1.104 (lut2p): Nr. 273 Aufzeichnung des Reichskanzlers über eine Besprechung mit den Reichstagsabgeordneten Graf Westarp und Schiele zum Mißtrauensantrag der DNVP am 28. Januar 1926 beim Reichspräsidenten

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Nr. 273
Aufzeichnung des Reichskanzlers über eine Besprechung mit den Reichstagsabgeordneten Graf Westarp und Schiele zum Mißtrauensantrag der DNVP am 28. Januar 1926 beim Reichspräsidenten1

Nachlaß Luther 362

Zu heute vormittag 10 Uhr hatte mich der Herr Reichspräsident gemeinschaftlich mit den Herren Graf Westarp und Schiele zu sich gebeten. Ich habe den Herren in der Erörterung dargelegt, daß meine gestrige Forderung eines positiven Vertrauensvotums die unabweisliche Folge der Einbringung eines[1064] unmotivierten Mißtrauensvotums der Deutschnationalen2 gewesen sei3. Herr Schiele gab mir das ausdrücklich zu, ohne daß Graf Westarp widersprach. Ich habe darauf erwidert, daß ich es für möglich gehalten hätte, die Regierung zu führen, wenn etwa von deutschnationaler Seite ein außenpolitisch motiviertes Mißtrauensvotum und von der entgegengesetzten Seite ein unmotiviertes Mißtrauensvotum eingebracht worden wäre und diese Mißtrauensvoten umschichtig der Ablehnung verfallen wären. Den Hauptgesprächsgegenstand bildete die Frage meiner Stellungnahme zu dem Eintritt in den Völkerbund. Graf Westarp faßte am Schluß der Unterredung meine Stellungnahme durchaus zutreffend etwa folgendermaßen zusammen:

Ich hätte erklärt, daß ich hinsichtlich des Eintritts selbst zur Zeit eine unmittelbare Verbindung nur sähe mit der Frage der Besatzungsstärke in der zweiten und dritten Zone und der Räumung der Kölner Zone (dabei hatte ich vorher an einem ausführlichen Beispiel darauf hingewiesen, daß ich mir eine Sachlage denken könnte, wo überwiegend deutsche Interessen an baldiger Einnahme eines Sitzes im Völkerbundsrat mich nötigen würden, das Eintrittsgesuch4 selbst dann abzuschicken, wenn die Kölner Zone noch nicht völlig geräumt sei, ihre Räumung aber als völlig unzweifelhaft erscheine).

Im übrigen hatte ich darauf hingewiesen, daß natürlich noch Zwischenfälle eintreten könnten, z. B. in der Investigationsfrage5 und in der Frage der Luftfahrt6, die mich hindern würden, das Eintrittsgesuch abzusenden, daß ich aber Zwischenfälle von solchem Gewicht zur Zeit nicht sähe.

Graf Westarp hat dann weiter richtig zusammengefaßt, daß außer diesen sehr taktischen Einzelerörterungen ein doppelter grundsätzlicher Unterschied mich von der Deutschnationalen Partei trenne, nämlich 1. die Auffassung, daß wir politisch nicht mehr frei seien, ob wir den Eintritt in den Völkerbund beschließen wollten oder nicht, daß wir insbesondere politisch nicht die Möglichkeit hätten, an bisher nicht ausdrücklich aufgestellten Bedingungen den Eintritt zu knüpfen. Der 2. grundsätzliche Unterschied sei meiner Auffassung nach, daß[1065] wir die deutschen Interessen stärker im Völkerbund vertreten könnten als durch Fernhaltung vom Völkerbund, während die Deutschnationale Partei die umgekehrte Auffassung habe.

Ich habe diese Feststellung des Grafen Westarp als zutreffend bezeichnet; meinerseits habe ich dann noch darauf hingewiesen, daß es an sich zwei Gesichtspunkte gäbe, die hinsichtlich des Eintritts in den Völkerbund nebeneinander herliefen: Der eine sei eine gewisse Ideologie und der andere meiner Überzeugung nach, daß die nationalen Belange am stärksten durch Beitritt in den Völkerbund vertreten werden können. Ich habe die Herren darauf aufmerksam gemacht, daß m. E. die positive Mitwirkung der deutschnationalen Partei, wenn auch jetzt selbstverständlich nicht als Teilhaber an der Regierung, sehr stark dahin wirken könnte, den zweiten Gesichtspunkt in seiner Wirksamkeit zu unterstreichen.

Im Laufe des Gesprächs habe ich besonders auf den Umstand hingewiesen, daß Graf Westarp in seiner gestrigen Rede, so wie ich sie verstanden hätte, ausgeführt habe, die Deutsche Regierung habe vor Locarno die Bedingung einer Verkürzung der Besetzungsfristen als solche gestellt7, während, wie ich schon vor längerer Zeit dem Grafen Westarp unter vertraulicher Vorlegung des Kabinettsbeschlusses einmal dargelegt hatte, tatsächlich nur beschlossen worden war, auf eine solche Verkürzung hinzuwirken8. Ich habe Graf Westarp darauf aufmerksam gemacht, wie überaus schwierig es sei, die Aufklärung über diesen Punkt in der Öffentlichkeit zurückzuhalten gegenüber Darstellungen, wie er sie gestern gemacht habe, während es doch offenkundig sei, daß es die deutsche Stellung doch nicht gerade stärken würde, wenn wir bekanntgäben, daß wir von vornherein, auch in den internen Kabinettsbeschlüssen, nur von einem „Hinwirken“ gesprochen haben.

Graf Westarp erwiderte, er habe sich in seiner Rede sehr vorsichtig über den Punkt ausgedrückt, um eine solche Auffassung, wie ich sie hätte, auszuschließen. Er wolle aber das Stenogramm noch einmal durchsehen.

Auf einen abschließenden dringenden Wunsch des Herrn Reichspräsidenten, doch einen Weg zu finden, um nicht von vornherein der neuen Regierung das Vertrauen zu verweigern, erklärten die Herren Graf Westarp und Schiele, daß sie das nicht würden erreichen können. Graf Westarp sagte ausdrücklich,[1066] daß er es auch von sich aus nicht betreiben könne, da die Unterredung keine Anhaltspunkte dafür geboten habe, daß der Reichskanzler im Sinne des deutschnationalen Antrages den Eintritt in den Völkerbund von Bedingungen abhängig machen wolle.

Nachmittags 1 Uhr habe ich den Inhalt dieses Gesprächs, soweit er meine Stellungnahme über das außenpolitische Verfahren betrifft, Herrn Minister Stresemann mündlich mitgeteilt, um festzustellen, ob nicht etwa noch etwas Ergänzendes, für die Deutschnationalen Wertvolles hinzugefügt werden könnte. Herr Minister Stresemann hat mir erklärt, daß meine Schilderung des Tatbestandes durchaus zutreffend gewesen sei und er nichts hinzuzufügen wisse.

Fußnoten

1

Die vom 28. 1. datierte Aufzeichnung ist nicht unterschrieben, aus ihrem Inhalt geht jedoch zweifelsfrei hervor, daß Luther der Verfasser war.

2

Mißtrauensantrag der DNVP vom 27. 1. (RT-Drucks. Nr. 1796, Bd. 406 ). S. auch Anm. 8 zu Dok. Nr. 274.

3

Luther hatte in der RT-Debatte über die Regierungserklärung am 27. 1. ausgeführt: „Die Regierung hat sich zusammengefunden, nachdem und weil Bildungen von Mehrheitsregierungen nicht möglich gewesen sind. Irgendwie muß Deutschland regiert werden. […] Hier steht eine Minderheitsregierung. Ich weiß so gut wie Sie alle, daß man mit der Minderheit als solcher nicht regieren kann, sondern daß man immer eine Mehrheit braucht.“ In dieser Richtung müsse nun die Entscheidung fallen; denn es sei unmöglich, daß die Regierung in dieser schweren Zeit ihre Arbeiten „auf den Hintertreppen abgelehnter Mißtrauensvoten“ übernehme. Er müsse daher in Übereinstimmung mit seinen Kabinettskollegen erklären, „daß wir auf eine positive Vertrauenskundgebung nicht verzichten können“. Man wolle keine Regierung sein, „die geduldet ist, sondern eine Regierung, die vom Reichstag getragen wird, und allein auf dieser Grundlage werden wir die Arbeiten aufnehmen und durchführen“ (RT-Bd. 388, S. 5171 ). – Seitens der Koalitionsparteien (Zentrum, DVP, DDP, BVP) wurde daraufhin noch am gleichen Tage ein Vertrauensantrag für die neue Reg. eingebracht (RT-Drucks. Nr. 1799, Bd. 406 ). S. dazu auch Anm. 8 zu Dok. Nr. 274.

4

S. Dok. Nr. 284.

5

S. Dok. Nr. 264, dort auch Anm. 1.

6

S. dazu Dok. Nr. 260.

7

Graf Westarp hatte im betr. Teil seiner RT-Rede auf einen Antrag der DNVP vom 23. 1. hingewiesen, der den RT ersucht, dem dt. Völkerbundseintritt nur nach Erfüllung folgender Voraussetzungen zuzustimmen: 1) Anerkennung der dt. Auslegung des Locarnopakts (kein Verzicht auf dt. Land) durch Vertragspartner und Völkerbund. 2) Fortfall der Luftfahrtbeschränkungen und der Investigationsbeschlüsse. 3) „Widerruf des Deutschland im Versailler Vertrag abgepreßten Schuldbekenntnisses“, unparteiische internationale Untersuchung der Schuldfrage. 4) Erfüllung der „Rückwirkungen“ im bes. Gebiet, wesentliche Abkürzung der Besetzungsfristen (RT-Drucks. Nr. 1779, Bd. 406 ). Westarp hatte hinzugefügt: Dies seien Forderungen, auf deren Inhalt sich „die damalige Regierung im wesentlichen geeinigt, die sie in ihre Richtlinien aufgenommen hatte“ (RT-Bd. 388, S. 5162  f.). – Der Antrag der DNVP wird am 28. 1. an den Auswärtigen Ausschuß verwiesen (RT-Bd. 388, S. 5230 ), der ihn am 3. 2. für erledigt erklärt. Vgl. Anm. 2 zu Dok. Nr. 284.

8

Vgl. die vom Kabinett am 2.10.25 angenommenen „Richtlinien für die Ministerzusammenkunft in Locarno“ (Anm. 24 zu Dok. Nr. 170).

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