1.71.1 (bru2p): Fortsetzung der Aussprache über die Notverordnung und die Verlautbarung der Reichsregierung dazu.

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Fortsetzung der Aussprache über die Notverordnung und die Verlautbarung der Reichsregierung dazu.

Der Reichskanzler stellte die Frage des Nachtbackverbots und der Arbeitszeit zur Erörterung.

Für die Beratungen im Reichstage müsse Vorsorge getroffen werden. Der Antrag der SPD ginge weit. Er sei im Reichstag angenommen worden1. Ob der Reichsrat den Antrag ablehnen würde, sei ungewiß. Die Stimmen Preußens seien geteilt. Kleinere Länder seien dagegen. Auf die schwierige Lage des Reichsarbeitsministers müsse Rücksicht genommen werden.

Der Reichsarbeitsminister erklärte, daß er nicht in der Lage sei, die Ermächtigung zur Aufhebung des Nachtbackverbots mitzumachen.

Ministerialdirektor SitzlerSitzler schlug vor, die Aufhebung des Nachtbackverbots auf die Betriebe zu beschränken, die mindestens drei Schichten beschäftigen, ihren Sitz in großen Städten haben oder überwiegend Großstädte beliefern.

Nur männliche Arbeiter über 18 Jahre sollten betroffen werden.

Der Reichskanzler wünschte, daß auch die kleinen Bäcker persönlich freier gestellt würden als bisher.

Die dringenden Fragen der Wirtschaftspolitik müßten mit leitenden Persönlichkeiten des Wirtschaftslebens besprochen werden. Der Entwurf einer Veröffentlichung der Reichsregierung zur Notverordnung sei umgehend zu verfassen. Er soll dem Vizekanzler vorgelegt und dann dem Kabinett unterbreitet werden2. In diesem Entwurf müsse darauf hingewiesen werden, daß der Schrumpfungsprozeß der Wirtschaft nicht weitergehen könne. Preissenkungen seien nötig, jedoch ohne diese Entwicklung zu verstärken. Auch die Wirtschaft habe Fehler gemacht. Die Wirtschaft werde mit der Regierung zusammen arbeiten müssen, um diese Fehler zu verbessern.

[1176] Der Reichsminister des Auswärtigen regte an, erneut ein Wirtschaftsdirektorium zu schaffen, dem der Reichswirtschaftsminister, der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, der Reichsarbeitsminister und der Reichsminister der Finanzen angehören sollten. Diesem Gremium sollten etwa 12 unabhängige Persönlichkeiten aus der Wirtschaft beigegeben werden. Dadurch würde eine einheitliche Politik geschaffen, die durch das Vorgehen der verschiedenen Ressorts immer wieder gefährdet werde. Dem Wirtschaftsdirektorium könnten vom Kabinett verfassungsmäßige Befugnisse gegeben werden. Die Zersplitterung der Macht zwischen Reichs- und Landesverwaltungen müsse nach Möglichkeit beseitigt werden. Handels-, Landwirtschafts- und Gewerbekammern seien in den Dienst dieses Direktoriums zu stellen3.

Der Reichskanzler hatte gegen diesen Vorschlag keine Bedenken.

Dagegen hielt der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft es für zweckmäßig, daß das Direktorium die wichtigen Wirtschaftsfragen nur für das Kabinett spruchreif mache.

Der Reichsminister der Finanzen befürchtet, daß bei der vorgeschlagenen Regelung die Wirtschaftsführer stets die Erfolge für sich in Anspruch nehmen, Mißerfolge aber den Mitgliedern des Kabinetts zur Last legen würden. Die Durchführung sei auch politisch gefährlich. Die Arbeitnehmer würden die Beteiligung an dem Direktorium verlangen.

Der Reichskanzler schloß sich nach längerer Aussprache dem Vorschlage von Staatssekretär Dr. Trendelenburg an, daß nach seiner Rückkehr aus England der Reichspräsident an den Reichskanzler einen Brief schreiben wird, in dem er ersucht, unabhängige Persönlichkeiten aus der Wirtschaft mit der Prüfung der dringenden wirtschaftspolitischen Fragen zu betrauen4.

Der Reichspostminister hatte erhebliche Bedenken gegen die Erwähnung der Verfassungs- und Verwaltungsreform in der Veröffentlichung der Reichsregierung. Es bestände die Gefahr, daß die Mainlinie wieder in den Vordergrund träte. Er sei bereit, sich für eine Fortsetzung der Reform einzusetzen, könne aber insbesondere im gegenwärtigen Augenblick die erneute Inangriffnahme des Problems durch die Notverordnung nicht ertragen.

Der Reichsminister des Innern sprach sich in seinem Sinne aus, während der Reichsarbeitsminister die gegenteilige Auffassung sich entschieden vertrat. Die Notverordnung bedeute ein Opferprogramm und die Vorbereitung des Reparationsproblems. Dabei könne an der Staatsorganisation nicht vorbeigegangen werden. Das Kernproblem sei das Verhältnis von Reich und Preußen. Nach den preußischen Wahlen werde ein Volksentscheid hierüber nicht zu vermeiden sein. Er habe 1920 die Bestrebungen, die Rheinische Republik zu gründen, mit einer Denkschrift zerschlagen, die damals bereits für die Zusammenfassung von Reich und Preußen eingetreten sei.

[1177] Der Reichskanzler ersuchte, die Ausführungen über die Verfassungs- und Verwaltungsreform im Benehmen mit dem Reichspostminister zu formulieren.

Der Reichsarbeitsminister wünschte die Aufnahme folgender Punkte in die Veröffentlichung:

1)

Vereinfachung und Verbilligung der Güterverteilung,

2)

die Frage der Pensionen,

3)

die Doppelverdiener,

4)

die Publizität auf dem Lebensmittelmarkt,

5)

die Lockerung des Kohlenhandels,

6)

die Pfennigrechnung.

Zur Frage der hohen Pensionen schlug Staatssekretär Dr. MeissnerMeissner ein Rundschreiben an die in Betracht kommenden Persönlichkeiten vor. In diesem sollen sie ersucht werden, mit Rücksicht auf die allgemeine Notlage und die schweren Eingriffe der Notverordnung in die Bezüge der Beamten aus freien Stücken in eine entsprechende Kürzung ihrer Pensionen einzuwilligen.

Nach längerer Aussprache, in der darauf hingewiesen wurde, daß die Pensionsfrage in der öffentlichen Agitation eine außerordentlich große Rolle spiele, während sie finanziell nicht in Betracht komme, und in der rechtliche Bedenken gegen eine Sondersteuer, nicht aber für eine generelle Pensionskürzung geltend gemacht werden, wurde dem Vorschlag von Staatssekretär Meissner zugestimmt.

Das Kabinett war nach längerer Aussprache in seiner Mehrheit damit einverstanden, daß der Reichsminister der Finanzen die Bezieher der höchsten Pensionen in einem Schreiben ersucht, sich aus freien Stücken den gleichen Abzügen zu unterwerfen, wie sie für die entsprechenden aktiven Gehälter festgesetzt wären5.

Auf Vorschlag von Staatssekretär Dr. PünderPünder wurde beschlossen, einen neuen Entwurf der Veröffentlichung unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Aussprache in kleinem Gremium zu verfassen. Der Entwurf soll dem Vizekanzler und dann nötigenfalls dem Kabinett vorgelegt werden.

Fußnoten

1

Es handelt sich wahrscheinlich um den Antrag der SPD vom 23.3.31, die Arbeitszeit jugendlicher Arbeiter auf 40 Wochenstunden zu begrenzen (RT-Bd. 450 , Drucks. Nr. 986 ), der vom RT am 25.3.31 (RT-Bd. 445, S. 2000 ) angenommen worden war. Auf dem Leipziger Parteitag der SPD hatte Fritz Tarnow am 1.6.31 die Forderung nach der 40-Stunden-Woche wiederholt (Schultheß 1931, S. 118).

2

Vgl. Dok. Nr. 326.

3

Laut Tagebucheintragung des StS Schäffer vom 3.6.31 wollte der RAM „die Wirtschaftsminister (der Länder) und die 12 Leute der Wirtschaft zu einem Direktorium vereinigen mit dem Ziel, Maßnahmen ‚diktatorisch vorzuschlagen‘“ (IfZ, ED 93, Bd. 11, Bl. 182).

4

Zur Konstituierung des Wirtschaftsbeirats s. Dok. Nr. 515, P. 1. Der Briefwechsel zwischen RPräs. und RK über die Berufung des Wirtschaftsbeirats befindet sich in R 43 I /1165 , Bl. 15–17; vgl. auch Schultheß 1931, S. 230.

5

Der RFM hat ein derartiges Schreiben nicht verschickt: s. Dok. Nr. 339, P. 5.

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