1.194.1 (lut2p): [Flaggenfrage]

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 17). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Luther I und II (1925/26), Band 2.Das Kabinett Luther I Bild 102-02064Reichspräsident Friedrich Ebert verstorben Bild 102-01129Hindenburgkopf Bild 146-1986-107-32AStresemann, Chamberlain, Briand Bild 183-R03618

Extras:

 

Text

RTF

[Flaggenfrage]

Kü[lz]1a berichtet: Keine Mehrheit für Sozi[aldemokraten] und Demokraten2. Schwierig dadurch, daß ich als demokratischer Minister demissionieren muß. Wenn Reichspräsident und Reichskanzler sagen: Sie sollen bleiben, dann würde ich bleiben. Dadurch aber nicht entspannt, nächstens wieder bei derselben Sache. Ich persönlich neige dazu, daß eine Gesamtdemission des Kabinetts vor dem Plenum das Würdigste ist. Dann geschäftsführendes Ministerium und ruhige Überlegung.

Brauns: Demokratische Beschlüsse bestimmen die politische Situation. Das Gute, daß wir aus einer Präsidentenkrise heraus sind3. Politische Krise. Für[1364] viele die Flaggenkampagne nur Vorwand, um den politischen Hebel anzusetzen. Wir leiden eben darunter, daß wir eine Minderheitsregierung sind. Die Situation für den Herrn Reichskanzler in erster Linie und für das Kabinett mit ihm unhaltbar geworden. Bleiben der beiden demokratischen Minister4 würde kaum das Arbeiten ermöglichen. Sehe keine Möglichkeit zu regieren. Wir müssen daher demissionieren. Unmöglich vor Pfingsten [23./24. 5.] eine neue Regierung. Daher nur möglich, [daß der] Reichspräsident die verbleibenden Minister [mit der Weiterführung der Geschäfte beauftragt?]. Herrn Reichskanzler kaum zumuten, diese Geschäfte selbst weiterzuführen. Dann einen der Minister mit der Stellvertretung des Reichskanzlers beauftragen. Ich würde vorschlagen Herrn Stresemann. Eine andere Lösung, Verbleiben des Ministeriums, sehe ich nicht. Rechts oder große Koalition nicht möglich. Rechts würde für Zentrum nicht möglich [sein].

Rei[nhold]: Aus denselben Gründen wie Brauns Gesamtdemission vor dem Reichstag. Aber ganz neuer Gedanke. Gar nicht zweckmäßig, nicht den Kanzler [mit der Fortführung der Geschäfte zu beauftragen?]. Ich würde meine persönlichen Entscheidungen nicht von meiner Partei, sondern von der Ansicht des Kabinetts abhängig machen.

Cu[rtius]: Keine Notwendigkeit für vorherigen Rücktritt. Wenn wir trotzdem zurücktreten, etwas wie Fahnenflucht und Kapitulation vor dem Reichstag. Zwei Hälften bei den Demokraten5. Wir dürfen gar nicht demissionieren, sondern nur dann, wenn der Reichstag uns stürzen sollte. Dieser ist aber so aktionsunfähig, daß er hinter den Kulissen schiebt, aber zum Sturz nicht den Mut aufbringt. Katastrophal auch für Volksabstimmung, vorher sehr übel, vielleicht dann 25 Millionen6. Wir müssen daher bis zum äußersten zusammenhalten, ruhig alle im Amt bleiben, auch die Demokraten. Doch nur Verlegungsmißtrauen7 der Demokraten, denn warum nicht Anschluß an die Sozialdemokraten? Ganz undenkbar aber Reichskanzler allein Geschäfte niederlegen. Wir stehen so hinter ihm, daß wir ihn nicht im Stich lassen dürfen.

Sti[ngl]: In jedem Wort anschließen an Cu[rtius]. Ganz unmöglich, Reichskanzler als Person und Führer fallenlassen. Noch gestern Einmütigkeit8. Auch die Demokraten-Minister müssen bleiben. Koalition nach links oder rechts nicht möglich. Die beiden Herren bekannt als Männer eigener Meinung und großen Ansehens.

Ma[rx]: Ich würde den Herren recht geben, wenn es sich um einen gewöhnlichen Fall der Krisis handelt. Aber ein Regierungspartei-Mißtrauen. Ablauf[1365] im Reichstag: von den Mißtrauensvoten wird keins angenommen. Trotzdem aber die Arbeitskraft des Kabinetts ganz         9. Aufwertung geht sicher entzwei10. Wenn wir jetzt zuvor das Amt niederlegen, wird jeder verstehen.

Kro[hne]: Cu[rtius] und Sti[ngl] ganz entschieden gegen jede Demission.

Stre[semann]: Unser Volkspartei-Vorschlag, die beiden Demokraten sollen bleiben. Selbstverständlich sehr unerwünscht, aber wer soll kommen bei Rücktritt? Verhalten über die Demokraten ungeheure Empörung11. Wider besseres Wissen aufgebauscht. Daher sehe ich die Möglichkeit nicht, wie die Mittelparteien sich wieder zusammenfinden sollten. International unmöglich, dann die Pläne eines Rechtsputsches, wenn keine Autorität im Reiche bleibt. Geradezu unsere Pflicht zu bleiben, selbst wenn wir gewisse Demütigungen hinnehmen sollten. Eventuell später Rücktritt, ohne parlamentarisch dazu gezwungen zu sein. Ferner [sollte man] kein[en] Präzedenzfall [dadurch schaffen], daß im Falle der Geschäftsführung nicht der bisherige Kanzler [beauftragt wird]. Den Mann [sollte man nicht?] desavouieren, der die deutsche Währung geschaffen. Ferner ich für die Flaggenverordnung doch ebenso verantwortlich wie der Kanzler12. Für mich unerträglich. Daher neue Beratungen in den Fraktionen.

R[eichs]k[anzl]er: Keine persönlichen Gesichtspunkte. Nichts anderes als abwarten, ob ein Mißtrauensvotum kommt. Dann erneute Beratungen, namentlich auch zu meiner Person.

Brauns: Wenn der Herr Reichskanzler den Gang dieses Rummels abwarten will, müssen wir uns fügen, da dies wohl der Herr Reichskanzler selbst entscheiden muß. Ich suche nach einem Ausweg, aber Beibehalten des gegenwärtigen Kabinetts führt uns nicht weiter.

Ma[rx]: Die anderen Herren sehen die Lage rosiger an als sie ist. Noch nie diese Stimmung gegen ein solches Kabinett. Gestern große Mühe gehabt, um gestern zu erreichen, daß sie einstimmig beschließt, gegen das Mißtrauensvotum zu stimmen13. Wenn wir jetzt den Kampf aufnehmen, dann wird die Lage anders sein: beim Zentrum wird das jedenfalls sehr aufreizend wirken.

Kü[lz]: Mit dem Reichstag können wir auf die Dauer nicht arbeiten, daher ich ressortmäßig vor [Art.] 48 [der RV] nicht scheuen. Eine gute Parole wäre eine Einheitsflagge.

Stre[semann]: Ich sehe das neue Kabinett nicht, daher müssen wir bleiben. Aber dieses Bleiben soll kein Kampf gegen den Reichstag sein.

[1366] Brauns: Auch wenn wir keinen Kampf wollen, kommen wir in den Kampf hinein, z. B. bei der Erwerbslosenfürsorge14.

R[eichs]k[anzl]er: Alle Anträge nur gegen den Kanzler.

Kü[lz]: Koalition an sich nicht mehr vorhanden. Aber unterordnen meiner Ansicht unter die der Mehrheit.

Cu[rtius]: Lage seit gestern sehr wenig verändert. Doch Zentrum und Demokraten gegen das große Mißtrauensvotum der Sozialdemokraten. Nur das kleine Mißtrauensvotum der Demokraten mit 16 gegen 14 Stimmen ist dazugekommen. Also abwarten.

Ma[rx]: Wenn der Reichskanzler abwarten will, bescheide ich mich damit.

Rei[nhold]: Ich füge mich gleichfalls. Demokratischer Beschluß auf Antrag des Führers15 Mißtrauens[votum] fast gleich zu gleich. Darauf erklärte der unterlegene Teil, daß er sich nicht füge. Darauf der Führer: nicht Zustimmung zu den Sozialdemokraten, sondern einheitliches kleines Mißtrauensvotum16. Jedenfalls jetzt scharfer einheitlicher Schnitt zwischen Demokraten und Reichskanzler.

R[eichs]k[anzl]er: Wenn ich jetzt gehe vor [der] Entscheidung, muß [das] bei[m] Reichspräsidenten Eindruck erwecken, daß ich mich vorher der Verantwortung entzogen habe. Sieht aus, als [ob] ich mich durch eine Hintertür entferne; ich denke gar nicht daran; ich desavouiere nicht den Herrn Reichspräsidenten.

Br[auns]: Ich bin anderer Meinung, aber ich füge mich. Daher wohl zweckmäßig eine Stunde nach Reichstagsabstimmung17 Kabinett.

Fußnoten

1a

Die Namen der Redner sind im Stenogramm langschriftlich – abgekürzt oder ausgeschrieben – verzeichnet.

2

Gemeint ist wohl, daß weder der Mißtrauensantrag der SPD vom 6. 5. (RT-Drucks. Nr. 2269, Bd. 408 ) noch der allein gegen das Vorgehen Luthers gerichtete Mißbilligungsantrag der DDP vom 12. 5. (RT-Drucks. Nr. 2284 Ziffer 2, Bd. 408 ) eine Mehrheit finden werde. Worauf sich diese Lagebeurteilung stützen könnte, ist nicht klar ersichtlich. Möglicherweise geht Külz davon aus, daß die DNVP, die in der Flaggendebatte des RT am 11. 5. eine gegenüber Luther zwar deutlich mißtrauische, in der Sache aber unentschiedene Haltung eingenommen hatte, gegen beide Anträge stimmen werde.

In der RT-Debatte des 11. 5. hatte Luther zum weiteren Vorgehen in der Flaggenfrage erklärt, die RReg. betrachte es als selbstverständliche Pflicht, die VO des RPräs. vom 5. 5. durchzuführen. „Die Durchführung erfordert aber aus mancherlei praktischen Gründen erfahrungsgemäß eine gewisse Zeit, zumal vermieden werden soll, daß in der Zwischenzeit irgendwelche Uneinheitlichkeiten hinsichtlich der Durchführung eintreten. Die erste Flaggenverordnung datierte vom 11. April 1921 [RGBl., S. 483 ] und trat erst am 1. Juli 1921 in Kraft. Übereinstimmend damit wird die neue Flaggenverordnung spätestens Ende Juli allgemein durchgeführt sein.“ Die RReg. sei aber ebenso entschlossen, sich mit allen Kräften für die Durchführung der Anregungen des Reichspräsidentenbriefes vom 9. 5. einzusetzen. Sollten die verfassungsmäßigen Instanzen „bis zu dem vorgenannten Zeitpunkt das vorgesteckte Ziel eines versöhnlichen Ausgleichs in der Flaggenfrage erreichen, so würde selbstverständlich die Verordnung zu existieren aufhören“ (RT-Bd. 390, S. 7168  und 7182 f.). Vgl. auch Anm. 13 zu Dok. Nr. 361.

3

Die DDP-Fraktion hatte am Nachmittag des 11. 5. einstimmig beschlossen, im RT eine Resolution folgenden Inhalts einzubringen: „Der Reichstag begrüßt die von dem Herrn Reichspräsidenten in seinem Schreiben an den Herrn Reichskanzler gegebene Anregung, alle Kräfte zur Schaffung der Einheitsflagge im versöhnenden Sinne einzusetzen.“ Die Resolution wird am 12. 5. angenommen (RT-Drucks. Nr. 2284 Ziffer 1, Bd. 408  und RT-Bd. 390, S. 7217  f.). Vgl. unten Anm. 16.

4

Külz und Reinhold.

5

Vgl. unten Anm. 16.

6

Gemeint ist der bevorstehende Volksentscheid über den GesEntw. betr. Enteignung der Fürstenvermögen. Vgl. Anm. 10 und 12 zu Dok. Nr. 343.

7

So nach dem stenografischen Wortbild; vermutlich Schreibfehler statt „Verlegenheitsmißtrauen“.

8

Unterlagen über Besprechungen der RReg. am 11. 5. nicht ermittelt.

9

Fehlendes Wort unleserlich, stenografisch ähnlich wie „vernichtet“.

10

Marx befürchtet offenbar einen Erfolg des Sparerbundes, der sich seit April 1926 um Zulassung eines Volksbegehrens in der Aufwertungsfrage bemüht. Zum GesEntw. des Sparerbundes s. Anm. 4 zu Dok. Nr. 327; vgl. auch Dok. Nr. 332 und 348, P. 1, dort bes. Anm. 3.

11

Dieser Satz so im Stenogramm; er dürfte gelautet haben: „Über das Verhalten der Demokraten herrscht ungeheure Empörung.“

12

Vgl. Dok. Nr. 339, dort auch Anm. 8 und Dok. Nr. 354.

13

Marx berichtet offenbar über die Sitzung der Zentrumsfraktion vom 11. 5. Dabei wurde die Einbringung eines eigenen Antrages zur Lösung der Flaggenfrage (vgl. Anm. 12 zu Dok. Nr. 361) beschlossen. S. Die Protokolle der Reichstagsfraktion und des Fraktionsvorstandes der Deutschen Zentrumspartei 1926–1933, Dok. Nr. 39.

14

Vgl. Dok. Nr. 355, P. 1.

15

Koch-Weser.

16

Es handelt sich um die Sitzung der DDP-Fraktion vom 11. 5. Über ihren Verlauf berichtet Koch-Weser in einer undatierten, nicht abgesandten Denkschrift an den Fraktionsvorstand: „Ein nach langer Debatte von mir formulierter Beschluß enthält 3 Ziffern. In der zweiten Ziffer sollte mit näherer Begründung Luther unsere Mißbilligung ausgedrückt [vgl. oben Anm. 2] und in der dritten erklärt werden, daß er unser Vertrauen nicht mehr besitze. Auf der anderen Seite hielt ich es für richtig, in der ersten Ziffer mich zum Versöhnungsgedanken des Reichspräsidenten zu bekennen und eine besondere Resolution in diesem Sinne einzubringen [vgl. oben Anm. 3], zumal sie auch die Deutschnationalen vor eine harte Entscheidung stellen werde.“ Von diesen Anträgen sei der erste einstimmig, der zweite mit 16 gegen 13 und der dritte mit 15 gegen 13 Stimmen angenommen worden. „Ich habe nun alsbald versucht, eine Einigung zwischen den beiden Gruppen herbeizuführen, da es mir unmöglich schien, einen Fraktionszwang auszuüben und da ich auf der anderen Seite nicht für eine gespaltene Fraktion reden konnte. Diese Einigung gelang in der Form, daß ich auf den dritten Antrag verzichtete und mich mit dem zweiten begnügte unter der Voraussetzung, daß ich in meiner Rede ausdrücklich erklären dürfe, daß ich eine weitere Zusammenarbeit mit Luther für unmöglich hielte.“ Außerdem sei sich die Fraktion darin einig gewesen, daß sie gegen den Mißtrauensantrag der SPD stimmen werde (Nachlaß Koch -Weser, Bd. 34).

17

In der unmittelbar anschließenden RT-Sitzung wird der Mißbilligungsantrag Koch-Weser u. Gen. (vgl. oben Anm. 2) mit 177 Stimmen von SPD, KPD und DDP gegen 146 Stimmen von Zentrum, DVP, WV und BVP bei 103 Enthaltungen (DNVP und VA) angenommen. Abgelehnt werden die Mißtrauensanträge v. Graefe u. Gen. (RT-Drucks. Nr. 2277, Bd. 408 ) und Müller-Franken u. Gen. (vgl. oben Anm. 2) (RT-Bd. 390, S. 7217  ff.).

Extras (Fußzeile):