2.100 (lut1p): Nr. 100 Der Reichskanzler an den Reichspräsidenten. 9. Juni 1925

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Nr. 100
Der Reichskanzler an den Reichspräsidenten. 9. Juni 1925

R 43 I /1242 , S. 397-400 Entwurf

[Amnestie]

Hochgeehrter Herr Reichspräsident!

Zu dem mir persönlich übergebenen Briefe des Herrn Abgeordneten v. Graefe-Goldebee1 betreffend Amnestie beehre ich mich zu berichten, daß das Reichskabinett sich in seiner Sitzung vom 6. Juni d. J. mit dem Erlaß einer Amnestie eingehend beschäftigt hat2. Bevor ein Gesetzentwurf an den Reichsrat und an den Reichstag gehen kann, soll zunächst nochmals mit sämtlichen Reichstagsfraktionen außer mit den Kommunisten Fühlung genommen werden. Das wird morgen, Mittwoch, den 10. Juni, geschehen3.

[322] Der Wunsch des Herrn Abgeordneten v. Graefe-Goldebee geht im einzelnen auf Amnestierung auch der sogenannten Hitler-Putschisten. Hierzu ist zu bemerken, daß diese durch die Reichsamnestie schon um deswillen nicht erfaßt werden können, weil ihre Verurteilung durch bayerische Volksgerichte erfolgt ist, während der Entwurf nur Erlaß von Strafen vorsieht, die von Gerichten des Reichs verhängt worden sind. Eine Ausdehnung der Reichsamnestie auf Urteilssprüche, die von Landesgerichten ergangen sind, würden die Länder als einen Eingriff in ihre Justizhoheit ansehen, auf deren ungeschmälerte Aufrechterhaltung sie nachdrücklich bedacht sind4. Den sogenannten Hitler-Putschisten könnte demgemäß Straferlaß nur durch eine Sonderamnestie der Bayerischen Regierung gewährt werden. Wie weit die Bayerische Regierung in der Gewährung der von ihr geplanten Amnestie gehen will, ist noch nicht bekannt5. Wenn die Bayerische Regierung sich an die Bestimmungen hält, wie sie in dem Entwurf eines Reichsgesetzes vorgesehen sind, würde sie Straferlaß nur für die noch nicht verbüßten Strafen gewähren, soweit der noch nicht verbüßte Strafrest höchstens Geldstrafe oder Haft, oder einjährige Festungshaft, oder einjähriges Gefängnis allein oder nebeneinander beträgt.

Wie Ihnen, Herr Reichspräsident, bekannt sein wird, schwebt im Zusammenhang mit dem sogenannten Hitler-Putsch auch gegen den Abgeordneten von Graefe-Goldebee ein Strafverfahren, und zwar vor dem Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik. Dieses Verfahren ist noch nicht abgeschlossen, eine mündliche Verhandlung hat noch nicht stattgefunden. Das Verfahren würde nach dem vom Reichsjustizministerium aufgestellten Entwurf nicht niedergeschlagen werden können, da die Straftat des Abgeordneten von Graefe am 9. November 1923, also nach dem Stichtage des 1. Oktober begangen worden ist, der für Niederschlagung noch nicht abgeschlossener Verfahren vorgesehen ist.

Über den Stichtag des 1. Oktober 1923 hinauszugehen, also durch Niederschlagung auch Straftaten zu amnestieren, die nach diesem Zeitpunkt begangen sind, hegt insbesondere der Herr Reichsminister der Justiz die schwersten Bedenken, die ich teile. Der Oktober 1923 erscheint ihm insofern als ein besonders geeigneter Zeitpunkt, als Ende September der Ruhrkampf eingestellt war und Anfang Oktober durch Erlaß des Ermächtigungsgesetzes die Grundlagen für die Stabilisierung der Währung geschaffen waren. Ferner aber kann an dem Umstand nicht vorübergegangen werden, daß im Oktober 1923 der[323] Kommunistenaufstand in Hamburg vor sich ging, der ein Akt von höchster Staatsgefährlichkeit war. Ich darf daran erinnern, daß damals die Kommunisten nach einem überlegt aufgestellten Plan sich einer ganzen Reihe von Polizeistationen Hamburgs mit Gewalt bemächtigt hatten. Der Herr Reichsminister der Justiz erachtet es nicht für angängig, die noch nicht verurteilten Teilnehmer dieses Aufstandes, die das Staatsgefühl aufs schwerste erschüttert hätten, für straffrei zu erklären. Weiter führt der Herr Reichsminister der Justiz an, daß bald nach dem 1. Oktober Vorbereitungshandlungen für hochverräterische Unternehmungen in ganz Deutschland begangen worden seien, wegen derer das Verfahren vor dem Staatsgerichtshof seit langer Zeit schwebe. Auch diese Unternehmen werden vom Herrn Reichsminister der Justiz und dem Herrn Oberreichsanwalt als derart gefährlich betrachtet, daß eine Amnestierung der hier Schuldigen mit dem Staatsinteresse nicht vereinbar erscheine.

Zum Schluß darf ich mir die ergebenste Bemerkung gestatten, daß die Unterrichtung der Parteiführer morgen eine streng vertrauliche ist, an der die verschiedenen völkischen Gruppen nach einem seit langer Zeit geübten Brauch deshalb nicht beteiligt sind, weil keine von ihnen Fraktionsstärke hat.

Ich wäre Ihnen daher besonders dankbar, wenn Sie, hochverehrter Herr Reichspräsident, bei der geplanten Unterredung mit dem Abgeordneten von Graefe auf die Einzelheiten des Gesetzentwurfs nicht eingingen.

Mit der Versicherung meiner ausgezeichnetsten Hochachtung und aufrichtigsten Verehrung habe ich die Ehre zu sein, hochverehrter Herr Reichspräsident,

Ihr ganz ergebener6

L[uther]

Fußnoten

1

S. Anm. 6.

2

S. Dok. Nr. 97, P. 1.

3

S. Dok. Nr. 103, P. 1, dort bes. Anm. 2.

4

S. Dok. Nr. 84, Anm. 5. Über den bayer. Standpunkt hatte RegR Wallraf am 28. 5. aus München berichtet: „Staatsrat Schmelzle […] erklärte, es sei zu befürchten, daß der Reichstag für den Fall, daß die Länder sich über den Umfang der von ihnen zu erlassenden Amnestie nicht einigen könnten, die Reichsregierung zwingen würde, die von ihr geplante Amnestie auch auf Urteile der Landesgerichte auszudehnen. Das bedeute aber einen der tiefsten Eingriffe in die der Landesregierung belassenen Rechte. Aus den Worten von Staatsrat Schmelzle war zu entnehmen, daß, falls die Amnestiefrage so gelöst wird, wie sie z. Zeit von der Reichsregierung geplant ist, sie sich also nur auf Urteile von Gerichten des Reichs erstrecken wird, daß dann […] irgendwelche nachteiligen Folgen hinsichtlich der Beziehung zwischen Bayern und Reich nicht zu befürchten sind.“ Einen ähnlichen Standpunkt habe, so fügte Wallraf abschließend hinzu, bei anderer Gelegenheit auch der bayer. Justizminister Gürtner eingenommen (R 43 I /2237 , Bl. 293-295).

5

S. Dok. Nr. 143.

6

Etwa in Höhe der Grußformel auf dem Rand des Entwurfs der maschinenschrl. Hinweis: „Den Brief des Herrn Abgeordneten v. Graefe füge ich wieder bei.“

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