1.10.5 (wir2p): 5. Die derzeitige Lage in der Reichsgewerkschaft deutscher Eisenbahnbeamten und -anwärter.

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5. Die derzeitige Lage in der Reichsgewerkschaft deutscher Eisenbahnbeamten und -anwärter.

Ministerialdirektor Hitzler schildert den Verlauf der in Berlin stattgehabten Verhandlungen der Reichsgewerkschaft5. Es müsse als feststehend angesehen[700] werden, daß es in der Reichsgewerkschaft nicht gelungen sei, eine Mehrheit gegen den Streik zu erreichen. Nach hartem Kampf sei der bisherige Vorsitzende Menne6 wieder gewählt worden. Die Folge dieser Wahl werde sein, daß eine ganze Anzahl von Fachgruppen, so z. B. die nicht technischen Eisenbahnbeamten in einer Zahl von 20 000 Mann, die Rangierbeamten mit 6000 Mann, die nichttechnischen Beamten in gehobener Stellung mit 11 000 Mann, die technischen mittleren Beamten mit 20 000 und die Heizer mit 6000 Mann, insgesamt etwa 120 000 Eisenbahnbeamte sich abtrennen würden7. Etwa 140 000 Beamte würden in der alten Gewerkschaft zurückbleiben. Dies stelle eine knappe Mehrheit für Menne dar. Die Verhandlungen in der Reichsgewerkschaft seien gestört worden durch den Verlauf der Verhandlungen, die gleichzeitig beim Deutschen Beamtenbund geführt worden seien8 . Dort sei Flügel zum Vorsitzenden gewählt worden, und auch hier kämpften beide Strömungen, die Anhänger und die Gegner des Streiks heftig miteinander, und dieser Kampf werde in nächster Zeit weiter geführt werden. Es sei eine Tatsache, daß in weiten Kreisen der Eisenbahnbeamten die Ansicht vorherrsche, daß der Streik richtig gewesen sei und noch einmal versucht werden müsse. Das Reichsverkehrsministerium rechne mit einem neuen Aufflammen des Streiks innerhalb der nächsten 3 Wochen. Es stehe fest, daß die Kommunisten die radikalen Elemente in der Eisenbahnerschaft mit Geld unterstützten und gleichzeitig große Versammlungen abhielten, in denen zum Streik erneut aufgefordert würde. So habe beispielsweise nach einer Rede Mennes in Nürnberg die Kommunistische Partei innerhalb der Eisenbahnergewerkschaft einen Sieg davongetragen.

Unter diesen Umständen sei die Frage des Bahnschutzes erneut in den Vordergrund geschoben, und das Reichsverkehrsministerium habe sich in dieser Beziehung bereits mit dem Reichsministerium des Innern in Verbindung gesetzt. Es müsse darauf gedrungen werden, daß die Nothilfe mit Beschleunigung ausgebaut werde9. Diesem Zweck diene auch eine Verordnung des Reichsverkehrsministeriums,[701] wonach die Heizer im Notfalle in der Lage wären, die Lokomotivführer zu ersetzen, so daß auf der Maschine im Falle eines Streiks der Heizer als Maschinenführer und der Nothelfer als Heizer Verwendung finden könnten. In einem neuen Streike werde man wohl damit rechnen müssen, daß keine Gruppen geschlossen in den Streik treten, auch wäre die Lage insofern günstiger, als die bei dem letzten Streik herrschende Kälte, die die Maßnahmen der Verwaltung erheblich erschwert hätte, jetzt in Wegfall käme.

Reichsminister Groener fügt diesen Ausführungen noch hinzu, daß er die Überzeugung habe, daß Menne mit allen Kräften den Kampf wieder aufnehmen werde und zwar auf breiterer Grundlage. Einerseits werde er sich auf die Not des Volkes und der Eisenbahnbeamten insbesondere stützen; andererseits gehe es ihm darum, die Frage des Streikrechts der Beamten in seinem Sinne zur Lösung zu bringen. Es frage sich, ob unter diesen Umständen das Kabinett den psychologischen Moment für gekommen halte, wegen der Frage des Streikrechts eine gesetzliche Entscheidung herbeizuführen. Ferner müsse man fragen, ob man nicht auf wirtschaftlichem Gebiet den Beamten den Vorwand für eine neue Streikbewegung nehmen und rechtzeitig Vorbereitungen wegen einer Gehaltserhöhung treffen solle, die mit Rücksicht auf die sprunghaft wachsende Teuerung wohl kaum zu umgehen sein würde. Vielleicht könne man damit noch warten bis nach Ostern, dann müsse man aber mit einer heftigen Bewegung wegen Gehaltserhöhung rechnen. Auch die Entente rechne nach ihm zugegangenen Mitteilungen mit einer kommunistischen Welle für Anfang Sommer in Deutschland. Er halte es für dringend erforderlich, rechtzeitig Vorbereitungen zu treffen zur Abwehr dieser zu erwartenden Angriffe.

VizekanzlerBauer fragt an, wie es mit der Frage der gegen Eisenbahnbeamte eingeleiteten Disziplinarverfahren stehe. Er befürchte, daß die Einbringung eines Gesetzes zur jetzigen Zeit eine neue Streikbewegung hervorrufen werde. Als geeignetes Mittel, den Streik zu verhindern oder die Bewegung wenigstens zu schwächen, schlage er vor, daß die Regierung die Gehaltserhöhungen selbst in die Hand nehme. Auch könne er nicht glauben, daß die Kommunistische Partei steigenden Einfluß bei den Eisenbahnern gewinne. Im Gegenteil glaube er, daß sich die Entwicklung auch unter der Arbeiterschaft der Eisenbahner immer mehr nach rechts bewege. Gerade die Art, wie Menne auftrete, und wie er und seine Anhänger seinen „Sieg“ feierten, beweise, daß sich die Führer genau darüber klar wären, daß sie in Wirklichkeit eine Niederlage erlitten hätten. Im ganzen genommen hänge alles eben von der Entwicklung der nächsten Zeit hinsichtlich der Wirtschaftslage ab. Falls die Notlage sich verschärfe, wären Gehaltsbewegungen und evtl. Streiks unvermeidlich.

Reichsminister Groener erwidert auf die Frage nach dem Stand der Disziplinarverfahren, daß die ersten Verfahren bei den Disziplinarkammern bereits anhängig seien, daß aber die Erledigung der Sachen sich erheblich verzögere, weil die Disziplinarkammern eine schnelle Erledigung der Sachen nicht für möglich[702] hielten. Unter diesen Umständen sehe er sich genötigt, daß Reichsministerium des Innern zu bitten, auf Beschleunigung der Verfahren möglichst hinzuwirken. Im ganzen seien etwa 340 Verfahren anhängig. Erst wenn die Sachen die Disziplinarkammer passiert hätten, könnte man gegebenenfalls einen Fall an den Disziplinarhof beim Reichsgericht bringen, um so endgültige richterliche Entscheidung über die Frage des Streikrechts der Beamten zu erzielen.

Ministerialdirektor v. Schlieben betont, daß die letzte Gehaltserhöhung, so wie sie die Regierung geplant habe, etwa 50 Milliarden Papiermark erfordere. Die vom Ausschuß des Reichstags weiter in Aussicht genommene Gehaltserhöhung hätte einen weiteren Betrag von 12 Milliarden Papiermark bedingt, dessen Bewilligung der Reichstag mit Rücksicht auf die vom Reichsfinanzministerium erhobenen außenpolitischen Bedenken abgelehnt hätten. Das Reichsfinanzministerium sei sich darüber klar, daß die Notlage, die sich inzwischen erheblich verschärft habe, zu einer weiteren Neuregelung der Besoldungen in nächster Zeit zwinge. Die Lage sei für die Regierung dadurch erschwert, daß der Reichstag über die seitens der Regierung mit den Beamtenvertretungen usw. getroffenen Vereinbarungen habe hinausgehen wollen. Anscheinend habe der Deutsche Beamtenbund entgegen den getroffenen Abreden nach der Verhandlung mit der Regierung auf den Reichstag eingewirkt, um eine weitere Erhöhung zu erreichen. Wenn die Gewerkschaften sich auf den Standpunkt stellten, daß das mit der Regierung Vereinbarte nur als das Minimum ihrer Forderungen anzusehen sei und sich daran später nicht gebunden hielten, so werde man wohl dazu kommen müssen, bei neuerlichen Verhandlungen lediglich die Gewerkschaften anzuhören, ohne mit ihnen eine feste Basis zu vereinbaren. Vielleicht empfehle es sich, diesen letzteren Weg sofort zu beschreiten, um kommenden Schwierigkeiten vorzubeugen.

Reichsminister Dr. Köster führt aus, daß das Reichsministerium des Innern gleich nach dem Streik erwogen habe, einen Entwurf betreffend Streikverbot vorzulegen; die damalige politische Lage habe aber dazu geführt, daß das Reichsministerium des Innern von der Vorlage abgesehen habe. Heute einen solchen Entwurf vorzulegen, halte er ebenfalls für untunlich, da zweifellos die vorhandene Notlage die Situation verschärfen und ein solches Gesetz den allergrößten Schwierigkeiten begegnen würde. Vielleicht werde für die Vorlage der Moment dann gekommen sein, wenn die neuerlich einzuleitenden Verhandlungen betr. Besoldung im Gange seien. Seitens des Reichsministeriums des Innern sei alles geschehen, um die Disziplinarverfahren zur beschleunigten Erledigung zu bringen.

Ministerialdirektor Falk berichtet im einzelnen über das zur Beschleunigung der Disziplinarverfahren Veranlaßte und erklärt, daß das Reichsministerium des Innern nicht in der Lage sei, den richterlichen Disziplinarkammern in dieser Beziehung bestimmte Vorschriften zu machen. Die ersten Fälle würden frühestens Mitte Mai zur Entscheidung kommen.

Ministerialdirektor v. Schlieben schlägt darauf vor, das Reichsfinanzministerium zu beauftragen, die Spitzenorganisationen gleich nach Ostern zu unverbindlichen Verhandlungen einzuladen.

[703] VizekanzlerBauer stellt fest, daß das Kabinett hiergegen keine Bedenken hat. Eine Anfrage soll noch einmal nach Genua gerichtet werden.

Minister Giesberts betont noch, daß es ihm zweckmäßig erscheine, bei neuen Gehaltsregelungen vorher mit der Industrie Fühlung zu nehmen, um zu vermeiden, daß das Reich mit seinen Löhnen über die Löhne der Industrie hinausgehe und dadurch letztere zwinge, ebenfalls mit den Löhnen hinaufzugehen10.

Ministerialdirektor Hitzler erwidert, daß nach seinen Erfahrungen die Industrie noch heute mit den Löhnen weit voraus sei, auch sei es unendlich schwer, von der Industrie zutreffende Berichte über die gezahlten Löhne zu erhalten.

VizekanzlerBauer richtet noch die Bitte an den Herrn Reichsminister des Innern, für den Fall eines neuen Streiks, der Schutzpolizei seine besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Ferner wird der Reichsverkehrsminister auch seinerseits für alle Fälle das Erforderliche vorbereiten.

Fußnoten

5

Am 4. und 5. April hatte in Berlin die Hauptversammlung der Reichsgewerkschaft der Eisenbahner getagt, auf der der Vorstand neu zu wählen war.

6

Siehe Dok. Nr. 211 Anm. 8.

7

Die Fachgewerkschaft der deutschen Eisenbahn-Verkehrsbeamten in gehobener Stellung z. B. teilte der Rkei am 26.4.22 ihren Austritt aus der Reichsgewerkschaft mit (R 43 I /2023 , Bl. 208).

8

Der Bundestag des Deutschen Beamtenbundes tagte vom 7. bis 9. 4. in Berlin; über das bei den Neuwahlen des Vorstandes zutagegetretene Verhältnis der Richtungen innerhalb des Bundes berichtete die DAZ am 9.4.22 u. a.: „Der gemäßigte Flügel der Beamtenschaft umfaßt etwa zwei Drittel des Deutschen Beamtenbundes, der radikale Flügel um Menne macht ein Drittel aus, besitzt aber größere Aktivität.“ (DAZ Nr. 169, weitere Presseausschnitte in R 43 I /2125 , Bl. 59 f.). Der Bundestag hatte im übrigen das Streikrecht für Beamte abgelehnt.

9

Ein aus Genua vom 15.4.22 datierter Entwurf eines Schreibens des RK an den RIM greift diese Frage wie folgt auf: „Von der Reichskanzlei ist mir ein Auszug des Protokolls über die letzte Kabinettssitzung zugegangen. In dieser Kabinettssitzung ist von Herrn Kollegen Groener und Ministerialdirektor Hitzler die Möglichkeit eines neuen Eisenbahnerstreiks behandelt worden. Ich selbst sehe nicht ohne Besorgnis über unsere innere Lage in die Zukunft und wäre daher Ihnen, hochverehrter Herr Kollege, zu Dank verpflichtet, wenn Sie die Vorbereitungen bei der Technischen Nothilfe mit allem Nachdruck so weit fördern möchten, daß bei Ausbruch eines Eisenbahnerstreiks, von dem man nicht weiß, welche anderen Arbeitseinstellungen er nach sich ziehen wird, sofort gründlich eingegriffen werden kann. Bei unseren inneren Verhältnissen wäre es nicht wohl erträglich, wenn nicht sofort alles geschähe, um die Folgen eines Streiks auf das Mindestmaß an Wirkung herabzusetzen. Auch die außenpolitische Lage verlangt eine solche technische Bereitschaft, da das Ausland im Falle eines Streiks nach der Schnelligkeit und Nachdrücklichkeit der eingesetzten Gegenmaßnahmen das Maß der Staatsautorität zu bewerten geneigt ist.“ (R 43 I /2125 , Bl. 66).

10

Die Vereinigung der Deutschen Arbeitgeber-Verbände führt in einem Schreiben vom 24.4.22 Klage darüber, daß das Reich zum Zweck der Anlehnung der Reichs- und Staatslöhne an die Industrielöhne sogenannte Überteuerungszuschüsse zahle, die der Differenz zwischen den in der Industrie gezahlten und den im Reichslohntarifvertrag festgesetzten Lohnsätzen entsprächen. Neuerdings erhielten auch die Reichsbeamten Überteuerungszuschüsse, was zur Folge habe, daß der einzelne Reichsbeamte mehr oder weniger daran interessiert sei, daß die Industrielöhne möglichst hoch stiegen. Damit müßten alle diejenigen Reichs- und Staatsbeamten, die im Schlichtungsverfahren an der Festsetzung der Industrielöhne beteiligt sind und ihr Amt gewissenhaft auffassen, ihre Unbefangenheit verlieren. Die automatische Abhängigkeit, die bei dem jetzigen Verfahren bestehe, müsse streng vermieden werden.“ (R 43 I /2564 , Bl. 174 f.).

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