1.117 (mu22p): Nr. 373 Der Reichsminister für die besetzten Gebiete an das Auswärtige Amt. 6. Dezember 1929

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[1236] Nr. 373
Der Reichsminister für die besetzten Gebiete an das Auswärtige Amt. 6. Dezember 1929

R 43 I /299 , Bl. 19 f., hier: Bl. 19 f. Abschrift

Betrifft: Reparationssanktionen; hier Arbeit des Juristenausschusses in Brüssel.

Durch die Arbeiten des von der Haager Konferenz am 31. August eingesetzten Juristenausschusses, deren Beginn jetzt unmittelbar bevorsteht1, kann m. E. die befriedigende Erledigung der Frage der Reparationssanktionen eine wesentliche Förderung erfahren. Ich möchte mir deshalb erlauben, hierzu zwei Gesichtspunkte zum Ausdruck zu bringen, von denen ich annehme, daß sie auch dort Gegenstand von Erwägungen sind. Ich gehe dabei davon aus, daß die Ausschaltung der Reparationssanktionen auf dem Wege der indirekten Formel erfolgen wird.

In erster Linie möchte ich darum bitten, daß jedem französischen Versuche, eine allgemeine Vorbehaltsklausel zugunsten des Versailler Vertrages in das Schlußprotokoll oder sonstige Schlußwerk der Haager Konferenz zu bringen, nachdrücklichst entgegengetreten werde. Frankreich ist es wiederholt gelungen, wichtigen Vertragswerken durch Einschieben eines solchen Vorbehalts einen großen Teil ihres juristischen und politischen Wertes zu nehmen. Ich möchte hier nur an Artikel 5 des sogenannten Sanktionsabkommens der Gläubigerregierungen auf der Londoner Konferenz 1924 (Anlage IV des Londoner Schlußprotokolls vom 16. August 1924)2 erinnern, ferner an Artikel 6 des Locarnopaktes3 und schließlich an den Vorbehalt zugunsten aller internationalen Verträge, den Frankreich bei den Vorverhandlungen zum Kellogg-Pakt seiner grundsätzlichen Zustimmung beigab (Materialien zum Kriegsächtungspakt, Berlin 1928, Seite 30 und 31 letzter Absatz)4. Da solche Vorbehalte ein wesentliches Hilfsmittel des politischen Systems Frankreichs sind, ist nicht ausgeschlossen, daß auch bei der bevorstehenden Tagung des Juristenausschusses Frankreich einen Vorstoß im Sinne eines solchen Vorbehalts unternimmt, der im Falle der Annahme des Vorbehalts den Wert einer indirekten Formel gegen die Reparationssanktionen wesentlich vermindern könnte.

In zweiter Linie möchte ich darum bitten, daß das System des Rechtsschutzes, das der Young-Plan bereits enthält, zu einem lückenlosen Rechtsschutz für den gesamten Bereich der Reparationsmaterie ausgestaltet werde. Die Bestimmungen des Young-Planes über das Auslegungsschiedsgericht (Art. 96 des Planes, Art. 38 und 120 der Anlagen des Planes)5 umfassen zwar sämtliche[1237] Fragen der Auslegung und Anwendung des Planes. Streitfälle wegen der Auslegung und Anwendung der zur Ausführung des Planes erlassenen deutschen Gesetzgebung, die bei dem Dawes-Plan hinsichtlich der Auslegungsfragen schon dem Auslegungsschiedsgericht unterstellt waren, wurden in den erwähnten Bestimmungen des Planes wohl nur deshalb weggelassen, weil sie den Rahmen des Planes selbst überschritten. In dieser Hinsicht wird die Ergänzung des Rechtsschutzes nur eine Selbstverständlichkeit sein. Mir scheint aber angesichts der Haltung der französischen Unterhändler bei den Pariser Komiteeberatungen über die Liquidation der Vergangenheit und den Übergang zu dem neuen Reparationssystem notwendig, in den Rechtsschutz auch die Streitfälle einzubeziehen, die auf dem Reparationsgebiet dadurch entstehen können, daß das Verhältnis des Young-Planes zu dem Versailler Vertrag oder das Reparationsrecht des Versailler Vertrages selbst, strittig wird. Hier ist die Schaffung einer gerichtlichen Instanz besonders notwendig, da andernfalls vom französischen Standpunkte aus die Zuständigkeit der Reparationskommission als der gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrages entscheidenden Instanz geltend gemacht werden könnte. Der zähe Widerstand, den die französischen Unterhändler in Paris der Auslöschung der nicht auf die Internationale Bank übergehenden Funktionen der Repko in bezug auf Deutschland entgegengesetzt haben, deutet in diese Richtung. Praktisch würde diese gefährliche französische These hauptsächlich in Frage kommen, wenn ein Verfehlungsbeschluß der Reparationskommission als Einleitung von Sanktionsmaßnahmen der Gläubigerregierungen von Frankreich und seinen Helfern betrieben würde. Es würde sich dabei um die französische Behauptung handeln, daß Deutschland eine Nichterfüllung oder eine Erfüllungsverweigerung zur Last falle, die bedeute, daß es sich von dem Sachverständigenplan lossage. Es würde nach französischer Auffassung in einem solchen Falle eben nicht um Auslegung oder Anwendung des Young-Planes gehen, so daß in diesem Stadium auch das Auslegungsschiedsgericht nicht zuständig wäre, das ja wohl auch, nach seiner Vergangenheit zu schließen, in Fragen des Versailler Vertrages zurückhaltend sein wird. Ich nehme an, daß von dort mit aller Entschiedenheit eine allgemeine Klausel über eine gerichtliche oder schiedsgerichtliche Instanz vertreten wird, die keinen denkbaren Teil der Reparationsmaterie beiseite läßt. Jede andere Regelung würde uns letzten Endes der französischen Willkür ausliefern.

Für gefällige Unterrichtung über die Entwicklung der Arbeiten wäre ich dankbar.

Der Herr Reichskanzler hat Abschriften erhalten.

gez. Wirth

Fußnoten

1

Die Juristenkonferenz für die Redaktion des Young-Plans nahm ihre Arbeit am 10.12.29 in Brüssel auf (WTB Nr. 2531 vom 9. 12.; R 43 I /299 , Bl. 85, hier: Bl. 85).

2

Siehe RGBl. 1924 II, S. 357 .

3

Siehe RGBl. 1925 II, S. 981 .

4

Diese Seitenzahlen stimmten auch mit denen in der 3. Auflage von 1929 überein.

5

Siehe RGBl. 1930 II, S. 438 , 478 , 506.

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