1.157.1 (lut2p): 1. Auswärtige Lage.

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1. Auswärtige Lage.

Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete über die im Anschluß an die Genfer Tagung eingetretenen Vorgänge. Es handele sich jetzt um die Frage, wie Deutschland zu der im Auswärtigen Amt eingegangenen Einladung zur Teilnahme Deutschlands an der Völkerbundskommission1 Stellung nehmen solle. Daß Deutschland sich an den Kommissionsarbeiten in irgendeiner Form beteiligen müsse, sei nicht zweifelhaft. Für die Art der Beteiligung könnten zwei Möglichkeiten ins Auge gefaßt werden, entweder die Form eines Beobachters oder die Form einer aktiven Teilnahme, die der der anderen Staaten gleiche. Er sei der Meinung, daß man die letztere Form wählen sollte, wobei aber klar zum Ausdruck gebracht werden müsse, daß sich trotz dieser Beteiligung der deutsche Vertreter in einer ganz besonderen Lage befände. Dieser[1243] Vorbehalt werde es gegebenenfalls Deutschland ermöglichen, sich aus der Gesamtsituation herauszuziehen, ohne Gefahr zu laufen, für ein Scheitern oder ein ungünstiges Ausgehen der Beratungen verantwortlich gemacht zu werden. Dem Vertreter Deutschlands sollten dabei für seine Haltung Richtlinien mitgegeben werden, die es ihm ermöglichten, im bestimmten Sinne an den Lösungen mitzuwirken. Diese Richtlinien sollten vielleicht folgende sein:

1.

Deutschland ist grundsätzlich mit der Erweiterung des Rates in der ordentlichen Septembertagung einverstanden; dabei ist ein neuer ständiger Sitz für einen großen noch nicht vertretenen Kontinent und ein weiterer neuer ständiger Sitz für Spanien vorzusehen2.

2.

Deutschland ist nicht der Auffassung, daß im Völkerbund die Großmächte dauernd überwiegen. Es sollen daher neben den zwei neuen ständigen Sitzen auch zwei neue nichtständige Sitze geschaffen werden.

3.

Es ist nicht angängig, daß nichtständige Sitze dadurch zu ständigen Sitzen werden, daß gewisse Länder immer wieder gewählt werden. Es wird also ein System der Auswechslung geschaffen werden müssen. Die Periode ist vielleicht auf drei Jahre zu bemessen.

4.

Die Auswechselbarkeit muß sich auf das jeweilige Land beziehen und muß unabhängig sein von seiner Beziehung zu irgendwelchen anderen Staaten. Jede Gruppenbildung im Völkerbund ist also, zum mindesten der Form nach, zu vermeiden. Wenn zur Zeit noch Gruppenbildungen vorhanden sind, so sollen sie nicht durch ein besonderes Wahlsystem stabilisiert werden.

Wenn die Auffassung des Kabinetts dahin gehe, daß in diesem Sinne ein Vertreter des Deutschen Reichs an den Kommissionsberatungen teilnehme, dann beabsichtige das Auswärtige Amt, in einem Schreiben an den Generalsekretär des Völkerbunds zum Ausdruck zu bringen, daß Deutschland die Einladung annehme, aber darauf aufmerksam machen müßte, daß Deutschlands Vertreter sich in einer anderen Lage befänden als die übrigen Vertreter und dieser Lage Rechnung getragen werden möchte. Ferner solle in diesem Schreiben darauf hingewiesen werden, daß selbstverständlich die Freiheit der Entschließung der Deutschen Regierung hinsichtlich des Eintritts in den Völkerbund durch seine Beteiligung an der Kommission in keiner Weise berührt werde. Die Reichsregierung müsse sich die Zurückziehung des Aufnahmegesuchs vorbehalten.

Es sei beabsichtigt, die Antwort erst nach Ostern [4./5. 4.] herausgehen zu lassen. Inzwischen solle die öffentliche Meinung auf das Kommende vorbereitet werden. Über das Ergebnis der heutigen Kabinettssitzung solle eine Mitteilung gemacht werden, die zum Ausdruck bringe, daß das Kabinett grundsätzlich der Beteiligung an der Kommission zuneige, die Beschlußfassung über die sachlichen Einzelheiten aber noch einer neuen Sitzung vorbehalten werden müsse.

[1244] Der Reichskanzler stellte sich auf den gleichen Standpunkt. Zwei Gefahren müßten vermieden werden:

a)

durch ein Einmischen unsererseits den anderen die Möglichkeit zu geben, bei einem Scheitern zuletzt auf Deutschland als den Schuldigen hinzuweisen,

b)

plötzlich vor vollendeten Tatsachen zu stehen und den Zeitpunkt verpaßt zu haben, wo Deutschland auf die Gestaltung der Dinge noch Einfluß hätte gewinnen können.

Der Reichsarbeitsminister bat zunächst um Bestätigung, daß an der Einstimmigkeit des Rates festgehalten werden soll.

Der Reichskanzler und der Reichsminister des Auswärtigen bestätigen dies.

Der Reichsarbeitsminister wies sodann darauf hin, daß eine besonders große Rolle wohl spielen werde die Frage der Aufrechterhaltung des Völkerbundes als Weltbund. Das sei die entscheidende Frage. Er neige, wie auch der Reichskanzler zum Ausdruck gebracht habe, der Entscheidung zu, daß für Deutschland der Weltbund die günstigere Institution sei. Es sei aber nicht von der Hand zu weisen, daß sich auch die Lage einmal ändern könnte; dies sei vielleicht für den Augenblick möglich, wo Deutschland zu einer wirtschaftspolitischen Verständigung mit den anderen europäischen Staaten komme. Aber vielleicht sei es auch dann möglich und zweckmäßig, die wirtschaftlichen Dinge neben dem Völkerbund zu verfolgen. Daß Deutschland an den Kommissionsarbeiten teilnehmen müsse, sei selbstverständlich, und zwar nicht nur als Beobachter.

Der Reichspostminister bezeichnete die neue Einstellung zu den Dingen in Genf als ein Abweichen von der bisherigen Stellungnahme. Er habe aber dafür Verständnis und es werde wohl nicht anders verfahren werden können. Das Wichtigste sei, daß sich die Deutsche Regierung die Entschlußfreiheit bewahre.

Der Reichsminister der Justiz hielt ebenfalls die Beteiligung für notwendig. Dabei sollte man die Idee des qualifizierten Beobachters nicht zu sehr in den Vordergrund stellen. Natürlich dürfe eine Festlegung der Regierung sich nicht ergeben. Den Richtlinien des Auswärtigen Amts schließe er sich an; an der Einstimmigkeit festzuhalten, müsse versucht werden. Auch er halte den Weltbund den deutschen Interessen mehr entsprechend als einen europäischen Staatenbund. Die Idee Pan-Europa sei an sich überhaupt unmöglich. Man brauche sich nur die Lage Englands im Verhältnis zu seinen Dominien vorzustellen.

Der Reichswirtschaftsminister führte aus, man möge bedauern, daß es zu dieser Situation, wie sie jetzt bestehe, gekommen sei. Man müsse aber jetzt mitarbeiten. Auch er halte den Weltbund für vorteilhafter, schon unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Bedürfnisse Deutschlands. Auf diesen wirtschaftlichen Gebieten sollte vielleicht sogar Deutschland die Initiative ergreifen. Dies sei vielleicht für die Kohlenfrage gegeben. Was das Verhältnis zu Polen anlange, so frage es sich, ob Deutschland den Eintritt Polens in den Rat erschweren oder mit in Kauf nehmen wolle. Verhindern würden wir den Eintritt wohl kaum können. Was das Kommuniqué anlange, so sei zu erwägen,[1245] ob man nicht schon jetzt zum Ausdruck bringen solle, daß sich Deutschland die Freiheit der Entschließung bezüglich des Eintritts vorbehalte. Es würde eine große Beruhigung der öffentlichen Meinung darstellen.

Der Reichsminister des Auswärtigen erwiderte bezüglich der Einstellung Deutschlands zu Polen, daß es ausgeschlossen sei, sich irgendwie grundsätzlich gegen die Zuwahl Polens zu wehren. Dagegen müsse sich Deutschland die Freiheit bewahren, im Völkerbund seinen Einfluß für oder gegen die Zuwahl Polens zur Geltung zu bringen. Dabei sei sicher, daß, wenn die Verhältnisse sich nicht änderten, Deutschland eine Gegenkandidatur unterstützen würde. Die Anregung des Reichswirtschaftsministers bezüglich des Kommuniqués halte er für nicht empfehlenswert. Man sollte erst in dem Schreiben an den Generalsekretär auf diesen Vorbehalt Deutschlands eingehen und dann auch erst der Öffentlichkeit Mitteilung machen.

Der Reichsminister des Innern teilte bezüglich dieses Punktes die Auffassung des Reichsministers des Auswärtigen. Auch bezüglich der Richtlinien und der Haltung des deutschen Vertreters stimmte er den Vorschlägen zu. Er gab aber zu erwägen, ob man nicht darauf hinwirken solle, daß Deutschland auf einer außerordentlichen Tagung allein in den Völkerbund und den Rat aufgenommen werde. Die ordentliche Tagung könne dann kurze Zeit darauf stattfinden und die anderen Dinge, über die man sich vorher verständigt habe, regeln.

Der Reichsminister der Finanzen stimmte der Beteiligung an der Kommissionsarbeit durch Deutschland zu. Bezüglich der einzuschlagenden Taktik behielt er sich die Stellungnahme vor, indem er davon ausging, daß darüber nochmals eine Kabinettssitzung stattfindet3.

Mit Zustimmung des gesamten Kabinetts wurde daraufhin die folgende Pressenotiz beschlossen:

„Das Reichskabinett hat sich in seiner heutigen Sitzung mit dem vor kurzem von dem Generalsekretär des Völkerbundes der Deutschen Regierung mitgeteilten Beschlusse des Völkerbundsrats beschäftigt, durch den Deutschland eingeladen worden ist, an den Beratungen der Kommission teilzunehmen, die demnächst die Frage der Zusammensetzung des Rats sowie der Zahl seiner Mitglieder und des Verfahrens ihrer Wahl prüfen solle.

Im Reichskabinett ist bei dieser ersten Erörterung der Angelegenheit die einmütige Auffassung zutage getreten, bei der weiteren Behandlung der oben gekennzeichneten Ratsfrage mitzuwirken.

Die Beschlußfassung über die sachlichen Einzelheiten ist einer späteren Kabinettssitzung vorbehalten worden.“

Fußnoten

1

Schreiben Drummonds an Stresemann vom 20. 3. – Beigefügt ist in frz. Fassung eine vom Völkerbundsrat am 18. 3. gebilligte Resolution betr. Bildung der Kommission zum Studium der Ratsreform. Danach sollen der Kommission neben den Mitgliedern des Rates Vertreter folgender Staaten angehören: Deutschland, Argentinien, China, Polen und Schweiz. Die Kommission solle am 10. 5. zu ihrer ersten Sitzung zusammentreten (Pol. Arch. des AA, Büro StS, Vöra Völkerbundsrat, Bd. 6).

2

Zur gegenwärtigen Sitzverteilung im Rat vgl. Anm. 5 zu Dok. Nr. 299.

3

S. Dok. Nr. 330, P. 2.

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