1.48 (mu22p): Nr. 304 Der Oberpräsident der Provinz Schleswig-Holstein an den Reichskanzler. Kiel, 27. September 1929

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Nr. 304
Der Oberpräsident der Provinz Schleswig-Holstein an den Reichskanzler. Kiel, 27. September 1929

R 43 I /2036 , Bl. 236-240, hier: Bl. 236-240

[Betrifft: Hilfe für Schleswig-Holstein.]

Hochverehrter Herr Reichskanzler!

Die immer mehr steigende Not der Provinz Schleswig-Holstein – insbesondere der Stadt Kiel –, eine Wirtschaftskrise, die seit dem Jahre 1919 andauert, in den letzten Monaten in steigendem Maße zu den ernstesten Besorgnissen Anlaß gibt und zu den bedauerlichsten politischen Ausschreitungen führte, hat mich veranlaßt, in Gemeinschaft mit einer Kommission aus Vertretern der Stadt Kiel, der Gewerkschaften und der örtlichen Industrie- und Handelskammer, den Reichs- und Staatsministern über den Ernst der Lage Vortrag zu halten. Die seit Jahren ungünstige, sich mehr und mehr verschlechternde Wirtschaftslage innerhalb der Provinz hat auch politische Bewegungen hervorgerufen, die den radikalen Parteien vermehrte Anhängerschaft gebracht haben und zu einer Strömung in der Landbevölkerung führten, die es auf Unruhestiftungen schlechthin abgesehen hat1. Ich darf auf die hieraus hervorgegangenen Bombenattentate und auf die Tatsache hinweisen, daß die Unruhe sich nicht nur auf das Gebiet der Provinz Schleswig-Holstein erstreckt, sondern sich auch bereits auf andere Gebietsteile des Deutschen Reiches ausgedehnt hat2. Es ist aber nicht allein die Gärung innerhalb der Landbevölkerung, auch in den Städten und besonders in Kiel hat die verzweifelte Notlage der Industrie und Arbeiterschaft eine steigende dumpfe Erregung herbeigeführt.

[966] Kiel ist seit dem Kriegsausgang nie zur Ruhe gekommen. Die Verminderung der Reichsmarine, der Zusammenbruch der vom Reich mit Kriegsschiffbauten beschäftigten Werften, der trotz aller Bestrebungen, sich im Handelsschiffbau und Maschinenbau neue Produktionsgebiete zu schaffen, immer näherrückt, löst auch hier Strömungen aus, die, ebensowohl grenzpolitisch wie innenpolitisch gesehen, nicht allein sorgfältigste Beobachtung, sondern auch Abhilfe von Reich und Staat verlangen. In der Besprechung beim Herrn Minister Severing wurde diese Krise vom Herrn Minister in ihren Auswirkungen als eine in erster Linie politische bezeichnet und der Rat gegeben, den Herrn Reichskanzler zu bitten, die ganze Frage zum Gegenstand einer Kabinettsbesprechung zu machen. Nachdem sich auch Herr Reichsminister Dr. Stegerwald diesem Vorschlag angeschlossen hat, unterbreite ich nunmehr Ihnen, Herr Reichskanzler, eine kurze Niederschrift über die Ursachen der Krise und bitte, mir und der Kommission Gelegenheit zu einer persönlichen Besprechung dieser Niederschrift zu geben.

Wie der Präsident des Landesarbeitsamtes Nordmark dem Reichsarbeitsamt in Berlin nachgewiesen hat, ist die Erwerbslosigkeit in Kiel und der Provinz Schleswig-Holstein ziffernmäßig die größte und ihrer Dauer nach längste in ganz Deutschland. Von ihr wird insbesondere die Stadt Kiel betroffen. Durch die Marine sind in der Vorkriegszeit und in den Kriegsjahren viele Tausende von Arbeitnehmern nach Kiel gekommen, welche sofort in Kiel Lohn und Brot fanden. Die Zahl der Arbeitnehmer hat sich zeitweilig bis auf 57 000 erhöht. Auch heute noch sind über 45 000 Arbeitnehmer in Kiel, welche wesentlich auf die Arbeit der Werftindustrie und der dazu gehörigen Hilfsindustrien angewiesen sind. Die seit 1919 bestehende Dauerkrise hat noch niemals auch nur annähernd den jetzigen Stand erreicht. Im Jahre 1919 betrug die Zahl der Arbeitsuchenden im Januar 10 280 und sank im Dezember auf 6360. Die Zahl von rund 6000 Arbeitsuchenden blieb in den Jahren 1920 bis 1922 im allgemeinen bestehen, sank im Dezember 1922 auf 4924, stieg aber wieder bis Dezember 1923 auf 8173. Im Jahre 1924 kamen weitere Arbeitsuchende hinzu, so daß im April die Höchstzahl von 13 286 vorhanden war, welche sich in den Monaten Mai und folgenden bis auf rund 4000 ermäßigte. Mit Beendigung der Bauarbeitsperiode waren Ende 1924 rund 5700 Arbeitsuchende vorhanden. Die Jahre 1925 und 1926 brachten eine weitere Steigerung der Arbeitslosigkeit, welche zeitweilig bis auf 16 676 anwuchs. Die Jahre 1927 und 1928 führten teilweise ein Sinken der Arbeitslosigkeit herbei, jedenfalls wurden die Zahlen vom Dezember 1926 nicht mehr erreicht.

Auf den Kieler Werften arbeiteten:

am 1. 9. 1928

1. 9. 1929

1. Bei den Deutschen Werken, Hauptwerft

Arbeiter bei den Deutschen Werken Hauptwerft

6 486

3 760

Arbeiter

Angestellte bei den Deutschen Werken Hauptwerft

1 322

1 183

Angestellte

in Friedrichsort

Arbeiter bei den Deutschen Werken in Friedrichsort

872

618

Arbeiter

Angestellte bei den Deutschen Werken in Friedrichsort

233

168

Angestellte

[967] 2. Bei der Germaniawerft

Arbeiter bei der Germaniawerft

4 362

2 390

Arbeiter

Angestellte bei der Germaniawerft

600

540

Angestellte

3. Bei der Howaldtswerft

Arbeiter bei der Howaldtswerft

1 658

1 320

Arbeiter

Angestellte bei der Howaldtswerft

140

158

Angestellte

insgesamt

15 673

10 137

Bei den beiden größten Werften sind also nahezu 50% der Belegschaft bis zum 1. Sept. 1929 entlassen worden. Wie hier bekannt ist, werden noch weitere 1200–1500 Arbeiter bei den Werften zur Entlassung kommen. Die Zahl der Arbeitsuchenden betrug am 1.9.1929 nahezu 10 000 männliche und nahezu 2000 weibliche. Da in den nächsten Wochen weitere Entlassungen bei den Saisonarbeitern eintreten und die Werften auch noch die genannten 1200–1500 Arbeitskräfte entlassen, steht das Arbeitsamt in Kiel auf dem Standpunkt, daß hier in allernächster Zeit mit ungefähr 15 000 Hauptunterstützungsempfängern zu rechnen sei. Hinzu kommt, daß das Fürsorgeamt der Stadt Kiel zur Zeit über 3500 erwerbslose ausgesteuerte Hauptunterstützungsempfänger unterhält und damit rechnen muß, daß die Zahl der arbeitsfähigen Wohlfahrtspfleglinge bis Ende dieses Jahres auf 5000 steigen wird. Kiel wird also, falls nicht noch in letzter Stunde Hilfe zuteil werden sollte, mit rund 20 000 Hauptunterstützungsempfängern, welche zu ¾ vom Reich und zu ¼ von der Stadt unterhalten werden, zu rechnen haben. Da die meisten Unterstützungsempfänger verheiratet sind und größere Familien haben, ist nicht zuviel gesagt, daß nahezu 40% der Kieler Bevölkerung, welche zur Zeit rund 216 000 Einwohner umfaßt, von Unterstützungen leben werden.

Bei den Besprechungen in Berlin haben wir stets darauf hingewiesen, daß es in erster Linie darauf ankommt, den Werften Schiffbauaufträge, sei es für Neubauten, sei es für Reparaturen, zu verschaffen, daß ferner die Reichsstellen veranlaßt werden, Triebwagen für die Eisenbahn, Postanhängerwagen für Autobusse, Pumpen für landwirtschaftliche und industriell-kommunale Zwecke, Motoren, Apparate und dergleichen in Kiel zu bestellen.

Ich darf dabei auch noch erwähnen, daß es zur Beschaffung der von der Industrie- und Handelskammer in Kiel auch bei Berücksichtigung unserer vorgetragenen Bitten nicht unterzubringenden Arbeiter dringend geboten erscheint, alle Meliorations- und Wegebauprojekte, Deichbauten usw., insbesondere auch den großen Plan der Eiderregulierung, so zu fördern, daß mit diesen Erdarbeiten möglichst tausende sonst beschäftigungslose Hände in Arbeit und Verdienst kommen.

Ich bitte Sie, Herr Reichskanzler, mich und die Kommission am 10. Oktober d. J. in einer besonderen Audienz zu empfangen. Bei dieser Gelegenheit werden wir uns erlauben, weitere Ausführungen über Auftragsmöglichkeiten zu machen. Ferner bitten wir den Herrn Reichskanzler, grundsätzlich einen Kabinettsbeschluß darüber herbeizuführen, daß die Reichsstellen beauftragt werden,[968] schleunigst ein größeres Programm für die Erteilung von Aufträgen an die Kieler Werften und Kieler Hilfsindustrien aufzustellen und durchzuführen3.

Mit dem Ausdruck vollkommenster Hochachtung, hochverehrter Herr Reichskanzler, bin ich Ihr gehorsamst ergebener

Kürbis

Fußnoten

1

Siehe hierzu die – allerdings sehr einseitige – Darstellung eines Beteiligten in E. v. Salomon, Der Fragebogen; einen literarischen Niederschlag fand die Unruhe der Landvolkbewegung in H. Falladas Roman „Bauern, Bomben, Bonzen“.

2

Siehe Anm. 5 zu Dok. Nr. 290.

3

Auf Verfügung des RK bat der StSRkei den OPräs., von dem nachgesuchten Empfang abzusehen und sich an den zuständigen RArbM zu wenden (R 43 I /2036 , Bl. 241, hier: Bl. 241).

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