1.82 (ma12p): Nr. 295 Der Reichskanzler an den englischen Ministerpräsidenten. 4. September 1924

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Nr. 295
Der Reichskanzler an den englischen Ministerpräsidenten. 4. September 1924

Stadtarchiv Köln, Nachlaß Marx, Nr. 113, Abschrift

[Kundgebung der Reichsregierung zur Kriegsschuldfrage]

Persönlich und vertraulich!

Sehr verehrter Herr Ministerpräsident!

Durch unseren Botschafter in London habe ich Ihnen bereits für Ihr freundliches Schreiben vom 22. v. Mts.1 meinen Dank übermittelt und die darin gestellte Frage hinsichtlich unserer inoffiziellen Vertretung in Genf beantworten lassen2. Wenn ich mir heute erlaube, in Fortsetzung dieses Schriftwechsels auf das Hauptthema desselben, die Kriegsschuldfrage, noch einmal zurückzukommen, so geschieht das in dem gleichen Geiste der Offenheit und des persönlichen Vertrauens, der unsere bisherigen Beziehungen beherrscht hat, und aus dem Bedürfnis heraus, der großen gemeinsamen Sache des Friedens und der Wiederannäherung unserer Völker zu dienen. Ich mache somit zugleich von ihrem freundlichen Anerbieten, in wichtigen politischen Fragen einen privaten Meinungsaustausch mit Ihnen zu pflegen, in einer überaus bedeutsamen Angelegenheit Gebrauch.

Als ich mich mit meinen Kollegen der Deutschen Delegation zur Konferenz nach London begab, da war uns von der Mehrheit der deutschen Reichstagsparteien aufgegeben worden, die Kriegsschuldfrage, deren tiefe sittliche und politische Bedeutung für das deutsche Volk ich Ihnen in meinem Briefe vom 16. v. Mts.3 dargetan habe, in jedem Falle auf der Konferenz zur Sprache zu[1020] bringen. Die schwerwiegenden Bedenken psychologischer Art, die gegen einen solchen Schritt sprachen und auf welche Sie in Ihrem Schreiben vom 22. v. Mts. in so überzeugender Weise hingewiesen haben, waren uns Delegierten durchaus bekannt, und wir unterließen es daher zunächst, die günstig verlaufenden Verhandlungen mit der Aufrollung der Kriegsschuldfrage zu belasten. Als jedoch in der für uns vitalsten Frage, der Ruhrräumung, es sich erwies, daß der von uns zu erzielende Erfolg so unvermutet weit hinter den Hoffnungen und berechtigten Erwartungen des deutschen Volkes zurückbleiben würde – eine Frage, über die ich mich in überaus ernster und eingehender Weise in London mit Ihnen unterhalten durfte –, glaubten wir unsere Vollmachten nicht noch weiter nach der negativen Seite hin überschreiten zu dürfen, indem wir auch in der Schuldfrage mit leeren Händen zurückkehrten.

Wir bereiteten daher eine entsprechende Erklärung für meine Abschiedsansprache vor der Konferenz vor4, und es ist lediglich dem Umstande zu verdanken, daß ich Sie, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, nicht unmittelbar vor der Eröffnung der Schlußsitzung sprechen konnte, um Ihnen loyalerweise den Wortlaut meiner Ansprache vorzulegen, daß die Erklärung unterblieb und stattdessen Ihnen in Form eines Privatbriefes zuging5.

Unsere in London gehegten Befürchtungen haben sich leider als nur zu berechtigt erwiesen: Das Unterlassen einer offenen Kundgebung zur Schuldfrage ist von maßgebenden Parteien der Deutschen Delegation aufs ernsteste vorgeworfen worden, und es ist nur durch die Zusage einer Nachholung dieses Versäumnisses möglich gewesen, die zur Durchführung der Londoner Gesetze erforderliche Mehrheit im Deutschen Reichstage zu erlangen6. Ohne solche Zusage wären die Gesetze gescheitert.

Die Kundgebung, welche das in London Versäumte nachholen sollte, ist bereits hier in der Öffentlichkeit erfolgt7, und es steht die Übermittlung an die einzelnen Regierungen nunmehr bevor. Die Presse in einigen Ententeländern hat bereits auf das lebhafteste gegen die Kundgebung Stellung genommen, und die von Ihnen ausgesprochenen Befürchtungen hinsichtlich der Wirkungen eines solchen Schrittes scheinen sich in großem Umfange zu bewahrheiten.

Um zu vermeiden, daß aus dieser Stellungnahme schwerer Schaden erwachse, und um die für die Welt unentbehrlichen Erfolge der Londoner Konferenz – welche in erster Linie herbeigeführt zu haben Ihr unvergängliches Verdienst bleiben wird – sicherzustellen, erlaube ich mir, diese persönlichen Zeilen an Sie zu richten.

Ich bitte Sie, bei der Beurteilung unseres Schrittes, der, wie bereits ausgeführt, dem von Ihnen erteilten Rat nicht entspricht, zunächst zu bedenken, daß unsere Erklärung sich lediglich auf die moralische Seite des Versailler Vertrages bezieht und die materiellen Reparationsverpflichtungen in keiner Weise berührt. Unser Schritt ist erfolgt, nachdem die Deutsche Regierung durch[1021] die Annahme des Dawes-Planes und durch die verfassungsmäßige Sicherstellung der Durchführung aller in diesem Plane vorgesehenen Maßnahmen und Einrichtungen unzweideutig vor der Welt den Erfüllungswillen hinsichtlich der Reparationsfrage in ihrer neuen Gestalt zu erkennen gegeben und sich auf diese Erfüllung bindend festgelegt hat. Es kann somit gegenüber dem klaren Wortlaut unserer Kundgebung und dem gleichzeitig unter Billigung und Bestätigung der Reparationskommission erfolgenden Vollzug auf jedem Gebiete nicht die Rede davon sein, daß die Erklärung in der Schuldfrage den bindenden Charakter der von uns in den Londoner Abmachungen übernommenen Verpflichtungen irgendwie verletze.

Und nun zur psychologischen Seite der Angelegenheit: Sie haben in Ihrem Briefe8 darauf hingewiesen, daß man dem deutschen Volke vorwerfe, für die Psychologie anderer Nationen kein Verständnis zu haben. Demgegenüber darf ich bitten, nicht außer acht zu lassen, daß das deutsche Volk schwer unter der Empfindung leidet, seine besondere Eigenart von den anderen Völkern nicht genügend berücksichtigt zu sehen. Hinsichtlich der Kriegsschuldfrage beachtet man im Auslande zu wenig, wie tief der Schuldspruch von Versailles den Gerechtigkeitssinn der zum Verbrecher an der Menschheit gestempelten deutschen Nation verletzten muß. Das Gefühl der entehrenden Ungerechtigkeit, die dieser Schuldspruch uns angetan hat, ist so stark und so allgemein, daß jede Opposition innerhalb Deutschlands, die die jeweilige Regierung angreifen will, der öffentlichen Meinung gegenüber ein leichtes Spiel hat, wenn sie mit einem Hinweis auf das Verdikt von Versailles arbeitet. Sie haben bei unseren Londoner Besprechungen mehrfach darauf hingewiesen, daß die Konferenz in erster Linie dem Zwecke diene, eine neue Note in die Beziehungen zwischen den Parteien des Versailler Vertrages hineinzubringen; die Londoner Konferenz stelle die erste Gelegenheit dar, bei der die deutschen Vertreter in völliger Gleichberechtigung mit den Vertretern der Ententestaaten verhandelt hätten. Sie haben mir in Ihrem Briefe angedeutet, daß Sie die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund anstreben. Ist es nicht eine logische Folgerung dieser neuen Stellungnahme, daß der Makel des Verbrechertums, der durch den Schuldspruch von Versailles dem deutschen Volke auferlegt worden ist, beseitigt werde?

Schließlich aber darf ich Sie noch an ein Wort erinnern, welches Sie in unseren Londoner Unterredungen bei mehr als einer Gelegenheit anwandten: ich meine den Ausspruch, daß Ihnen in gewissen Angelegenheiten die Hände gebunden seien, die volle Bewegungsfreiheit fehle. Auch ich und meine Regierung unterliegen derartigen Gebundenheiten innen- und außenpolitischer Art in vermutlich noch weit höherem Maße als Sie, und eine solche Bindung ist es gewesen, die es mir unmöglich gemacht hat, Ihren wohlgemeinten und von mir in diesem Sinne überaus hochgewerteten Ratschlag hinsichtlich der Behandlung der Kriegsschuldfrage zu befolgen.

[1022] Ich hoffe, diese offenen und vertraulichen, nur für Sie persönlich bestimmten Worte werden dazu dienen, um Ihnen unseren Schritt, der im Anschluß an diesen Brief erfolgt, nämlich die Bekanntgabe unserer Kundgebung zur Kriegsschuldfrage an die fremden Regierungen9, verständlich zu machen. Ich möchte auf diese Weise verhindern, daß schwere politische Nachteile, welche den Erfolg unserer Londoner Arbeiten vereiteln könnten, aus einer mißverständlichen Aufnahme der Kundgebung durch Ihre und die mit Ihnen verbündeten Regierungen – eine Wirkung, die wir weder wünschen noch beabsichtigen – erwachsen.

Indem ich nochmals zum Ausdruck bringe, wie hoch ich die Möglichkeit des erwünschten Gedankenaustausches mit Ihnen, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, einschätze, bin ich mit der Versicherung meiner ausgezeichnetsten Hochachtung

Ihr sehr ergebener

gez. Marx10

Fußnoten

1

Schreiben des engl. MinPräs. MacDonald an RK Marx vom 22. 8.: Anhang, Dok. Nr. 11, Anm. 4.

2

Auf die Anfrage MacDonalds hin war Harry Graf Kessler beauftragt worden, bei der Völkerbundsversammlung in Genf im September 1924 als inoffizieller dt. Beobachter und Verbindungsmann zu MacDonald zu fungieren.

3

Anhang, Dok. Nr. 11.

4

S. Anhang, Dok. Nr. 1, Anm. 60.

5

Gemeint ist der Brief des RK an den engl. MinPräs. vom 16. 8. (Anhang, Dok. Nr. 11).

6

Vgl. Dok. Nr. 289, P. 1

7

Kundgebung der RReg. zur Kriegsschuldfrage vom 29. 8.: Dok. Nr. 290.

8

Anm. 1.

9

Die Notifizierung der Kriegsschuldkundgebung an die all. Regierungen wird jedoch aufgeschoben; vgl. die diesbezügliche Aufzeichnung des AA, Dok. Nr. 298.

10

Ein ähnliches Schreiben richtet der RK am 4. 9. an den frz. MinPräs. Herriot (Abschrift im Stadtarchiv Köln, Nachlaß Marx , Nr. 113). Die Schreiben des RK an MacDonald und Herriot werden nach Genf übermittelt, wo die beiden Ministerpräsidenten am 3. 9. zur Teilnahme an der Völkerbundsversammlung eingetroffen waren.

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