1.185 (mu22p): Nr. 441 Der Landeshauptmann der Provinz Ostpreußen an den Reichskanzler. Königsberg, 10. Februar 1930

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Nr. 441
Der Landeshauptmann der Provinz Ostpreußen an den Reichskanzler. Königsberg, 10. Februar 1930

R 43 I /1857 , Bl. 206-208, hier: Bl. 206-208

[Betrifft: Lage Ostpreußens.]

Hochzuverehrender Herr Reichskanzler!

Der 57. Provinziallandtag der Provinz Ostpreußen hat in seiner Vollsitzung vom 18. Januar in einer besonderen Entschließung hinsichtlich der Gestaltung des Liquidationsabkommens mit Polen der dringenden Erwartung Ausdruck gegeben, daß die Interessen der um ihre Existenz ringenden Provinz Ostpreußen nicht beeinträchtigt werden. Inzwischen ist der Inhalt des Liquidationsabkommens mit Polen zur Kenntnis der Öffentlichkeit gebracht worden, und zwar unmittelbar, nachdem durch die Denkschrift der Landeshauptleute ein letzter Appell an Reichs- und Staatsregierung ergangen war, dem schwer bedrängten Osten in seiner Not zu helfen1.

Der Bevölkerung hat sich darob ernste Besorgnis bemächtigt; denn sie sieht ihren Hilferuf noch unbeantwortet, andererseits aber in dem Liquidationsabkommen mit Polen eine neue Gefahr heraufziehen. Gedanken an ein Ost-Locarno werden wieder lebendig und lassen die schwersten Befürchtungen noch weiter um sich greifen.

Angesichts dieser Sachlage bitte ich dringend, die Reichsregierung wolle dieser Krisenstimmung unverzüglich mit einer Erklärung des Inhalts entgegentreten, daß alle Befürchtungen wegen eines Ost-Locarno grundlos sind und alle Maßnahmen getroffen werden, um dem Osten weitgehendste Unterstützung in seiner Notlage zuteil werden zu lassen.

Es besteht kein Zweifel, daß eine solche Kundgebung der Reichsregierung wesentlich dazu beitragen würde, die allgemein vorhandene Unruhe und Besorgnis[1448] in der Bevölkerung zu beschwichtigen und wieder einer zuversichtlicheren Stimmung Platz zu machen.

Was die besondere Lage Ostpreußens anlangt, so halte ich es für meine Pflicht, im Zusammenhang mit meinen vorstehenden Ausführungen noch auf folgende Punkte hinzuweisen: es herrscht hier die Auffassung, daß das Abkommen mit Polen zu einer weiteren Schwächung der ohnehin schon durch seine insulare Lage genug gefährdeten Stellung Ostpreußens führen muß. Eine direkte Benachteiligung der Interessen Ostpreußens wird schon allein darin gesehen, daß alle Entschädigungsansprüche aus dem an Polen überlassenen westpreußischen Besitz annulliert werden und damit der Provinz Ostpreußen verloren gehen, soweit sie ihr mit Rücksicht auf die vom ehemaligen Westpreußen einverleibten Gebietsteile als Rechtsnachfolgerin der alten Provinz Westpreußen zustehen2.

Weiterhin werden aber auch indirekte Schädigungen für Ostpreußen befürchtet, und zwar werden diese darin erblickt, daß möglicherweise das von der Reichs- und Staatsregierung aufzustellende Hilfsprogramm für den notleidenden Osten durch die aus dem Liquidationsabkommen sich ergebenden finanziellen Auswirkungen eine erhebliche Einschränkung erfahren könnte. Demgegenüber muß erwartet werden, daß die Fürsorge um das vom Mutterlande abgetrennte Ostpreußen allen anderen Forderungen vorangestellt wird.

Die von allen Seiten – so noch durch das Gesetz über wirtschaftliche Hilfe für Ostpreußen vom 18. Mai 1929 (Reichsgesetzblatt, Teil I vom 24. Mai 1929) – anerkannte berufungslose Sonderlage der Provinz Ostpreußen muß zum Grundsatz und Hauptziel der Staatspflege im Osten gemacht und alle praktischen Maßnahmen müssen hierauf abgestellt werden. In diesem Geiste muß auch die Schadloshaltung der Provinz Ostpreußen für alle durch das Liquidationsabkommen mit Polen betroffenen Entschädigungsansprüche behandelt und zugesagt werden3.

Mit der Versicherung ausgezeichneter Hochachtung bin ich

Ihr sehr ergebener

Dr. Blunck

Landeshauptmann

der Provinz Ostpreußen.

Fußnoten

1

Diese Denkschrift: „Die Not der preußischen Ostprovinzen“ hg. von den Landeshauptleuten der Provinzen Ostpreußen, Grenzmark, Posen-Westpreußen, Pommern, Brandenburg, Niederschlesien und Oberschlesien war „als Handschrift gedruckt“ worden und befindet sich in R 43 I /1800 , Bl. 165-193, hier: Bl. 165-193.

2

Der Provinzialverband Ostpreußen sei Rechtsnachfolger des Provinzialverbandes Westpreußen, daher stünden ihm die westpr. Vermögenswerte zu, die sich Polen angeeignet habe, ohne daß sie den dt. Reparationsleistungen gutgeschrieben worden seien, hatte der ostpr. Landeshauptmann bereits in einem Schreiben vom 29.1.30 dem RK mitgeteilt. Da das Reich im Liquidationsabkommen mit Polen seinen Verzicht erklärt habe, könne auch Ostpreußen zum Ausgleich der neuen Lasten keine Forderungen mehr erheben (R 43 I /1857 , Bl. 192-202, hier: Bl. 192-202).

3

Ostpreußen solle geholfen werden, erwiderte der RK in einem vom AA entworfenen Schreiben am 24. 3. (R 43 I /1857 , Bl. 237 f., hier: Bl. 237 f.). Ziel des Liquidationsabkommens mit Polen, wurde weiter ausgeführt, sei die Sicherung der Deutschen in den abgetretenen Gebieten, und die Befürchtung eines Ostlocarnos entbehre jeder Grundlage. Das Abkommen stelle für die RReg. kein Hindernis in der Frage der Ostgrenze dar. Außerdem wurde erklärt, die Auseinandersetzungen über das Vermögen öffentlich-rechtlicher Körperschaften seien von den Vereinbarungen mit Polen nicht berührt, sondern die Möglichkeiten zu weiteren Verhandlungen ausdrücklich gewahrt worden. Aus der Übereinkunft würden für den Osten keine finanziellen Auswirkungen erwachsen. Die RReg. handele in Übereinstimmung mit der Erklärung des RPräs. über das dt.-poln. Abkommen vom 18.3.30 (Dok. Nr. 480).

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