1.45 (lut2p): Nr. 214 Notizen des Reichspräsidenten für die Vorarbeiten zur Londoner Konferenz. 2. November 1925

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 9). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Luther I und II (1925/26), Band 2.Das Kabinett Luther I Bild 102-02064Reichspräsident Friedrich Ebert verstorben Bild 102-01129Hindenburgkopf Bild 146-1986-107-32AStresemann, Chamberlain, Briand Bild 183-R03618

Extras:

 

Text

RTF

Nr. 214
Notizen des Reichspräsidenten für die Vorarbeiten zur Londoner Konferenz. 2. November 19251

R 43 I /429 , Bl. 95-97

1) Artikel 1 des Locarnoer Vertrags2 muß klar feststellen, daß ein Verzicht auf Elsaß-Lothringen und alles andere abgetretene Gebiet daraus nicht gefolgert und uns später vorgehalten werden kann.

2) Artikel 6 des Locarnoer Vertrags besagt, daß der Versailler Vertrag in seinen Rechten für die Feinde und den Pflichten für uns unberührt bleibt, soweit[826] nicht im Locarnoer Vertrag Frankreich und England auf Rechte des Versailler Vertrags besonders verzichten. Hieraus ergibt sich, daß Artikel 227 und 228 des Versailler Vertrags3 noch zu Recht bestehen, wenn auch die französische Regierung stillschweigend auf Anwendung dieser „Strafbestimmungen“ verzichtet hat.

3) Ähnlich liegt es mit Artikel 231 des Versailler Vertrags, wonach wir die Kriegsschuld oder Urheberschaft für den Krieg anerkannt haben. Unsere schriftliche Erklärung vom 20. September 19254 und unsere mündliche Erklärung in Locarno5 bedürfen daher noch der Präzisierung.

4) Artikel 42–44 des Versailler Vertrags müssen beseitigt werden, weil dauernde Entmilitarisierung der Rheinlande, Badens und der Pfalz eine Beschränkung unserer Hoheitsrechte, mithin eine Entehrung, bedeutet.

5) Artikel 16 des Versailler Vertrags6 legt uns durch Unterschrift von Locarno an sich die bindende Verpflichtung auf, auf Beschluß des Völkerbundsrats uns an wirtschaftlichen und kriegerischen Maßnahmen zu beteiligen und den Streitkräften eines jeden Völkerbundsmitgliedes den Durchzug durch unser Gebiet zu ermöglichen. Es ist fraglich, ob die am Schluß der Verhandlungen von Locarno abgegebene Kollektivnote7 genügt, um diese Verpflichtung aufzuheben und sicherzustellen, daß Deutschland Rußland gegenüber stets neutral bleiben kann. Durch einseitige Westorientierung werden wir wirtschaftlich und politisch in Abhängigkeit der Westmächte und Amerikas gebracht. Die Schweiz ist förmlich von der Wirksamkeit des Artikel 16 entbunden worden8, während wir nur einige Phrasen bekommen haben, die eine mehrfache Deutung zulassen.

6) Durch Eintritt in den Völkerbund geben wir für ein Phantom den Rest unserer Selbständigkeit auf. Alle anderen Staaten haben zwar auch die Beschränkung ihrer Freiheit übernommen, aber sie sind militärisch stark genug, um sich militärisch auch durchzusetzen.

7) Das Kündigungsrecht des Artikel 8 des Locarnoer Vertrags ist rein illusorisch, weil sich im Völkerbundsrat kaum eine Zweidrittelmehrheit finden wird, die bei einem Widerspruch Frankreichs den Locarnoer Vertrag für entbehrlich und den Völkerbund für hinreichend erklären wird.

8) Unsere Herren haben in Locarno nur in gesellschaftlicher, nicht in sachlicher Beziehung eine Gleichberechtigung erfahren.

[827] 9) Briand hat in bezug auf Erleichterungen für unsere besetzten Gebiete keinerlei bindende Verpflichtungen übernommen, sondern nur persönliche Versprechungen allgemeiner Art abgegeben9. Wenn die Entente trotzdem einige dieser Erleichterungen gewährt, so geschieht dies lediglich, um uns willfähriger zur Annahme des Locarnoer Vertrags zu machen und vor der Welt eine schöne Geste zu zeigen, bei der sie obendrein noch Geld sparen.

10) Da es schwerfällt, unserm Volk in kurzer Zeit den Unterschied zwischen kleinen augenblicklichen Vorteilen und der dauernden Knebelung des Deutsch-tums klarzumachen, so ist bei Neuwahlen ein Ruck nach links leicht möglich. Deshalb muß Reichstagsauflösung vermieden und in London versucht werden, durch feste Haltung Klärung der strittigen Fragen im Sinne des Vorstehenden zu erreichen, so daß die Reichsregierung auf der bisherigen breiten Basis weiterbestehen kann.

von Hindenburg

Fußnoten

1

Das Dokument trägt die folgende eigenhändige Überschrift v. Hindenburgs: „Notizen für die Vorarbeiten zur Londoner Konferenz. Vertraulich.“ Ein Begleitschreiben liegt nicht bei, Vermerke über die Umstände der Übermittlung fehlen.

2

Zum Inhalt des Art. 1 und zur Beratung in Locarno am 7. 10. s. Dok. Nr. 175.

3

Art. 227 stellt Wilhelm II. unter internationale Anklage, sieht hierfür die Einsetzung eines all. Gerichtshofs vor und kündigt ein Auslieferungsersuchen an die Holländische Regierung an.

Nach Art. 228 ist Dtld. verpflichtet, die Strafverfolgung dt. Staatsbürger, die wegen Kriegsverbrechen angeklagt sind, und ihre Aburteilung durch all. Militärgerichte zuzulassen. Es hat diese Personen auf all. Antrag auszuliefern.

4

Muß heißen: Erklärung vom 26. September 1925. Gemeint ist das dt. Memorandum in der Kriegsschuld- und Räumungsfrage. S. dazu Dok. Nr. 159, dort bes. Anm. 1 und Dok. Nr. 160.

5

S. die Ausführungen Stresemanns in der Vollsitzung am 8. 10. (Dok. Nr. 179).

6

Richtiger: Art. 16 der Völkerbundssatzung (Teil I des VV).

7

S. Anlage F zum Schlußprotokoll von Locarno (RGBl. 1925 II, S. 1008 ).

8

Die Schweiz war dem Völkerbund am 16.5.20 beigetreten, nachdem der Völkerbundsrat sie in seiner Londoner Erklärung vom 13.2.20 wegen ihres Neutralitätsgrundsatzes von der Teilnahmeverpflichtung an militärischen Sanktionen entbunden hatte.

9

Vgl. dazu Dok. Nr. 174 und 194.

Extras (Fußzeile):