Text
[1005]2. Frage der Amnestie
Staatssekretär Joel: Die jetzt aufgerollte Frage der Amnestie sei außerordentlich bedenklich. Der Antrag der Deutschvölkischen gehe dahin, daß alle hochverräterischen Delikte mit Ausnahme gewisser Roheitsdelikte amnestiert werden sollten5. Der Standpunkt, den die Regierung einnehmen müsse, sei schwer zu finden. Man dürfe nicht verkennen, daß wir nach der Annahme des Londoner Pakts gezwungen sein würden, die gemeinsten Verbrecher in Freiheit zu setzen6.
Er habe erfahren, daß Ministerpräsident Braun und Minister am Zehnhoff gegen die gewünschte Amnestie seien.
Reichswehrminister Er habe die allerschwersten Bedenken gegen eine Amnestie. Auf jeden Fall könnten nur bereits verhängte Strafen erlassen werden. Auch der Reichsminister des Innern sprach sich gegen jede Amnestie aus.
Staatssekretär Meissner: Die von Minister Stresemann im Auswärtigen Ausschuß gegebene Zusage könne dahin ausgelegt werden, daß in einzelnen Fällen geprüft werden solle, ob eine Begnadigung Platz greifen könne.
Reichsminister des Auswärtigen Er habe in der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses lediglich in Aussicht gestellt, daß die Reichsregierung nach Verabschiedung des Londoner Pakts durch den Reichstag die Frage einer Amnestie prüfen wolle und sogleich auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die wegen der Länder beständen.
Es wurde beschlossen, daß in der am 29. August 1924, 8 Uhr vormittags stattfindenden Sitzung des Rechtsausschusses eine Erklärung der Reichsregierung dahin abgegeben werden solle, daß die Regierung entsprechend der vom Reichsminister des Auswärtigen in der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses abgegebenen Erklärung nach Verabschiedung der Dawes-Gesetze durch den[1006] Reichstag die Frage einer Amnestie prüfen und sich dieserhalb mit den Ländern in Verbindung setzen wolle7.
Fußnoten
- 5
Zur 3. Beratung des „Gesetzes über die Londoner Konferenz“ im RT legte die Nationalsoz. Freiheitspartei am 27. 8. folgende Entschließung vor: „Im Hinblick auf die in Anlage III Art. 7 des [Londoner] Schlußprotokolls vorgesehene Amnestierung der separatistischen Verräter wird die RReg. um sofortige Vorlage eines allgemeinen Amnestiegesetzes für politische Straftaten ersucht.“ (RT-Drucks. Nr. 522, Bd. 383). Noch am 27. 8. brachte die Nationalsoz. Freiheitspartei einen eigenen GesEntw. über Straffreiheit für politische Straftaten ein (RT-Drucks. Nr. 523, Bd. 383).
- 6
Art. 7 des „Abkommens zwischen den all. Regierungen und Deutschland“ (Anlage III zum Londoner Schlußprotokoll vom 16. 8.) sieht vor, daß sowohl die dt. Reg. wie auch die Besatzungsmächte alle politischen Straftaten amnestieren, die im Zusammenhang mit der Ruhrbesetzung in den besetzten Gebieten begangen worden sind (RT-Bd. 383, Drucks. Nr. 446, S. 34 f.). Unter diese Vereinbarung fallen auch die wegen separatistischer Umtriebe verurteilten oder angeklagten Deutschen.
- 7
S. die Beratung des mündlichen Berichts des Rechtsausschusses zu den vorliegenden Amnestieanträgen in der RT-Sitzung vom 29. 8. (RT-Bd. 381, S. 1098 ff.). In der Sitzung des RT vom 30. 8. werden sämtliche Amnestieanträge der Nationalsozialisten, Kommunisten und Sozialdemokraten abgelehnt (RT-Bd. 381, S. 1138 ff.).