1.15 (str2p): Nr. 129 Vertretung der Reichsregierung in München an die Reichskanzlei. 11. Oktober 1923

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[552] Nr. 129
Vertretung der Reichsregierung in München an die Reichskanzlei. 11. Oktober 1923

R 43 I /2264 , Bl. 8–10

Unter Bezugnahme auf telefonische Berichterstattung1.

Inhalt: Fall Lossow2.

Wie vorauszusehen, hat die Frage der beabsichtigten Maßregelung des Generals von Lossow hier allgemein größte Erbitterung hervorgerufen3. Soweit die Presse sich mit der Angelegenheit beschäftigt, verurteilt sie auf das entschiedenste ein derartiges Vorgehen der Regierung. Während der „Bayerische Kurier“, das Organ der Bayerischen Volkspartei, offen davon spricht, daß Bayern nicht das Geringste tun werde, um einen wirklichen Gegensatz zwischen Reich und Ländern heraufzubeschwören, einen aufgezwungenen Konflikt aber auf sich nehmen und bestehen werde4, schreibt die sonst besonders gemäßigte klerikale „Augsburger Postzeitung“5: „Es gibt kein Wort, das zu scharf wäre, um gegen dieses neueste Vorgehen des Reichswehrministers in Berlin, Einspruch zu erheben.“ Besonders wird als merkwürdig empfunden, daß die erste Mitteilung über die beabsichtigte Maßregelung ausgerechnet im „Echo de Paris“ erschienen sei. Man kann es nicht fassen, daß man in Berlin bei der gegenwärtigen Lage es noch darauf absehen könne, Bayern vor den Kopf zu stoßen und die Reichspolitik einer weiteren unnötigen Belastung auszusetzen. Auch was das Verhalten von Herrn von Lossow anbelangt, so werden die Vorwürfe gegen ihn als unverständlich bezeichnet. Denn jeder Kenner der Verhältnisse müsse wissen, daß unter den gegebenen Umständen die Ausführung des an ihn ergangenen Befehls zur Besetzung der Druckerei des „Völkischen Beobachter“ zu den schwersten innerpolitischen Wirren geführt haben würde, selbst wenn sie gelungen wäre, und daß jeder General, wenn er vor eine militärisch unmögliche, nur zu schwerem Mißerfolg führende Aufgabe erhalte, nach allgemeinem Kriegsbrauch berechtigt, ja verpflichtet sei, einen derartigen Befehl im Interesse des Ganzen nicht durchzuführen. Zum mindesten müsse der Grundsatz seine Geltung behalten: „Audiatur et altera pars.“

Heute Abend wurde ich auf dem Ministerium des Äußern auch von Herrn Staatsrat Schmelzle auf die Angelegenheit angesprochen. Es war gerade eine Konferenz zwischen ihm, Ministerpräsident von Knilling und Herrn von Lossow voraufgegangen, bei der letzterer der bayerischen Regierung in seiner[553] Eigenschaft als Landeskommandant von der an ihn ergangenen brieflichen Aufforderung des Generals von Seeckt, die Konsequenzen aus seinem Verhalten zu ziehen, Mitteilung gemacht hatte6. Ganz abgesehen davon, daß die Zurechtweisung Herrn von Lossows, statt durch den in dieser politischen Frage zuständigen „Reichskommissar“ Geßler, durch den General von Seeckt, den diese Sache gar nichts angehe, erfolgt sei7, war auch Herrn Schmelzle die Handlungsweise der Berliner Stellen in diesem Augenblick schwerster Krise völlig unfaßbar. Ich habe aber den Eindruck, daß von bayerischer Regierungsseite aus nichts Überraschendes erfolgen wird, solange von Berlin aus keine neuen Maßnahmen ergriffen werden8, daß aber auch Herrn von Lossow vom bayerischen Ministerpräsidenten nahegelegt worden ist, auch seinerseits sich zunächst passiv zu verhalten. Im übrigen ist, wie ich höre, ein Brief von Herrn von Knilling an den Herrn Reichskanzler unterwegs.

Ich darf, wie ich bereits mündlich zu berichten die Ehre hatte, erwähnen, daß auch der Führer der hiesigen Sozialdemokraten, Herr Auer, den ich heute morgen sprach, dringend davor warnte, jetzt etwas hier in Angriff zu nehmen, von dem man nicht die absolute Gewißheit habe, es durchsetzen zu können. Und dies müsse man bei dem gegenwärtigen politischen Prestige der Reichsregierung im Falle Lossow sehr bezweifeln9. Ich kann mich der Auffassung des hiesigen sozialdemokratischen Führers, der mich ausdrücklich zur Weitergabe dieser seiner Erklärung ermächtigte, nur anschließen und würde es für sehr bedenklich halten, wollte man jetzt hier eine Kraftprobe unternehmen.

Vielleicht könnte ein Ausweg dadurch gefunden werden, daß Herr von Lossow zum Vortrag zum Herrn Reichswehrminister geladen und ihm dort Gelegenheit gegeben würde, sein Verhalten zu rechtfertigen. Natürlich wäre die Vorbedingung, daß auch in Berlin der Wunsch bestünde, einen Ausgleich in dieser gefährlichen Situation zu finden10.

Braun v. Stumm

Fußnoten

1

Einzelheiten zu dieser Berichterstattung waren in R 43 I nicht zu ermitteln.

2

Daneben von StS v. Rheinbaben am 12.10.23 notiert: „Geßler hat Kts.“

3

S. hierzu die Ausführungen Geßlers in Dok. Nr. 117, P. 3, sowie in: E. Deuerlein, Der Hitlerputsch, Dok. Nr. 34.

4

Es handelt sich um den Artikel „Konflikt?“ im Bayerischen Kurier, Nr. 283 v. 11.10.23 (R 43 I /2264 , Bl. 12).

5

Das Zitat ist aus dem Artikel „Abberufung von Lossows? Was geht vor?“ in der Augsburger Postzeitung, Nr. 234 v. 11.10.23 (R 43 I /2264 , Bl. 11).

6

S. das Schreiben Knillings an Stresemann vom 12.10.23 in: E. Deuerlein, Der Hitlerputsch, Dok. Nr. 37, sowie die Aufzeichnung des RK vom 12.10.23 über eine Unterredung mit dem bayer. Gesandten v. Preger in: Vermächtnis I, S. 168 ff.

7

S. dazu E. Deuerlein, Der Hitlerputsch, Dok. Nr. 31.

8

Haniels Vertreter Braun v. Stumm berichtete an die Rkei am folgenden Tag, von offiziöser Seite sei der Presse in München die Information zugegangen, „daß eine gütliche Bereinigung der Streitfrage noch zu erhoffen sei.“ Aus einem Gespräch mit Staatsrat Schmelzle gewann er den Eindruck, „daß die hiesige Regierung immer noch hofft, daß sich schließlich doch eine Lösung finden werde, die für Bayern nicht unerträglich wäre, vor allem auch daß man es jedenfalls hier unter keinen Umständen zum Bruch treiben will“ (R 43 I /2264 , Bl. 15).

9

Im Schreiben vom 12.10.23 berichtete Braun v. Stumm, die bayer. Regierung werde eine Maßregelung v. Lossows als Affront gegen v. Kahr ansehen und nicht hinnehmen; sie habe dem General nahegelegt, „jetzt seine Entlassung nicht zu nehmen“ (R 43 I /2264 , Bl. 16).

10

Diese Ansicht wiederholte Braun v. Stumm am folgenden Tag (R 43 I /2264 , Bl. 16).

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