge führen wird. Auf dem Gebiet der Wochenhilfe sind im Sozialen Ausschuß9 Anträge gestellt, die eine Erhöhung der Lasten für das Reich um 40 Millionen bedeuten würden. Im Ausschuß für die besetzten Gebiete werden Anträge beraten, die ebenfalls eine erhebliche Mehrbelastung für das Reich zur Folge haben würden. Auch für eine weitere Erhöhung der Renten der Kriegshinterbliebenen und -beschädigten scheinen Anträge vorbereitet zu werden. Die im Unterausschuß des Haushaltsausschusses in der Frage der Altpensionäre gefaßten Beschlüsse sind nicht so sehr wegen der unmittelbaren Mehrausgaben, als wegen[15] der aus diesen Beschlüssen herzuleitenden Berufungen im höchsten Grade bedenklich.

Alle diese Vorgänge rufen den Eindruck hervor, daß man sich in den Kreisen des Parlaments über die wirkliche Lage der Reichsfinanzen nicht klar ist. Eine falsche Einstellung hierbei muß umsomehr zu verhängnisvollen Folgen führen, wenn nicht von der Reichsregierung selbst bei allen sich bietenden Gelegenheiten die tatsächliche Lage mit allen ihren Folgen in voller Deutlichkeit klargelegt wird. Ich richte deshalb an die Herren Reichsminister die dringende Bitte, daß sowohl bei Parteibesprechungen auf die wirkliche Finanzlage hingewiesen wird, als daß auch die Referenten der Ministerien über den Stand der Dinge aufgeklärt und so in die Lage versetzt werden, in den Beratungen der einzelnen Ausschüsse weitgehenden Anträgen von vornherein entgegenzutreten. Ich gestatte mir, zur Begründung ein Bild über die Entwicklung der Finanzlage in diesem Jahre zu geben.

Der sich aus den Steuersenkungen ergebende Einnahmeausfall und der Mehransatz für die Erwerbslosenfürsorge sollen durch vorhandene Überschüsse der Vorjahre und den Münzgewinn gedeckt werden, während zum Teil als Deckung für die außerordentlichen Ausgaben die Aufnahme einer Anleihe von rund 300 Millionen RM im Haushalt vorgesehen ist10. In einem Nachtragshaushalt werden demnächst die bereits vom Reichstag beschlossenen oder sonst notwendig gewordenen Mehrausgaben angefordert werden müssen, deren Deckung voraussichtlich aus Überschüssen des Jahres 1925 möglich sein wird, aber nur mit der Maßgabe, daß die im Nachtragshaushalt für 192511 vorgesehene Anleihe von 100 Millionen RM aufgenommen wird. Es würden also insgesamt 400 Millionen RM Anleihe im Laufe dieses Jahres aufzunehmen sein, da im Hinblick auf die wirtschaftliche Lage nicht damit gerechnet werden kann, daß die Steuern über die Haushaltsansätze hinaus Eingänge bringen. Das Reich würde sich weiter die zur Finanzierung des Kleinwohnungsbaues vorgesehenen 200 Millionen RM12 auf dem offenen Geldmarkt beschaffen müssen, falls die vorhandenen Kassenmittel zu anderen Zwecken verwandt würden.

Der Kassenbestand des Reiches beträgt, wenn man von den im Verkehr mit dem Generalagenten jeweils festgelegten 150 Millionen Mark verpfändeter Einnahmen absieht, zur Zeit rund 600 Millionen RM, von denen rund 200 Millionen RM illiquide (Landwirtschaftskredite, Länderdarlehen), rund 400 Millionen RM flüssig sind. Dadurch, daß von den zum Ausgleich der Ausgaben in den Haushalt eingestellten Einnahmen 400 Millionen in Anleihe bestehen, die erst aufgenommen werden müssen, und ein Teil der Vermögensteuer und des Münzgewinns sowie der Überschuß aus der Post u. a. erst nach Abschluß des Rechnungsjahres in die Reichskasse fließen werden, ergibt sich ein monatlicher Zuschußbedarf,[16] der gerade in den ersten Monaten des Haushaltsjahres sehr erheblich sein und die zahlungsbereiten Kassenbestände des Reiches bald aufzehren wird. Der kassenmäßige Zuschußbedarf des Monats April hat über 100 Millionen betragen. Der Zuschußbedarf der folgenden Monate wird kaum geringer sein.

Wenn auch die Entwicklung des Geld- und Kapitalmarktes die Rückkehr zu dem finanzpolitisch gesunden Grundsatz, außerordentliche Ausgaben durch Anleihen zu decken, ermöglicht hat, so ist doch der Markt noch nicht so gefestigt, daß nicht eine starke Anspannung zu wirtschaftlich bedenklichen Folgen führen könnte. Ich muß befürchten, daß der Kapitalmarkt eine Erhöhung der Anforderungen, die das Reich im Laufe dieses Jahres nach der geschilderten Sachlage an den Markt stellen wird, nicht tragen könnte.

Eine Erhöhung der im Haushalt vorgesehenen Ausgaben durch die zu Beginn meines Schreibens angedeuteten Anträge und Maßnahmen würde zu einem Fehlbetrag führen, der zu einem Schuldenmachen gefährlichster Art nötigen würde, zu der ich unter gar keinen Bedingungen meine Hand bieten könnte.

Dr. Reinhold

Fußnoten

1

Das Schreiben ging außerdem an den StSRkei und an RSparkom. Saemisch.

2

Gemeint sind die Steuerermäßigungen auf Grund des „Gesetzes über Steuermilderungen zur Erleichterung der Wirtschaftslage“ vom 31.3.26 (RGBl. I, S. 185 ). Zur Beratung der Steuersenkungsaktion durch die RReg. siehe diese Edition, Die Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 286; 292, P. 7; 318, P. 2; 322, P. 1.

3

Dazu die hschr. Randbemerkung Wachsmanns: „wogegen sich der Haushaltsausschuß beharrlich sträubt“.

4

Der Abg. Ulitzka hatte am 26.3.26 im RT einen Entschließungsantrag des interfraktionellen Ostausschusses eingebracht, in dem die RReg. ersucht wurde, „alsbald eine großzügige Kreditaktion durchzuführen, durch welche die Deutschen im Osten des Reichs, die durch die Abtretung deutschen Gebiets Heimat und Erwerb verloren haben – insbesondere die Landwirte, Kaufleute, Handwerker und Gewerbetreibende, denen ihr Besitz einzige Existenzbasis war –, endlich in die Lage versetzt werden, sich eine der verlorenen wenigstens annähernd gleichwertige Existenz zu gründen und zu erhalten und den Angestellten und Arbeitern eine neue Arbeitsgelegenheit zu beschaffen“ (RT-Bd. 390, S. 6726  ff.; RT-Bd. 407 , Drucks. Nr. 2021 ).

5

Im Einvernehmen mit dem AA, dem RIM und dem PrIM teilte der RFM (i. V. Fischer) dem Abg. Ulitzka mit Schreiben vom 29.6.26 mit, daß gegen die Durchführung einer Kreditaktion zugunsten der Ostverdrängten im Sinne der Entschließung des RT vom 26. 3. (Anm. 4) „sehr schwerwiegende Bedenken“ beständen. Bekanntlich hätten „die in den abgetretenen Gebieten verbliebenen Deutschen unter Schikanen aller Art zu leiden und mit starken wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Neigung zur Abwanderung nach Deutschland besteht daher bei dem bereits auf ⅓ seines früheren Bestandes zusammengeschrumpften Deutschtum unvermindert fort. Die Gewährleistung einer gesetzlichen Entschädigung für den Fall der Abwanderung und vor allem die mit der Entschädigung betriebene Propaganda hat nach den Erfahrungen der letzten Jahre eine starke Anziehungskraft auf die in den abgetretenen Gebieten befindlichen Deutschen ausgeübt. Viele Familien, die dort ihr Auskommen hatten und auch jetzt noch haben würden, sind durch die Aussicht auf Entschädigung in ihrem Willen zum Aushalten geschwächt und zur Abwanderung mitbestimmt worden. […] Unter diesen Umständen muß vermieden werden, einen neuen Anreiz zur Abwanderung aus dem abgetretenen Gebiet zu schaffen.“ Außerdem würde eine Kredithilfe an die im Osten des Reichs lebenden Verdrängten zu Berufungen der aus Elsaß-Lothringen und aus den dt. Kolonien Verdrängten führen und darüber hinaus auch die Inflationsgeschädigten „zu unerfüllbaren Forderungen veranlassen und so neue Unzufriedenheit in weiten Kreisen des Volkes erregen“. Von diesen Gründen abgesehen scheitere die geplante Kreditaktion „vollends an der Unmöglichkeit, die erforderlichen Mittel aufzubringen“. Nach den angestellten Berechnungen seien selbst bei Gewährung bescheidener Darlehen mehrere hundert Millionen RM notwendig. Reichsmittel in solcher Höhe zur Verfügung zu stellen, sei angesichts der Finanzlage ausgeschlossen (R 43 I /1797 , Bl. 38–39).

6

Die „Verordnung über die Erweiterung des Abgeltungsverfahrens für Ansprüche gegen das Reich“ vom 24.10.23 (RGBl. I, S. 1010 ) regelte die Behandlung von Schadensersatzansprüchen, die im Zusammenhang mit der Kriegswirtschaft und -verwaltung und bei den politischen Umwälzungen der Nachkriegszeit entstanden waren.

7

Auf Grund des „Gesetzes über die Ablösung öffentlicher Anleihen“ vom 16.7.25 (RGBl. I, S. 137 ).

8

Vgl. dazu Dok. Nr. 1, Anm. 3.

9

Ausschuß des RT für soziale Angelegenheiten.

10

Siehe das „Gesetz über die Feststellung des Reichshaushaltsplans für das Rechnungsjahr 1926“ vom 31.3.26 (RGBl. 1926 II, S. 187 ).

11

Siehe das „Gesetz über die Feststellung eines Nachtrags zum Reichshaushaltsplane für das Rechnungsjahr 1925“ vom 20.5.26 sowie das „Gesetz über die Feststellung eines zweiten Nachtrags zum Reichshaushaltsplane für das Rechnungsjahr 1925“ vom 22.5.26 (RGBl. 1926 II, S. 257  f.).

12

Siehe das „Gesetz über die Bereitstellung von Kredit zur Förderung des Kleinwohnungsbaues“ vom 26.3.26 (RGBl. I, S. 179 ).

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