1.127 (str2p): Nr. 241 Aufzeichnung des Reichsfinanzministers über Maßnahmen im besetzten Gebiet und den Gedankengang einer Kundgebung. 12. November 1923, 14.30 Uhr

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Nr. 241
Aufzeichnung des Reichsfinanzministers über Maßnahmen im besetzten Gebiet und den Gedankengang einer Kundgebung. 12. November 1923, 14.30 Uhr

Pol.Arch.: Büro RM PA, Bd. 11

I.

Neben den formellen Maßnahmen, wie insbesondere allen erforderlichen Einladungen, sind folgende 4 Maßnahmen zu ergreifen:

1.

Ernstester Versuch, eine Weiterzahlung auch der Erwerbslosenunterstützung im besetzten Gebiet auf 10 Tage nach dem 15. November zu ermöglichen2.

[1028]Im Zusammenhang damit müssen die Kommunen den ihnen vom Reich gebotenen Notgeld-Weg gehen3.

2.

Erlaß einer Verordnung nach Art. 48, wonach eine Stelle des besetzten Gebietes ermächtigt wird, von den Reichs- und Landesgesetzen abweichende Vorschriften zu erlassen4.

3.

Eine allgemeine Kundgebung, deren Gedankengang weiter unten folgt.

4.

Eine Zugänglichmachung dieser Kundgebung für alle Beamten im besetzten Gebiet mit der Aufforderung, treu auf ihrem Platz auszuharren.

II.

Gedankengang der Kundgebung:

1.

Zunächst rückblickend die Feststellung, daß Deutschland seit Aufgabe des passiven Widerstandes alles nur Menschenmögliche getan hat, um auf der einen Seite mit Frankreich in Verhandlungen zu kommen und auf der anderen Seite, soweit es in seiner Kraft läge, Übergangsmittel zur Inlaufsetzung des Wirtschaftslebens bereitzustellen.

Umgekehrt hat Frankreich ungeachtet der Erklärung des Berliner Botschafters, daß 24 Stunden nach Einstellung des passiven Widerstandes die Verhandlungen beginnen würden5, jeden Versuch einer Lösung vereitelt. Insbesondere hat Frankreich das Beschreiten des einzig möglichen Weges, nämlich des Verhandelns von Regierung zu Regierung, abgelehnt6. In der Eisenbahnfrage verhandelt Frankreich mit uns nur wie mit dem Unternehmer eines Gewerbebetriebes7. Die Verhandlungen mit den privaten Gewerbeunternehmern sind8 in der Hauptsache immer weiter hingeschleppt9. Dadurch ist eine riesige Arbeitslosigkeit10 entstanden, die auch die kräftigste Währung entzweimachen würde, und an der die deutsche Währung vollends zerbrochen ist, wie die Entwicklung des Markkurses gerade der letzten 1½11 Wochen zeigt12. Durch diese Entwicklung ist ein Zustand hervorgerufen, der es für Deutschland völlig unmöglich macht, die ungeheuerlichen Lasten des besetzten Gebietes weiter zu tragen. Der furchtbare Zerfall der Markwährung nötigt ferner Deutschland, übrigens im Einklang mit der immer von der Entente aufgestellten Forderung nach Währungsreformen in Deutschland, die Rentenmark zum ehemöglichsten[1029] Zeitpunkt einzuführen13, wenn nicht die deutschen Städte überhaupt verhungern sollen. Dieser Zeitpunkt ist der 15. Nov. Nach diesem Zeitpunkt kann Deutschland nur noch auf Grund außerordentlicher Maßnahmen für ganz kurze Frist Leistungen in das besetzte Gebiet vollbringen; Zahlungen hoher Beträge, wie sie die Erwerbslosenfürsorge verlangt, keinesfalls über den 25. November hinaus und auch sonstige Zahlungen kaum auf einen nennenswert längeren Zeitraum, wobei übrigens Voraussetzung jeder Zahlung ist, daß die Kommunen gegen Deckung durch das Reich mit dem von ihnen auszugebenden Notgeld die Bewirkung der Zahlungen alsbald übernehmen14. <Zahlungen für Besatzungszweck15 müssen16 sofort eingestellt werden, da sie uns noch ein . . .17 fürsorge für die eigene Bevölkerung ermöglichen könne.>18 Angesichts der gesamten politischen Verhältnisse im besetzten Gebiet und angesichts des vollen Niederbruchs der Papiermarkwährung würde auch die (19 übrigens noch nicht erteilte20) Genehmigung zur Zahlung mit Rentenmark im besetzten Gebiet nichts nützen, da keine hinreichende Möglichkeit besteht, daß die Rentenmark durch Einzahlung auf Steuern und an sonstigen Reichskassen, wie z. B. den Eisenbahnen, in den Besitz des Reiches zurückkehrt.

2.

Folgerungen: Nachdem alle bisherigen Verhandlungen gescheitert sind und dadurch der vorstehende Zustand entstanden ist, bleibt nichts weiter übrig, als die tatsächlichen Verhältnisse im besetzten Gebiet zum Ausgangspunkte der Entschließungen zu machen. Rechtlich gehört das besetzte Gebiet nach wie vor zum Deutschen Reich und zu den Ländern. Frankreich und Belgien haben sowohl das neubesetzte Gebiet wie durch Umwandlung des bisherigen Verfahrens im altbesetzten Gebiet eine occupatio quasi bellica21 herbeigeführt, die sich zum Nachteil der Bewohner des besetzten Gebiets von einer wirklichen kriegerischen Okkupation dadurch unterscheidet, daß die Haager Landkriegsordnung keine Anwendung findet22. Der tatsächliche Einfluß des rechtmäßigen Inhabers der Souveränität ist aber jetzt an den entscheidenden Punkten ebenso gering wie bei einer kriegerischen Okkupation.

[1030] Dieser Zustand hat sich entwickelt aus einer Verletzung des Vertrages von Versailles (Beweis: England23 und hat die tatsächliche Unmöglichkeit von Leistungen auf Grund eben dieses Vertrages für Deutschland herbeigeführt. Auch die auf der Grundlage dieses Vertrages von Deutschland immer wieder gemachten Schritte, um zu einer anderweitigen Regelung der Verhältnisse zu kommen, sind nicht nur Frankreich und Belgien gegenüber, sondern den gesamten Vertragsgegnern gegenüber gescheitert. Nicht einmal der von Deutschland in äußerster Not gestellte formelle Antrag, auf Grund des Art. 234 des Vertrages zu einer Neueinschätzung der deutschen Leistungsfähigkeit zu kommen, ist erledigt worden24. Diese tatsächlichen Umstände zwingen Deutschland zu der Erklärung, daß der Vertrag von Versailles für Deutschland solange ruht, bis eine Neuregelung zustande gekommen ist. Eine Neuregelung erwartet Deutschland dadurch, daß die Machthaber der Welt angesichts der jetzt eingetretenen tatsächlichen Verhältnisse von sich aus geeignete Maßnahmen ergreifen, um eine Neuordnung der Dinge herbeizuführen, die so gestaltet ist, daß Deutschland nur Lasten auferlegt werden, die es nach dem Maßstabe seiner Leistungsfähigkeit zu erfüllen vermag. Diese Verpflichtung der Machthaber der Welt ist umso deutlicher, als durch die oder mit ihrer Duldung die Wehrlosmachung Deutschlands herbeigeführt worden ist.

In der Zwischenzeit muß Deutschland die ganze Verantwortung vor Gegenwart und Geschichte für die besetzten Gebiete denen überlassen, die dort tatsächlich die Gewalt ausüben25. Indem sie diese Gewaltausübung an sich gerissen haben, haben sie gleichzeitig die Verantwortlichkeit für das Los der Menschen übernommen, die sie ihrer Gewalt unterwarfen. Um angesichts dieser Verhältnisse für die Zwischenzeit bis zu der erwarteten Regelung durch die Machthaber der Welt der Bevölkerung der besetzten Gebiete, die vom Rechtsstandpunkt aus untrennbar mit dem Deutschen Reich und den Ländern verbunden sind, die Herstellung einer Lebensmöglichkeit auf Grund der tatsächlichen Verhältnisse zu geben, haben sich der Reichspräsident und die Reichsregierung entschlossen, auf Grund des Art. 48 der Verfassung eine Anordnung zu erlassen, wonach ein bestimmtes zum besetzten Gebiet gehöriges Organ die Befugnis erhält, Vorschriften der Reichs- und Landesgesetzgebung außer Wirksamkeit zu setzen und diese Befugnis anderen vorhandenen oder zu bildenden deutschen Organen des besetzten Gebietes zu übertragen26.

Fußnoten

1

Die Aufzeichnung trägt keine Überschrift, hs. ist über der ersten Seite vermerkt: „Sofort Herrn Reichskanzler Dr. Stresemann wunschgemäß. Luther 12.11.23. Nachm. 2.30 Uhr“. Diese Aufzeichnung dürfte im Anschluß an eine Besprechung beim RPräs. entstanden sein (s. dazu K. D. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik, S. 129, Anm. 10) und auch in Verbindung mit einer Besprechung gesehen werden müssen, die der RK mit Jarres, Luther und Fuchs am 11.11.23 auf einer Reise nach Halle geführt hatte (s. H. Luther, Politiker ohne Partei, S. 179 f.; K. D. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik, S. 128).

2

S. Dok. Nr. 227, P. 79; Dok. Nr. 232, P. 3.

3

S. Dok. Nr. 40, P. 10 sowie die Ausführungen des RFM in Dok. Nr. 233, P. 1.

4

Vgl. die Diskussion über die Fühlungnahme mit Tirard in Dok. Nr. 233, P. 1; Dok. Nr. 234.

5

Zur frz. Haltung in der Frage von Gesprächsaufnahmen s. die Unterredung zwischen Stresemann und de Margerie am 3.9.23, in: Vermächtnis I, S. 101 ff. sowie Anm. 12 zu Dok. Nr. 55; Anm. 8 zu Dok. Nr. 83.

6

S. Anm. 8 zu Dok. Nr. 83.

7

Zu den Eisenbahnverhandlungen in Mainz s. Dok. Nr. 183, Anm. 21.

8

Hs. korrigiert aus: „werden“.

9

Zum Stand der Micumverhandlungen, die hier gemeint sein dürften, s. Dok. Nr. 229.

10

Zur Arbeitslosigkeit s. Dok. Nr. 232, P. 3.

11

Die Ziffern sind hs. eingefügt worden.

12

Nach den Angaben der „Zeit“ vom 31. 10.–11.11.23 hatte der Wert des Dollars in Dtl. am 31.10.23 17,262 Mrd. M betragen, am 1.11.30,952 Mrd., am 2.11.76,119 Mrd., vom 3.–6.11.23 100 Mrd. und vom 7.–10.11.23 150 Mrd. M.

13

S. Dok. Nr. 136, P. 8.

14

Wie Anm. 2 u. 3.

15

S. hierzu Dok. Nr. 236.

16

Danach ausgestrichen: „ebenfalls mit dem 25. November spätestens eingestellt werden (fraglich, diese Zahlung ist sofort einzustellen).“

17

Vorsilbe nicht entziffert.

18

Der eingeklammerte Satz ist hs. am Seitenrand geschrieben worden.

19

Die Klammern sind hs. eingefügt worden.

20

S. hierzu Anm. 3 zu Dok. Nr. 254.

21

Vgl. hierzu die Auffassung von Jarres in Anm. 13 zu Dok. Nr. 210; ferner die Ausführungen Stresemanns in Anm. 2 zu Dok. Nr. 245.

22

Diese Aussage bezieht sich auf Abschnitt III der Haager Landkriegsordnung von 1907 (RGBl. 1910, S. 147  ff.); insbesondere dürften Art. 43 (Herstellung von Ordnung und des öffentl. Lebens unter Wahrung der Landesgesetze), Art. 45 (Verbot des Treueids zugunsten der Besatzungsmacht), Art. 46 (Schutz des Privateigentums), Art. 48 (Erhebung von Zöllen und Gebühren auf Grund der Landesvorschriften), Art. 52 u. 55 (Beschlagnahmungen nur im Rahmen der Leistungsfähigkeit) gemeint sein.

23

Bezug genommen wird wahrscheinlich auf die Erklärung der brit. Kronjuristen und die Äußerungen während der Imperial Conference.

24

S. hierzu Dok. Nr. 110; Dok. Nr. 144; Dok. Nr. 189.

25

S. hierzu die Fassung des Aufrufs in Anm. 10 zu Dok. Nr. 245.

26

S. hierzu wie zum Gesamtproblem des Aufrufs Dok. Nr. 242, P. 3; Dok. Nr. 245, 247, 249; Dok. Nr. 259, P. 3.

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