2.156 (mu21p): Nr. 156 Denkschrift über das finanz-, staats- und wirtschaftspolitische Reformprogramm. 19. März 1929

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 8). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Kabinett Müller II. Band 1 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

Extras:

 

Text

RTF

[496] Nr. 156
Denkschrift über das finanz-, staats- und wirtschaftspolitische Reformprogramm. 19. März 19291

R 43 I /280 , Bl. 311-317 Durchschrift

Die Reichsregierung geht davon aus, daß Deutschlands Wirtschaft dringend der Entlastung bedarf. Der Reichsminister der Finanzen hat in seiner Rede vom 14. März 1929 bei Einbringung des Haushalts für das Jahr 1929 die Folgerungen aus dieser Erkenntnis für die Finanzpolitik gezogen2. Danach ergibt sich für den Standpunkt der Reichsregierung zu den Aufgaben der nächsten Zeit folgendes:

Der Defizithaushalt wird als Gefahr für Wirtschaft und Finanzen abgelehnt. Echte Deckung durch sichere Einnahmen wird für einen Haushalt gefordert, dessen Vorzeichen sparsamste Wirtschaft sein soll. Schon bei Aufstellung des Haushalts sind die Aufgaben, soweit irgend möglich, gedrückt worden. Zieht man von der Ausgabensumme des ordentlichen Etats die Kriegslasten und die Überweisungen an die Länder ab, so ergibt sich, daß der Haushaltsentwurf des Jahres 1929 in seinen Ausgaben hinter dem von 1928 zurückbleibt. Der Reichsminister der Finanzen hat sich aber bereit erklärt, jeder weiteren Streichung durch das Parlament zuzustimmen, die wirtschaftlich vernünftig und sozial erträglich ist. Die außerordentlichen Ausgaben sind früher auf Grund von Anleiheermächtigungen bewilligt und bei Nichteingang der Anleihe aus Kassenmitteln bewirkt worden. Der außerordentliche Haushalt 1929 beläuft sich auf 289,2 Millionen; er ist im vollen Umfang durch tatsächliche Einnahmen gedeckt. Die Wiederkehr ungedeckter außerordentlicher Haushalte soll durch Bestimmungen verhindert werden, die jetzt dem Reichstage vorgeschlagen sind und eine wesentliche Stärkung der Stellung des Reichsministers der Finanzen bedeuten3.

Danach dürfen grundsätzlich keine Ausgaben aus dem außerordentlichen Haushalt geleistet werden, bevor ihre Deckung, insbesondere der Anleiheerlös, wirklich eingegangen ist, auch dürfen die Ressorts nur mit Zustimmung des Reichsministers der Finanzen über unverbrauchte Reste aus dem Vorjahr verfügen.

Als Grundsätze der zukünftigen Finanzpolitik für den außerordentlichen Haushalt hat die Reichsregierung allgemein festgestellt:

1.

Neue außerordentliche Ausgaben dürfen künftig nur in den Haushalt eingestellt werden, wenn die Deckung durch die Einnahmen feststeht.[497]

2.

Vorläufig darf ein neuer Anleihebedarf erst dann wieder in den Haushalt eingestellt werden, wenn der alte Anleihebedarf endgültig abgedeckt ist.

3.

Alle Verpflichtungen zur Deckung außerordentlicher in den Haushalt eingestellter Ausgaben dürfen nur im Rahmen der vom Reichsminister der Finanzen bereitgestellten Mittel eingegangen werden.

Für das Gebiet des ordentlichen und des außerordentlichen Haushalts besteht bereits das Recht des Reichsministers der Finanzen, der Anmeldung von Ausgaben bei Aufstellung des Haushalts zu widersprechen. Der Widerspruch ist unüberwindbar, wenn der Reichskanzler ihm beitritt4. Es kommt also nicht zur Anforderung der Ausgabe. Die sparsame Bewirtschaftung der Mittel soll dadurch weiter gesichert werden, daß der Reichsminister der Finanzen nur im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden, also tatsächlichen Einnahmen, die Ministerien zur Inanspruchnahme von Geldern ermächtigt. Die Ministerien sind bei allen Vertragsabschlüssen über 1 Million und über ein Jahr hinaus an die Zustimmung des Reichsministers der Finanzen gebunden. Die Gesamtheit dieser Bestimmungen zeigt, daß innerhalb der Verwaltung schärfste Vorkehrungen getroffen sind, um eine Übersteigerung der Ausgaben zu verhüten. Dem Parlament gegenüber hat zur Zeit nur der Reichsrat ein formelles Recht, der einzelnen Ausgabe zu widersprechen; sein Widerspruch ist mit Zweidrittelmehrheit überwindbar5. Die Reichsregierung kann und muß ihre politische Verantwortung einsetzen. Diese Mittel hat sie innerhalb der letzten drei Wochen gegenüber Forderungen der Parteien auf dem Gebiete der Rentenfürsorge und der Sozialversicherung mit sofortigem und durchschlagendem Erfolg angewandt. Sie hat allgemein die Erklärung abgegeben, daß sie jedem Antrag entgegentreten werde, der eine neue wirtschaftliche oder finanzielle Belastung bedeute6. Die Parteien haben daraufhin ihre Anträge fallen lassen. Um sichere Grundlagen für die künftige Finanzgebahrung zu gewinnen, wird die Reichsregierung auch mit allem Nachdruck daran gehen, die noch offenen finanziellen Streitfragen zwischen Reich und Ländern auszugleichen, die auf dem Gebiet der Abfindung für die Post, Eisenbahn und Wasserstraßen, des verlorengegangenen Staatseigentums und die Biersteuer bestehen.

Die Kontrolle der öffentlichen Haushaltsführung im Reich ebenso wie in Ländern und Gemeinden hat die Reichsregierung dadurch verbessert, daß sie die Finanzstatistik ausgestaltet und dadurch die Publizität der Einnahme- und Ausgabegebarung erhöht hat. In Zukunft werden nicht nur Ausgaben und Einnahmen innerhalb des Reichs, eines Landes oder einer Gemeinde klargestellt, sondern auch die Ausgaben und Einnahmen der verschiedenen öffentlichen Körperschaften miteinander vergleichbar sein. Dadurch sollen der sachlichen Kritik gesicherte Grundlagen gegeben werden7.

[498] Die Reichsregierung hat mit allen Mitteln darauf hingewirkt, die Anleihegebarung und die Verwaltung der öffentlichen Gelder so zu gestalten, daß äußerste Zurückhaltung bei der Inanspruchnahme des Kapitalmarkts geübt und eine einheitliche Geldverwaltung erzielt wird, die das Halten von Geld in öffentlichen Kassen auf das geringste Maß beschränkt. Wie bekannt, hat das Reich gemeinsam mit der Reichsbank erst noch jüngst durch geeignete Finanzierung des preußischen Geldbedarfs verhindert, daß das Land Preußen mit einer Anleihe an den Markt herantrat.

Auf dem Gebiet der Steuern ist das Programm der nächsten Zukunft, die bisher ungenügende Kapitalbildung, die durch die Dawes-Lasten in einer auf die Dauer untragbaren Weise eingeschränkt worden ist, durch steuerliche Entlastung zu fördern. Der Reichsminister der Finanzen hat in seiner oben erwähnten Etatsrede seine finanziellen Ziele näher gekennzeichnet. Durch ihre Verwirklichung sollen gleichzeitig die Gefahren abgewandt werden, die aus einer Verlegung wirtschaftlicher Unternehmungen ins Ausland drohen. Die Erhöhung der Biersteuer und die Mehrerträge aus dem Branntweinmonopol, die notwendig waren, um die Steigerung der Dawes-Lasten im Normaljahr des Dawes-Plans auszugleichen, werden es gestatten, die Herabsetzung der Dawes-Lasten zu einer wirksamen Minderung der Steuerlast für die Wirtschaft zu nutzen. Der Absicht, einen Ausgleich der Steuerlast in der Wirtschaft zu sichern, dient auch das Steuervereinheitlichungsgesetz, das einheitliche Grundlagen für die Ländersteuern schaffen und dadurch eine größere Vergleichbarkeit der steuerlichen Lasten bringen soll. Die Widerstände, die von einzelnen Ländern gegen die Grundgedanken dieser Gesetzgebung bestanden haben, sind von der Reichsregierung im Reichsrat überwunden worden.

Der Schutz der Wirtschaft vor steuerlicher Überlastung bei Wiederaufbau im Auslande wird durch Abschluß weiterer Doppelbesteuerungsverträge in immer weiterem Umfange gesichert werden.

Eine Entlastung der Finanzen wird auch durch eine Änderung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes herbeigeführt werden mit dem Ziel, das Reich von der Notwendigkeit einer Unterstützung der Versicherungsorganisation durch Darlehen, deren Rückzahlung zweifelhaft ist, zu befreien. Ebenso hat die Reichsregierung bereits in ihrem Programm die Erstrebung von Verwaltungsersparnissen auf den verschiedenen Gebieten der Sozialversicherung angekündigt und die hierfür erforderlichen Arbeiten in die Wege geleitet. Diese Maßnahmen entsprechen der einheitlichen Auffassung des Reichskabinetts.

Auf dem Gebiete der Verwaltungsreform soll das Steuervereinheitlichungsgesetz die Zusammenlegung der Verwaltungsarbeit auf dem Gebiet der Reichs- und Landessteuergesetzgebung und die straffere Zusammenfassung der für die Steuergesetzgebung wirksamen Instanzen gewährleisten.

Im übrigen wird bereits im Rahmen der bestehenden Gesetzgebung die Verminderung des Aufwands auf das unbedingt notwendige Maß im Einvernehmen mit dem Reichssparkommissar in wachsendem Maße für das Reich und die dazu bereiten Länder durchgeführt. Der Fortfall der Dawes-Kontrollen und der damit verbundenen Organisationen wird für die Verwaltung des Reichs die Beseitigung einer nicht unwesentlichen Mehrarbeit bedeuten.

[499] Für die weitere Entlastung der Wirtschaft kann Wesentliches noch erwartet werden, wenn es gelingt, die von der Reichsregierung mit Nachdruck betriebene Vereinfachung der Staatsgestaltung und des Verwaltungsaufbaus zu fördern. Die Arbeit der Länderkonferenz ist, wie schon die bisherigen Veröffentlichungen erkennen lassen, in das Stadium der praktischen Vorschläge eingetreten. Sie werden den Ausgangspunkt für die politischen Entschließungen bilden müssen. Einzelfragen sollen vorweg gesetzgeberisch gelöst werden. Die Entwürfe dazu liegen vor. Der Entwurf eines einheitlichen Reichsverwaltungsgerichts ist vom Kabinett verabschiedet8; die Vorlage des Gesetzes über die endgültige Gestaltung des Reichswirtschaftsrats liegt dem Reichstage vor, die Arbeiten für die Zusammenfassung des noch geltenden Rechts unter Ausschaltung alles bereits Überholten sind sowohl für das gesamte Reichsrecht wie für das preußische Polizeirecht vollendet. Hinsichtlich der weltwirtschaftlichen Beziehungen ist die Regierung in Anlehnung an die Beschlüsse der Weltwirtschaftskonferenz mit dem Ausbau des Handelsvertragssystems befaßt. Sie ist im Begriff, die Beschlüsse über Ein- und Ausfuhrverbote zu verwirklichen und gleichzeitig durch autonome Senkung der in den Handelsverträgen nicht verwertbaren Zollsätze das deutsche Preisniveau an einem ungerechtfertigten Ansteigen zu verhindern.

An der Sanierung der Landwirtschaft wird die Reichsregierung durch Unterstützung dringend gebotener Umstellung der Produktion und durch Organisation des Absatzes mitwirken. Die praktische Handhabung des Schlichtungswesens wird auf Grund der in der Vergangenheit gewonnenen Erfahrungen die Anpassung der Löhne an die durch die Konjunkturentwicklung vorgezogene Linie mit Nachdruck zu erreichen suchen.

Fußnoten

1

Die Denkschrift ist nicht gezeichnet. Wahrscheinlich ist sie in der Rkei entstanden; denn StS Pünder teilte dem RK mit, daß die beteiligten Minister Hilferding, Curtius, Wissell und Dietrich ihr voll zugestimmt hätten (19.3.29; R 43 I /280 , Bl. 319). – Auf Grund der Berichterstattung am 12. 3. (Dok. Nr. 152) hatte Schacht den RK um die Zusendung der Denkschrift gebeten (13. 3.; R 43 I /280 , Bl. 309). Sie wurde ihm durch einen Kurier am 19. 3. zugesandt. Im beigefügte Anschreiben stellte der StSRkei Schacht frei, wann er die Denkschrift auf der Sachverständigenkonferenz einsetzen werde (R 43 I /280 , Bl. 318).

2

Siehe RT-Bd. 424, S. 1402  ff.

3

Siehe „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der RHO“ (RT-Drucks. Nr. 851, Bd. 434 ).

4

Das Vetorecht des RFM ist in § 32 der GO der RReg. festgelegt (später in § 21, Abs. 3 der RHO vom 14.4.30, RGBl. II, S. 693 , 776).

5

Siehe Art. 85 RV, Satz 5 im Zusammenhang mit Art. 74 insbesondere Satz 3.

6

Das war auch Schacht am 12. 3. vom RFM erklärt worden (Schäffer-Aufzeichnung in R 2 /2923 , Bl. 228-245).

7

Vgl. den „Entwurf eines zweiten Gesetzes zur Übergangsregelung des Finanzausgleichs […]“ (RT-Drucks. Nr. 1916, Bd. 441 ).

8

Die Ressorts hatten im wesentlichen Einigung über den Entwurf eines Gesetzes über das Reichsverwaltungsgericht erzielt am 20.12.28. Nur bestand noch keine restlose Übereinstimmung über dessen Zuständigkeit. Zu einer endgültigen Einigung war es noch nicht gekommen (R 43 I /988 , Bl. 255).

Extras (Fußzeile):