1.12.1 (vpa2p): 1. Politische Lage.

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Das Kabinett von Papen Band 2Das Kabinett von Papen Bild 183-R1230-505Wahllokal in Berlin Bild 102-03497AGöring, Esser und Rauch B 145 Bild-P046294Ausnahmezustand in Berlin während des „Preußenschlages“.Bild 102-13679

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Text

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1. Politische Lage.

Staatssekretär Meissner berichtete in kurzen Worten über einen Schriftwechsel des Reichstagspräsidenten mit dem Herrn Reichspräsidenten. In einem ersten Brief habe Präsident Göring dem Herrn Reichspräsidenten die Beschlüsse des Überwachungsausschusses mitgeteilt. Dieses Schreiben habe keine Anrede enthalten und habe auch am Schluß die üblichen Höflichkeitsformeln vermissen lassen1. Der Direktor beim Reichstag, Geheimrat Galle, habe hierzu mündlich[577] erklärt, daß die Form des Schreibens auf ihn zurückgehe; er sei es gewesen, der dem Präsidenten Göring gesagt habe, daß die Mitteilung von Reichstagsbeschlüssen an die Reichsregierung stets in dieser Form erfolgt sei. Allerdings habe bisher ein Schriftwechsel dieser Art zwischen dem Reichstag und dem Herrn Reichspräsidenten noch nicht stattgefunden. Die Absicht einer Nichtachtung des Herrn Reichspräsidenten habe völlig ferngelegen. Dieses erste Schreiben habe der Herr Reichspräsident persönlich beantwortet2.

In dem zweiten Schreiben habe Präsident Göring dem Herrn Reichspräsidenten eingehend über die Vorgänge im Reichstag, die zu dessen Auflösung führten, Bericht erstattet3. Der Herr Reichspräsident beabsichtige nicht, dieses[578] zweite Schreiben zu beantworten. Fraglich sei daher nur, ob die Reichsregierung auf dieses Schreiben durch eine Antwort reagieren wolle. Verneinendenfalls werde er an den Präsidenten Göring im Einvernehmen mit dem Herrn Reichspräsidenten ein Schreiben folgenden Inhalts richten:

„Der Herr Reichspräsident hat mich beauftragt, Ihnen den Empfang Ihres Schreibens vom 13. September 1932 zu bestätigen. Unter Hinweis auf sein gestern an Sie gerichtetes persönliches Schreiben läßt Ihnen der Herr Reichspräsident mitteilen, daß die nach Übergabe der Auflösungsverordnung vom Reichstag noch gefaßten Beschlüsse verfassungswidrig und somit gegenstandslos sind. Der Herr Reichspräsident beabsichtigt daher nicht, aus diesen Beschlüssen Folgerungen zu ziehen.“

Das Reichskabinett nahm von diesen Ausführungen Kenntnis und billigte die von dem Staatssekretär Meissner vorgeschlagene Art der Erledigung gegenüber dem Reichstagspräsidenten4.

Der Reichskanzler stellte anschließend fest, daß das Reichskabinett auch weiterhin an seinem Standpunkt festhalten wird, ein Erscheinen in den Restausschüssen des aufgelösten Reichstags abzulehnen, solange der Reichstag nicht anerkannt hat, daß die Auflösung rechtswirksam erfolgt ist und daß die Beschlüsse, die der Reichsregierung das Vertrauen entziehen und durch die die Verordnungen vom 4. und 5. September aufgehoben werden, staatsrechtlich unwirksam sind5.

Der Reichsminister des Innern teilte mit, daß die Sozialdemokratische Partei einen Antrag auf Herbeiführung eines Volksentscheids gestellt habe mit dem Ziele, die Verordnungen vom 4. und 5. September aufzuheben.

Es wurde beschlossen, diesen Antrag nach den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen6 ohne besondere Beschleunigung weiter zu verfolgen7.

Der Reichskanzler stellte sodann die Frage der Neuwahlen8 zur Erörterung.

Der Reichsminister des Innern erklärte, daß die allein zu entscheidende Frage wohl die sei, ob man in absehbarer Zeit überhaupt neu wählen wolle. Wenn die Frage bejaht werde, werde man sich unbedingt an die Vorschrift des[579] Art. 23 der Reichsverfassung halten, d. h. die Wahl spätestens am 60. Tage nach der Auflösung stattfinden lassen müssen9.

Gehe man diesen Weg, so müsse man sich darüber klar sein, daß die 2-Monatsfrist zu kurz sei, um eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse herbeizuführen. Eine Konsolidierung der Wählermassen, die politisch zwischen Zentrum und Nationalsozialisten einzugliedern seien, könne binnen dieser Frist nicht erwartet werden. Eine klare Mehrheit für die Reichsregierung könne binnen dieser Frist sich nicht herausbilden. Höchstenfalls werde man erreichen können, daß die Nationalsozialisten und die Kommunisten zusammen nicht mehr die Mehrheit bilden. Vielleicht werde es dahin kommen, daß auch die Nationalsozialisten zusammen mit dem Zentrum und der Bayerischen Volkspartei nur noch eine Minderheit darstellen. Darum werde man sich darüber schlüssig werden müssen, welcher Schaden größer sei, der Nachteil der Neuwahlen oder die politische Beunruhigung, die eine Nichtwahl verursachen werde. Er persönlich neige einstweilen der Auffassung zu, daß die Verschiebung der Wahl auf unbestimmte Zeit das kleinere Übel sei. Dabei sei er sich absolut klar darüber, daß die Verschiebung der Wahl mit dem Wortlaut der Verfassung nicht vereinbart werden könne. Höher aber wie die formale Innehaltung der Verfassung stehe das gesamte Volkswohl.

Der Reichswehrminister führte aus, daß es ausschlaggebend darauf ankomme zu wissen, was man wolle. Wenn man überzeugt sei, daß man mit der jetzigen Parteikonstellation nicht weiterkommen könne, dann sei es unpraktisch, jetzt Neuwahlen auszuschreiben, denn das Volk sei des Wählens überdrüssig. Man müsse dann eben nur beweisen, daß eine Mehrheitsbildung unter den gegebenen Verhältnissen unmöglich sei, und weiter den Standpunkt verfechten, daß man dem Volk und der Wirtschaft Neuwahlen nicht zumuten könne. Wenn man das Wohl der Nation in den Vordergrund stelle, so sei es zweifellos besser, nicht zu wählen. Wenn man entschlossen sei, diesen Standpunkt durchzuhalten, sei es höchste Zeit, die in Aussicht genommene Propagandastelle der Reichsregierung baldigst einzurichten und arbeitsfähig zu machen10. Er glaube[580] auch, daß es möglich sein werde, eine Verschiebung der Wahlen mit guten Gründen zu decken, z. B. habe ein Beamter seines Ministeriums, Herr Ott, am Abend vorher eine Aussprache mit den Staatsrechtslehrern Carl Schmitt, Jacobi, Leipzig und Bilfinger, Halle gehabt. Bei dieser Gelegenheit seien folgende Fragen erörtert worden:

1)

Ist Verschiebung der Neuwahlen staatsrechtlich zu decken?

2)

Wie kann der Preußische Landtag aufgelöst werden?

3)

Gibt es in der Prozeßlage des Reiches gegen die alte Preußenregierung noch Schwierigkeiten?

Diese Fragen seien von den Staatsrechtslehrern durchaus im Sinne des jetzigen Kabinetts beantwortet worden. Das Nähere ergibt sich aus der von dem Reichswehrminister zu den Akten gegebenen Aufzeichnung11.

Der Reichsminister der Justiz meinte, daß es auch für den Fall der Ausschreibung von Neuwahlen binnen 60 Tagen unerläßlich sei, die von dem[581] Reichswehrminister erwähnte Propagandastelle schnellstens ins Leben zu rufen. Die Frage, ob man jetzt schon einen Schritt außerhalb der Verfassung tun könne, oder ob man durch eine nochmalige vergebliche Wahl den Anschauungsunterricht des Volkes fortsetzen solle, sei außerordentlich schwer zu entscheiden. Er neige mehr zu der Auffassung, daß es jedenfalls heute noch zu früh sei, sich endgültig schlüssig zu werden. Wenn man etwa am folgenden Tage mit der Erklärung herauskommen würde, daß der Reichspräsident sich entschlossen habe, einen neuen Wahltermin nicht anzusetzen, so sei nach seiner Meinung die öffentliche Meinung für eine derartige Nachricht jetzt wohl noch nicht reif.

Der Reichsaußenminister sprach sich im gleichen Sinne aus. Auch er erklärte, daß man heute keinesfalls mit einem Beschluß herauskommen könne, der auf Vermeidung von Neuwahlen hinausläuft. Wahrscheinlich werde man das Experiment einer Neuwahl dem Volke nicht ersparen können.

Der Reichsarbeitsminister erklärte, daß nach seiner Meinung die Unruhe im Volke größer sein werde, wenn man Neuwahlen verweigere, gegenüber der Unruhe, die eine alsbaldige neue Wahlbewegung hervorrufen werde. Er halte es für richtiger, zunächst noch mal einige Tage die Entwicklung der Dinge abzuwarten.

Der Reichsernährungsminister empfahl, endgültige Entscheidung zunächst noch zurückzustellen und abzuwarten, wie sich die Bewegung der Nationalsozialisten in den nächsten Tagen entwickeln werde.

Der Reichsminister des Innern wies darauf hin, daß es sehr wesentlich sei, den richtigen Zeitpunkt für die Neuwahlen zu wählen. Wenn man sich grundsätzlich dahin entscheiden sollte, innerhalb 60 Tagen zu wählen, müsse man sich ferner entscheiden, ob man innerhalb dieser Frist möglichst früh oder möglichst spät wählen wolle. Ein möglichst früher Termin habe zweifellos auch seine Vorteile.

Der Reichswirtschaftsminister sprach sich dahin aus, daß man vor Entschließungen zur Sache etwas mehr Abstand von den unmittelbar voraufgegangenen Ereignissen gewinnen müsse.

Der Reichsverkehrsminister führte aus, daß das letzte Ziel der Reichsregierung eine umfassende Verfassungsreform sei. Wenn diese Reform nicht schon in naher Zukunft, d. h. vor Neuwahlen, durchgeführt werden könne, dann sähe er nur die Möglichkeit, die Neuwahl innerhalb der Frist von 60 Tagen auszuschreiben. Daß aber die Verfassungsreform bis zum November nicht durchgeführt werden könne, stehe wohl fest. Die verfügbare Zeit sei zu kurz. Darum werde man in der jetzigen Lage an Neuwahlen binnen 60 Tagen wohl nicht vorbeikommen. Nach diesen Wahlen aber werde der Zeitpunkt gekommen sein, den Reichstag nochmals aufzulösen und dann mit den Verfassungsreformen durchzugreifen.

Der Reichsarbeitsminister berichtete über eine persönliche Aussprache mit dem das Zentrum repräsentierenden württembergischen Staatspräsidenten Bolz. Dieser habe ihm erklärt, daß das Zentrum schon mit Rücksicht auf die Stellung des Reichspräsidenten unter allen Umständen auf die strikte Innehaltung der Vorschriften der Verfassung dringe. Andernfalls bestehe die Gefahr, daß die[582] Nationalsozialisten den Herrn Reichspräsidenten auf Grund des Art. 59 der Reichsverfassung12 angreifen würden13.

Der Reichsminister der Finanzen äußerte sich dahin, daß es schwer zu sagen sei, ob die Unruhe einer nochmaligen Neuwahl größer sei wie die Unruhe, die eine Verschiebung der Wahlen im Gefolge haben werde. Er habe das Empfinden, daß in beiden Fällen die Unruhe nicht sehr tief gehen werde. Entscheidend sei, ob die Wirtschaft das Vertrauen in eine Erhaltung stabiler Verhältnisse bewahre. Eine Verfassungsänderung werde man nur dann durchsetzen können, wenn die große Mehrheit des Volkes die Überzeugung gewonnen habe, daß alle Versuche, auf dem bisherigen Wege weiterzukommen, gescheitert seien. Nach seiner Meinung habe das Volk diese Überzeugung jetzt noch nicht. Pflicht der Regierung sei es, alles zu vermeiden, was die Auffassung aufkommen lassen könne, daß der Herr Reichspräsident vom Wege der Verfassung vorzeitig abgegangen sei.

Staatssekretär Meissner bestätigte die Darstellung des Reichsarbeitsministers, daß die Nationalsozialisten und auch das Zentrum bereits die Frage erwogen hätten, ob man eine Anklage aus Art. 59 der Reichsverfassung gegen den Reichspräsidenten ins Auge fassen könne.

Reichskommissar Bracht empfahl, die Entscheidung zur Sache möglichst bald zu treffen. Wenn man letzten Endes einsehen müsse, daß Neuwahlen binnen 60 Tagen unvermeidlich seien, werde man mit dem entsprechenden Beschluß nicht zu lange warten dürfen, damit nicht den Nationalsozialisten und dem Zentrum ein Vorwand gegeben werde, zu erklären, daß es nur durch den starken Druck dieser Parteien auf die öffentliche Meinung gelungen sei, die bereits schwankend gewordene Reichsregierung auf den Weg der Verfassung zurückzuführen.

Der Reichswehrminister empfahl, vor Entscheidungen zur Sache die Entwicklung der öffentlichen Meinung noch etwas abzuwarten, jedenfalls aber keinen frühen Wahltermin in Aussicht zu nehmen.

Der Reichskanzler beendete die Aussprache zu diesem Gegenstand mit dem Bemerken, daß vor allem dafür gesorgt werden müsse, daß der Wirtschaft Ruhe zur Fortentwicklung verschafft wird. Das bisherige System der Parteiherrschaft müsse beendet werden. Dieses Ziel könne letzten Endes nur durch Abweichen von der Verfassung erreicht werden. Auf dem Wege zu diesem Ziele werde die Reichsregierung mit dem erbitterten Widerstand aller Kräfte zu rechnen haben, die sich für eine formale Demokratie einsetzen. Das Streben der Reichsregierung müsse daher darauf gerichtet sein, aus dieser Front möglichst große Kreise herauszubekommen. Die Frage, wann der Zeitpunkt gekommen sein werde, von der Verfassung abzugehen, glaube er dahin beantworten zu[583] müssen, daß heute die Zeit dazu noch nicht reif sei. Eine wesentliche Rolle spiele dabei auch die Rücksicht auf die Stellung des Herrn Reichspräsidenten14. Nach seiner Meinung werde man noch einmal wählen müssen und zwar zu einem Termin, der innerhalb der 60tägigen Frist möglichst weit hinausgerückt sein müsse15.

Fußnoten

1

In dem (abschrl. auch an den RK übermittelten) Schreiben vom 13. 9. Göring u. a.: Der Überwachungsausschuß des RT habe gemäß Art. 33 der RV die Anwesenheit des RK und des RIM in seiner Sitzung am 13. 9. verlangt. Diese hätten ihr Erscheinen jedoch von „Bedingungen“ (vgl. Dok. Nr. 139) abhängig gemacht. „Das ist nach dem klaren Wortlaut des Artikel 33 der Reichsverfassung nicht zulässig, wie die Reichsregierung durch ihr Verhalten in den Sitzungen des Ausschusses vom 22. und 25. Juli 1932 anerkannt hat. Der Ausschuß stellt fest, daß sich der Herr Reichskanzler und der Herr Reichsminister des Innern durch ihre Handlungsweise eines offenen Bruches der Reichsverfassung schuldig gemacht haben.“ Er erwarte, daß der „Herr Reichspräsident als der berufene Hüter der Verfassung“ den RK und den RIM „zur Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Pflichten unverzüglich anhalten wird“ (R 43 I /1010 , Bl. 48).

2

Durch ein Schreiben an Göring vom 13. 9., worin Hindenburg den gegen Papen und Gayl erhobenen Vorwurf des Verfassungsbruchs mit „Entschiedenheit“ zurückwies und weiter ausführte: „Die Fragen, mit denen sich heute der Ausschuß zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung [d. h. der Überwachungsausschuß] befaßt hat [vgl. Anm 5 zu Dok. Nr. 139], wären nie entstanden, wenn Sie, wie es die Reichsverfassung vorschreibt, dem Herrn Reichskanzler das Wort zur Verlesung meiner Auflösungsverordnung erteilt oder zum mindesten sogleich nach Zustellung dieser Verordnung die Sitzung des Reichstags geschlossen hätten. Sobald Sie, Herr Reichstagspräsident, und der Ausschuß diese unanfechtbare Rechtslage ausdrücklich anerkennen, wird, wie die Reichsregierung bereits erklärt hat, einem Erscheinen“ des RK und des RIM „vor dem Ausschuß nichts mehr im Wege stehen“ (WTB Nr. 1949 in R 43 I /1010 , Bl. 65).

3

In dem am 13. 9. übermittelten Schreiben (abgedr. bei Poetzsch-Heffter, Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung, S. 69 ff.; Huber, Dokumente, Bd. 3, Dok. Nr. 468) hatte Göring nach einleitender Schilderung der Vorgänge im RT am 12. 9. weiter erklärt: „Fest steht demnach: 1. daß somit der Abstimmungsakt vor der Auflösung des Reichstags stattgefunden hat; 2. daß das Ergebnis dieser Abstimmung zu Recht besteht; 3. daß nach der Reichsverfassung die betreffenden Notverordnungen außer Kraft zu setzen sind; 4. daß die Regierung Papen mit einer vernichtenden Mehrheit vom deutschen Volk durch seine erwählte Vertretung gestürzt worden ist. – Ich war zunächst der Auffassung, daß eine gestürzte Regierung zur Gegenzeichnung eines solchen Dekrets nicht berechtigt ist und betrachtete aus diesem Grunde das Dekret als hinfällig [vgl. Dok. Nr. 133]. Die Verwaltungsjuristen haben mich jedoch davon überzeugt, daß rein formal das Dekret zu Recht besteht, da auch eine gestürzte Regierung, solange sie nicht vom Herrn Reichspräsidenten entlassen ist, das Recht zur Gegenzeichnung besitzt. Somit ist formal der Reichstag im Augenblick nach der Abstimmung aufgelöst worden. Gegen die Begründung dieser Auflösungsorder [vgl. Anm 3 zu Dok. Nr. 134] muß ich jedoch als Präsident der deutschen Volksvertretung Verwahrung einlegen. Gewiß ist es in das Ermessen des Herrn Reichspräsidenten gestellt, einen Reichstag aufzulösen, jedoch niemals zweimal aus dem gleichen Anlaß. Tatsächlich ist jedoch der Reichstag am 4. Juni aufgelöst worden mit dem tatsächlichen Sinne, daß die gegenwärtige Regierung Papen nicht das Vertrauen der deutschen Volksvertretung gefunden hätte [vgl. Anm 10 zu Dok. Nr. 2]. Tatsächlich ist auch der neue Reichstag aufgelöst worden, weil die Regierung Papen kein Vertrauen gefunden hätte. Ich darf in diesem Zusammenhang feststellen, daß die Reichsregierung und die ihr nahestehende Presse Äußerungen gebracht hat bezw. Gerüchten nicht entgegengetreten ist, wonach die Reichsregierung fest entschlossen war, die Auflösung herbeizuführen, bevor eine Abstimmung über das Mißtrauen oder die Aufhebung der Notverordnungen stattfinden könnte. Nachdem bekannt geworden war, daß eine Abstimmung stattfinden sollte, hat der Herr Reichskanzler, wie ich erfuhr, bei seinem Eintritt recht ostentativ und in einer für den Reichstag verletzenden Form mit der roten Mappe gegen die Diplomatenloge hinaufgewinkt. Vor allem aber wird dieser Zusammenhang bestätigt durch den Wortlaut der Auflösungsorder selbst. Es sollte also von vornherein die Abstimmung unmöglich gemacht werden. – Die Aufhebung einer Notverordnung gehört zu den verfassungsmäßigen Rechten des Reichstages, und zwar ist dem Reichstag dieses Recht der Aufhebung eingeräumt worden als Regulativ gegenüber einer Regierung, die sich anmaßen sollte, willkürlich Anordnungen und Bestimmungen auf dem Wege von Notverordnungen zu erlassen, um somit Verfassung und Volkshoheit jederzeit zu garantieren. Wenn nun ein Reichstag jedesmal aufgelöst werden soll, weil die ‚Gefahr‘ besteht, daß er ein durch die Verfassung gegebenes Recht, ja eine durch die Verfassung auferlegte Pflicht im Interesse des Volkes ausübt, so bedeutet dies eine dem Sinn der Verfassung widersprechende Handlung. Es würde somit praktisch der Deutsche Reichstag […] vollständig ausgeschaltet. […] Ich sehe mich daher verpflichtet, hochverehrter Herr Reichspräsident, gegen die Begründung des Auflösungsdekrets vor dem ganzen deutschen Volke feierlichst Protest einzulegen, da ich als Präsident des Deutschen Reichstags hierin eine Verletzung der Rechte der deutschen Volksvertretung erblicke.“ – Göring verlas dieses Schreiben während der Sitzung des Überwachungsausschusses am Nachmittag des 14. 9. Der Ausschuß beschloß daraufhin nach längerer Debatte, eine Untersuchung der Vorgänge in der Reichstagssitzung vom 12. 9. u. a. durch Zeugenvernehmung vorzunehmen. Vgl. dazu Dok. Nr. 142.

4

Das Schreiben wurde von Meissner am 14. 9. abgesandt und am gleichen Tage durch WTB verbreitet (WTB Nr. 1954 in R 43 I /1010 , Bl. 67).

5

Hierzu vgl. Dok. Nr. 139, dort auch Anm 2 und Dok. Nr. 140.

6

Nach §§ 27–30 des „Gesetzes über den Volksentscheid“ vom 27.6.21 (RGBl., S. 790 ) mußte der Zulassungsantrag für ein Volksbegehren beim RIM gestellt werden, der – ehe er über die Zulassung entschied – zu prüfen hatte, ob der Antrag die erforderliche Unterschrift von fünftausend Stimmberechtigten aufwies oder von der „Vorstandschaft einer Vereinigung“ ausging, die „glaubhaft macht, daß ihn hunderttausend ihrer stimmberechtigten Mitglieder unterstützen“.

7

Zum Fortgang s. Dok. Nr. 232, P. 3.

8

Zur vorangegangenen Beratung (u. a. Verschiebung der Neuwahl auf unbestimmte Zeit) s. Dok. Nr. 120.

9

Bei einer am späten Nachmittag des 12. 9. – kurz nach der Reichstagsauflösung – abgehaltenen Pressekonferenz hatte der RIM in diesem Zusammenhang ausgeführt: „Ich kann nur die Erklärung abgeben, daß die Reichsregierung durchaus die Absicht hat, die verfassungsmäßigen Vorschriften innezuhalten und daß, wenn eine Wahl ausgeschrieben wird, sie selbstverständlich unter den Bedingungen erfolgen muß, die heute gelten. Ich muß allerdings in aller Offenheit von vornherein eine Einschränkung machen, nämlich die, daß Wahlen selbstverständlich nur dann möglich sind, wenn Ruhe und Ordnung in Deutschland herrschen und die Abhaltung von Wahlen überhaupt möglich ist.“ Auf die anschließende Frage eines Pressevertreters, auf welchen Verfassungsartikel sich die RReg. stützen wolle für den Fall, daß sie Neuwahlen wegen Nichtgesichertseins von Ruhe und Ordnung ablehne, hatte Gayl erwidert: „Ich kann nur sagen, daß ich mir darüber noch gar nicht den Kopf zerbrochen habe. Daraus mögen Sie ersehen, wie die Dinge liegen.“ (Stenogr. Niederschrift der Pressekonferenz in NL Gayl  43).

10

Vgl. Anm 5 zu Dok. Nr. 121 und Dok. Nr. 136. – Eine solche Propagandastelle – im amtl. Schriftverkehr der Rkei verschiedentlich bezeichnet als „private Werbezentrale, welche die Politik der Reichsregierung unterstützt“ (u. a. R 43 I /1008 , Bl. 189) – wurde in den unmittelbar folgenden Tagen in Berlin (Adresse: In den Zelten 20) eingerichtet. Ihr Leiter war Rittmeister a. d. Moyzischewitz, dem die Rkei anscheinend regelmäßig Eingaben von Organisationen und Verbänden zugehen ließ, die sich bereit erklärt hatten, die RReg. im Wahlkampf zu unterstützen bezw. an der „Neuformierung des Bürgertums“ zu einer „Präsidialpartei“ (bezw. „Nationalen Mittelpartei“, „Reichsblock“) mitzuarbeiten. Dies ist erstmals am 23.9.32 geschehen (ebd., Bl. 10). Am gleichen Tage schrieb Moyzischewitz an den StSRkei u. a.: „Bei Aufstellung einer Liste aller unserer Hilfstruppen, die schon jetzt an unserem Strange ziehen oder zukünftig dazu gebracht werden können (Parteien, Bünde, Spitzenverbände), wird mir so recht klar, wie unerhört wichtig es ist, in dieser Armee auch Arbeitnehmergruppen zu haben. Fürs erste konzentrieren sich in dieser Richtung meine Gedanken auf den Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband. Diese Gruppe vor unseren Wagen zu spannen, ist nicht nur wegen ihrer 300 000 Stimmen wichtig, sondern noch sehr viel wichtiger, weil wir auf diese Weise eine erste bedeutsame Perle aus der bisher geschlossenen Krone der Gewerkschaftsfront brechen würden. Ich habe gestern schon Bredow gesagt, daß er alles tun solle, um selbst und durch Schleicher Habermann aus seiner jetzigen Oppositionsstellung herauszumanövrieren. Darüber hinaus möchte ich bei Ihnen anregen, mit Kanonen auf Habermann zu schießen. Darunter verstehe ich, daß der Kanzler oder sogar der alte Herr selbst Habermann kommen läßt, um ihn einzudrehen.“ Zur Frage der Finanzierung seiner Propagandaaktivitäten Moyzischewitz in dem Schreiben abschließend: „Ich habe heute mit Harbou gesprochen. Meines Erachtens gibt es keinen geeigneteren Mann, um für meine Sache die private Geldwerbung aufzuziehen. Er könnte sich auf Grund seiner vorzüglichen Beziehungen für die Bankgruppen der Mithilfe von Herrn Solmssen, für die Schwerindustrie der Herren Reusch und Vögler, für die Elektroindustrie der Herren Bücher und v. Winterfeldt, für die Textilindustrie des Herrn Frowein, für die chemische Industrie der Herren Bosch und Schmitz, für die verarbeitende Industrie Buttlar und Lange, für Landwirtschaft Brandes und Kalckreuth, für Handel Ravené und für Haus- und Grundbesitz noch eines unbekannten Vermittlers bedienen. […] Vielleicht haben Sie die Freundlichkeit, dieser Tage mit Minister von Schleicher hierüber zu sprechen und gegebenenfalls Ihrerseits oder von Seiten Schleichers Harbou zu einer Unterhaltung einzuladen.“ (Ebd., Bl. 131–132). – Einige weitere Materialien zum Wirken der Propagandastelle (auch betr. ihre Aufhebung nach der Demission des Kabinetts Papen) befinden sich in NL Bredow  2. Vgl. hierzu auch Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP, S. 282 ff.

11

Hierbei handelt es sich um eine Aufzeichnung Otts vom 13. 9., in der die gemeinsame Stellungnahme der Staatsrechtslehrer zu den oben aufgeführten Fragen wie folgt wiedergegeben ist: Zu Frage 1: „Wenn Verschiebung der Neuwahl gestützt wird auf Verfassungseid (Schaden vom Volke abzuwenden) und begründet wird mit der schweren gegenwärtigen Notlage des deutschen Volkes, das unbedingt Ruhe braucht, so entsteht echtes Staatsnotrecht. Die drei Staatsrechtslehrer haben durchblicken lassen, daß man sich zur Deckung dieser Handlung fest auf sie verlassen kann.“ Zu Frage 2: „Der Beschluß der Kommunisten und NSDAP, die preußischen Beamten von der Treuepflicht gegenüber der vom Reichspräsidenten eingesetzten Staatsführung zu entheben, ist ein schwerer Verstoß gegen Treue und Glauben. Ein Parlament, das zu solchen Verstößen fähig ist, muß beseitigt werden.“ Zu Frage 3: „Die Prozeßlage ist ausgezeichnet. Die einzige Schwierigkeit ist die Inkonsequenz der Reichsregierung, daß sie die preußischen Reichsratsstimmen nicht neu besetzt. Dieses Versäumnis des Reichsministers des Innern benutzt die Gegenseite, es ist sofort auszuräumen.“ Ott in der Aufzeichnung abschließend: „Die drei Staatsrechtslehrer haben mir wieder den Eindruck gemacht, daß sie die Präsidialpolitik mit großer Sachkenntnis und dem besten Willen unterstützen. Ich halte es für sehr wertvoll, die Herren in persönliche Fühlung mit dem Herrn Reichskanzler und dem Reichsjustizminister zu bringen, um ihre Hilfe für die nächsten Entscheidungen voll auszunutzen und ihnen selbst den Impuls für die weitere Mitarbeit zu geben.“ (R 43 I /1008 , Bl. 13–14).

12

Art. 59 RV: „Der Reichstag ist berechtigt, den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und die Reichsminister vor dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich anzuklagen, daß sie schuldhafterweise die Reichsverfassung oder ein Reichsgesetz verletzt haben. Der Antrag auf Erhebung der Anklage muß von mindestens hundert Mitgliedern des Reichstags unterzeichnet sein und bedarf der Zustimmung der für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Mehrheit. Das Nähere regelt das Reichsgesetz über den Staatsgerichtshof.“ Die hier vorbehaltene Regelung ist durch §§ 2–15 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof vom 9.7.21 (RGBl., S. 905 ) getroffen worden.

13

Vgl. Dok. Nr. 136.

14

Zur Stellung und Bedeutung des RPräs. in der durch die Reichstagsauflösung (12. 9.) entstandenen Lage heißt es in einem vermutlich für die Dienatag (Dienst nationaler Tageszeitungen) gefertigten „Informationsbericht“ vom 15. 9. (Unterschrift: Dertinger) u. a.: „Man kann nicht mehr sagen, daß die Reichsregierung der entscheidende Faktor wäre, der sich gegenüber dem Reichstage durchgesetzt habe, vielmehr muß man ehrlich anerkennen, daß der Reichspräsident selber mitten in das politische Geschehen getreten ist und die über den Dingen stehende politische Haltung, die noch vor kurzem das Wesen der Stellung des Reichspräsidenten ausgemacht hat, aufgegeben hat. Der ständige Briefwechsel, der zwischen dem Reichstage und dem Reichspräsidenten selber stattgefunden hat, zeigt, wie sehr der Reichspräsident mit seiner Person vor die letzte Verantwortung gestellt ist. In dem Augenblick, in dem die Dinge sich zu einem Verfassungskonflikt zugespitzt haben und jede Handlung des Reichspräsidenten unter dem Gesichtspunkt der Verfassungsmäßigkeit nachgeprüft wird, ist es nicht mehr möglich, die politische Verantwortung der Reichsregierung zuzuschieben und den Reichspräsidenten selber aus der Verantwortung zu entlassen. Tatsächlich liegen auch praktisch die Dinge so, daß der Reichspräsident selber ein politisch handelnder Faktor geworden ist und daß die Regierung nur das Instrument des Reichspräsidenten ist. Damit wird aber auch die Stellung der Reichsregierung gekennzeichnet. Bei aller Bedeutung der Persönlichkeiten, die das heutige Kabinett ausmachen, ist nicht zu verkennen, daß die gesamte Regierung ohne Unterschied an sich wesenlos in dem Augenblick ist, in dem sie nicht das Vertrauen des Reichspräsidenten genießt. Sie hat keinerlei Machtmittel, die sie nicht vom Reichspräsidenten erhalten hätte, und eine Legitimation vom Volke her besitzt sie auch nicht. Zweifellos übt die heutige Regierung in ihrer einheitlichen Zusammensetzung und in ihrer geistigen Haltung auf den Reichspräsidenten einen erheblichen Einfluß aus, sodaß real sehr wohl der Reichspräsident häufig wiederum das Werkzeug der Regierung ist. Politisch hindert das aber nichts an der Feststellung, daß die Regierung in dem Augenblick den Boden unter den Füßen verlieren würde, sobald der Reichspräsident sich nicht mehr der Reichsregierung zugänglich zeigt.“ (ZSg. 101/25, Bl. 267–268).

15

Zum Wahltermin s. weiter Dok. Nr. 146, P. 6.

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