1.46 (lut2p): Nr. 215 Stellungnahme zu den Notizen des Reichspräsidenten für die Vorarbeiten zur Londoner Konferenz

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Nr. 215
Stellungnahme zu den Notizen des Reichspräsidenten für die Vorarbeiten zur Londoner Konferenz1

R 43 I /429 , Bl. 98-107

Zu 1: Bei der Frage eines sogenannten Verzichts durch den Vertrag von Locarno kann es sich auch theoretisch immer nur um einen moralischen Verzicht handeln, da die abgetretenen Gebiete sich zur Zeit nicht in deutschem Besitz befinden. Der eigentliche Verzicht, die Abtretung, ist durch den Vertrag von Versailles erfolgt. Ein moralischer Verzicht ist aber in dem Artikel nicht ausgesprochen. Die Vertragsmächte verzichten vielmehr nur darauf, durch Krieg, Einfall und andere kriegsähnliche Handlungen eine gewaltsame Änderung der Grenze herbeiführen zu wollen. Das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Volksteile, wie überhaupt jede andere mögliche Art einer friedlichen Entwicklung mit dem Ziel einer Grenzänderung ist durch den Artikel 1 in keiner Weise ausgeschlossen.

Dieser allein möglichen Auslegung, die vom Reichskanzler und Außenminister mehrfach in öffentlichen Kundgebungen gegeben wurde2, ist bisher von keiner ausländischen Seite entgegengetreten worden.

Zu 2: Richtig ist, daß Art. 6 formell die Rechte und Pflichten der Vertragsmächte von Versailles unberührt läßt, aber auch die deutschen Rechte und die[828] ausländischen Pflichten. Es ist daher richtig, daß formal auch die Art. 227 und 228 des Versailler Vertrages aufrechterhalten sind. Daß beide Artikel keinerlei praktische Bedeutung mehr haben, bedarf keinerlei Ausführung. Die Vertragsgegner von Locarno haben auch zugesichert, daß sie bis in die letzte Zeit noch geübte Kontumazial-Urteile nicht mehr ergehen lassen werden3.

Grundsätzlich ist hier zu berücksichtigen, daß es sich in Locarno nicht darum handelte und nicht darum handeln konnte, den Vertrag von Versailles aufzuheben oder aufzukündigen. Die Forderung der Aufhebung des Vertrags oder ganzer Vertragsteile ist von uns bei den Vorerörterungen nicht gestellt worden. Sie konnte auch nicht gestellt werden, da sie nach der ganzen politischen Lage der Welt nicht nur das Scheitern der Verhandlungen bedeutet, sondern Deutschland die schroffe Zurückweisung des Verlangens eingebracht und Deutschlands Stellung in der Welt dadurch auf das schwerste beeinträchtigt hätte. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Forderung einer grundsätzlichen Vertragsaufhebung oder Vertragsänderung noch verfrüht wäre. Es kann sich jetzt und voraussichtlich noch für eine längere Zukunft in der deutschen Politik nur darum handeln, den Vertrag Schritt für Schritt auszuhöhlen und auf diesem Wege die erreichbaren Vorteile für das deutsche Volk zu gewinnen.

Eine andere Politik, besonders die der Vertragsaufkündigung, hat die vom Reichskanzler Luther geführte Reichsregierung nicht verfolgt und nicht verfolgen können.

Zu 3: Bezüglich Art. 231 liegen die Dinge anders. Hier hat die Regierung Luther, wie auch schon frühere Regierungen, mehrfach und amtlich erklärt, daß das deutsche Volk und die Regierung die Schuld an der Urheberschaft des Krieges nicht anerkennen4. Diese Erklärung ist den Vertragsmächten von Locarno amtlich notifiziert und in einer Plenarverhandlung in Locarno durch den Außenminister mündlich wiederholt worden. Es ist ferner, wie bekannt, von der Reichsregierung in Aussicht genommen, eine dem Inhalt nach gleiche Erklärung den restlichen Vertragsmächten von Versailles vor dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund zu notifizieren.

Bei der Erörterung dieser Frage muß man sich darüber klar sein, daß die gegnerischen Mächte sich nicht bereitfinden werden, unsere Notifizierung damit zu beantworten, daß sie unseren Standpunkt anerkennen. Der Vertrag von Versailles ist in der Tat auf diesen Artikel aufgebaut, eine Tatsache, die auch von gegnerischer Seite vielfach bedauert worden ist. Die Gegner können also unserem Standpunkt nicht beitreten, ohne das ganze Vertragswerk preiszugeben. Es ist selbstverständlich, daß sie dies, wenn überhaupt jemals, erst dann tun werden, wenn eine so grundlegende Änderung der gesamten weltpolitischen Lage eingetreten ist, daß die anderen Länder aus ihren staatsegoistischen Interessen heraus den Vertrag von Versailles aufheben wollen.

[829] Zu 4: Es kann nicht bestritten werden, daß die Artikel 42–44 eine Beschränkung der deutschen Hoheitsrechte darstellen. Daß sie zur Zeit nicht beseitigt werden können, folgt aus dem zu 2 Gesagten. Eine Entehrung kann in diesen Bestimmungen nicht erblickt werden, wenn es auch selbstverständlich das Ziel der deutschen Politik sein muß, sie zu beseitigen. Es ist nicht logisch, in der erzwungenen Abtretung von Gebieten eine natürliche Folge eines verlorenen Krieges zu sehen, die die Ehre des unterlegenen Volkes nicht berührt, andererseits aber eine Entehrung in Maßnahmen über deutsche Gebiete zu sehen, die an den schlimmsten Fall, nämlich die Abtretung dieses Gebietes, nicht entfernt heranreichen.

Zu 5: Art. 16 der Völkerbundsatzung legt an sich den Mitgliedern des Völkerbunds die Verpflichtung auf, sich auf Beschluß des Völkerbundsrats an wirtschaftlichen und kriegerischen Maßnahmen zu beteiligen und den Durchmarsch durch eigenes Gebiet in gewissen Fällen zu gestatten. Hier ist zunächst zu bemerken, daß die Beschlüsse des Völkerbundsrats einstimmig sein müssen. Ist Deutschland Mitglied des Völkerbunds geworden, so hat es hierdurch schon die unbeschränkte Möglichkeit, durch entsprechende Stimmabgabe im Völkerbundsrat im Einzelfalle aller dieser Pflichten los und ledig zu werden. Dies ist anerkannten Rechtes. Die Deutsche Delegation hat sich hiermit aber nicht begnügt. Sie hat vielmehr in Locarno ausgeführt, daß Deutschland nicht beabsichtige, durch eine Stimmabgabe, die den Tatsachen und seiner eigenen Überzeugung widersprechen würde, sich von allgemeinen Pflichten zu befreien. Deutschland müsse daher auch in den Fällen von den Verpflichtungen des Art. 16 befreit werden können, in denen es an sich eine Maßnahme des Völkerbundes für gerechtfertigt hielte. Dies erfordere sowohl die geographische Lage Deutschlands wie sein Entwaffnungszustand.

In der Kollektivnote der vier Mächte haben diese dem deutschen Standpunkt Rechnung getragen und sich verpflichtet, den Art. 16 im Völkerbunde dementsprechend auszulegen. Eine bindende Erklärung für den Völkerbund selbst, in dem auch zahlreiche andere Mächte vertreten sind, konnten diese Mächte selbstverständlich in Locarno nicht abgeben. Angesichts der Tatsache aber, daß der ganze Art. 16 vorläufig nur ein Rahmen ohne Inhalt ist, genügt diese Note für unsere praktischen Zwecke. Wir können uns danach in der Tat in jedem Falle Rußland gegenüber neutral verhalten. Eine einseitige Westorientierung Deutschlands wird also durch den Eintritt in den Völkerbund nicht erfolgen.

Zu 6: Bei der Frage des Eintritts in den Völkerbund kann es sich nur darum handeln, ob Deutschland drinnen oder draußen stärker ist. Die Reichsregierung ist der Überzeugung, daß es durch den Eintritt in den Völkerbund an Stärke und Einfluß gewinnen wird. Während Deutschland jetzt und für absehbare Zeit lediglich Objekt der Außenpolitik ist, wird es durch seinen Eintritt wieder zum Subjekt und zu einem sehr beachtlichen Faktor der Weltpolitik werden. Die Allianz zwischen Frankreich und England ist praktisch zu Ende. England sucht die französische Hegemonie in Europa langsam zurückzudrängen. Dieses Ziel müssen wir unterstützen, weil die Aufrechterhaltung dieser Hegemonie eines Tages zur Vernichtung des Reiches führen könnte. Gegen England und Frankreich als gemeinsamen Gegner zu kämpfen, werden wir auf absehbare Zeit[830] nicht imstande sein, es sei denn, daß plötzlich überragende technische Erfindungen, die allein uns zu Gebote ständen, uns hierzu in die Lage setzen würden. Sollte dieser Umstand eintreten, so kann man ohne Übertreibung sagen, daß keine Verträge mehr existieren. Solange das nicht der Fall ist, ist unser gefährlichster Gegner Frankreich. England ist uns gegenüber saturiert (Vernichtung der Flotte, Abtretung der Kolonien, Zerschlagung unseres Welthandels). Frankreich dagegen ist Deutschland gegenüber nicht saturiert. Es kann immer wieder eine französische Regierung auftreten, die das politische Ziel hat, den Rhein als Grenze zu setzen und die Reichseinheit zu zertrümmern. England hat in beidem das entgegengesetzte Interesse.

Es kommt ferner hinzu, daß eine ganze Reihe kleinerer Mächte die überragende Rolle der Großmächte im Völkerbund unbequem empfinden. Dies wird sie bei zahlreichen Entscheidungen auf die Seite des deutschen 60-Millionen Volkes führen. Andererseits wird bei der Stimmung der Welt Frankreich auf die Dauer nicht wagen können, über Völkerbundsentschlüsse hinwegzugehen.

Zu 7: Es ist zuzugeben, daß der Art. 8 des Vertrages von Locarno kein absolutes Kündigungsrecht für uns enthält. Doch sind politische Entwicklungen, die sich heute beträchtlich schneller vollziehen als in früheren Zeitaltern, sehr wohl denkbar, unter denen sich die erforderliche Mehrheit für Aufhebung des Vertrages von Locarno findet. In absehbarer Zeit würde aber eine solche Aufhebung dem deutschen Interesse direkt widersprechen, weil der Vertrag uns die größeren Sicherheiten gibt. Er sichert uns gegen die oben dargelegten möglichen machtpolitischen Ziele Frankreichs, indem er im Falle eines französischen Angriffs England automatisch in das Feld und auf unsere Seite ruft. Richtig ist, daß England in gleicher Weise auf Frankreichs Seite treten müßte, wenn wir Frankreich angreifen. In absehbarer Zeit ist der letztere Fall aus Mangel an jedem technischen Kriegsmaterial nicht möglich. Wenn aber im Laufe der Jahre diese militärische Unterlegenheit Deutschlands ausgegleichen oder beträchtlich gemindert wird, so ist eine völlig andere Situation da. Denn wenn bis dahin die französische Hegemonie durch England, das vorläufig keinen Krieg gegen Frankreich führen will, nicht gebrochen ist, so wird dann allerdings England voraussichtlich diese neue Lage ausnutzen, um in gemeinsamem Kampf mit Deutschland Frankreichs Vormachtstellung zu brechen. Dann wird es Mittel und Wege finden, um den Vertrag von Locarno auf irgendeine Weise zu beseitigen. Der umgekehrte Fall, das Hinwegsetzen Englands über Locarno, um gegen uns einzugreifen, wird deshalb nicht eintreten, weil Englands politisches Interesse dem entgegensteht.

Zu 8: Es ist völlig unrichtig und widerspricht direkt den Tatsachen, daß die deutschen Delegierten in Locarno nur in gesellschaftlicher Beziehung, nicht aber in sachlicher eine Gleichberechtigung erfahren hätten. Dies folgt zwingend daraus, daß in allen materiellen Punkten des Pakts die deutsche Auffassung durchgesetzt werden konnte, und zwar in einzelnen Fällen, wie beispielsweise bei der Ausschaltung der französischen Garantie für die Ostverträge und beim Art. 16, nach schwerem Kampfe.

Es kann auch darin keine ungleichmäßige sachliche Behandlung erblickt werden, daß in der Frage der sogenannten Rückwirkungen bindende Zusicherungen[831] in Locarno noch nicht gegeben wurden. Dies lag daran, daß das Mandat der fremden Außenminister, das sie von ihrer Regierung erhalten hatten, hierzu nicht ausreichte.

Zu 9: Die deutschen Delegierten haben in Locarno die feste Überzeugung gewonnen, daß die Außenminister Englands, Frankreichs und Belgiens fest entschlossen waren, Deutschland in seinen Forderungen über die Rückwirkungen weit entgegenzukommen. Weshalb sie keine bindenden Zusicherungen schon in Locarno eingehen konnten, ist unter 8 gesagt. Die deutschen Delegierten waren und sind auch überzeugt, daß es sich hier nicht um Gesten handelt, die Gegner wissen auch, daß bloße Gesten keinesfalls genügen. Wenn gesagt wird, die Entente würde Erleichterungen gewähren, um Deutschland willfähiger zur Annahme des Vertrages zu machen, so ist dies insofern richtig, als den Vertragsgegnern in Locarno und später bei den diplomatischen Verhandlungen unzweideutig und mit allem Nachdruck zu verstehen gegeben wurde, daß ohne sichtbare und fühlbare Rückwirkungen die Reichsregierung den Vertrag nicht zeichnen würde.

Zu 10: Die Reichsregierung ist der Überzeugung, daß es sich bei dem gesamten Vertragswerk auf der einen Seite nicht um kleine augenblickliche Vorteile, sondern um beträchtliche Vorteile für die Dauer handelt. Sie ist andererseits überzeugt, daß von einer Knebelung durch das Vertragswerk von Locarno keine Rede sein kann, sondern daß dieses Werk eine große Stufe auf dem Wege zur endgültigen Freiheit bedeutet.

Ob bei etwaigen Neuwahlen ein Ruck nach links eintreten würde, kann nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden. Es ist möglich, aber nicht gewiß. Es spielen bei politischen Wahlen so viel verschiedene Faktoren mit – u. a. kann der der Wahlmüdigkeit eine maßgebende Rolle spielen –, daß ein Urteil, das einigen Anspruch auf Richtigkeit erhebt, nicht abgegeben werden kann.

Daß eine Reichstagsauflösung nach Möglichkeit zu vermeiden ist, entspricht der Auffassung der Reichsregierung wie mehrerer großer Parteien des Parlaments5. Ob sie vermieden werden kann, ist nicht zu übersehen und wird von der endgültigen Stellungnahme der Parteien zu diesen ganzen Fragen abhängen.

Was die Klärung der angeblich strittigen Fragen in London anlangt, so ist zu sagen, daß in London aller Voraussicht nach nicht mehr verhandelt werden kann. Hier wird es sich vielmehr nur um Unterzeichnung handeln. Die Klärung über die Rückwirkungen muß vorher eintreten, und die Rückwirkungen müssen fühlbare und sichtbare sein. Andernfalls wird der Pakt von Locarno von der Reichsregierung nicht gezeichnet werden, wie sie von Anbeginn bis heute immer wieder dem Inland und Ausland erklärt hat.

Fußnoten

1

Die Stellungnahme ist den Notizen des RPräs. (s. Dok. Nr. 214) in R 43 I /429 , Bl. 98-107 unmittelbar beigefügt. Sie trägt keine Überschrift, ist undatiert und nicht unterzeichnet. Einige Verbesserungen in der Handschrift Kempners weisen auf diesen als Verfasser hin.

2

Gemeint sind die Rede Luthers in Essen am 28. 10. (s. „Tägliche Rundschau“ vom 29. 10.) und die Ausführungen des RAM vor der Dresdener Presse am 31. 10. (Stresemann, Vermächtnis, Bd. II, S. 211 ff.).

3

Vgl. Dok. Nr. 201, dort auch Anm. 9.

4

Schon in seiner Regierungserklärung (19.1.25) hatte Luther betont, die RReg. werde „in Übereinstimmung mit den früheren wiederholten Erklärungen deutscher Reichsregierungen die Bemühungen fortsetzen, Deutschland von dem ungerechtfertigten Vorwurf des Versailler Vertrags über seine Schuld am Kriege zu befreien“ (RT-Bd. 384, S. 94 ).

5

Vgl. die Ausführungen der Parteiführer in der Besprechung am 3. 11. (Dok. Nr. 216).

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