2.185 (bau1p): Nr. 183 Der Preußische Staatskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung an den Reichskanzler. 8. März 1920

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[653] Nr. 183
Der Preußische Staatskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung an den Reichskanzler. 8. März 19201

R 43 I /2688 , Bl 17–18 Abschrift2

[Betrifft: Innenpolitische Lage; Rechtsopposition.]

Geheim! Persönlich!

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß es in rechtsstehenden Kreisen, zumal in der Reichswehr und unter den Angehörigen der alten Armee, stark gärt. Die Bewegungen sind hier bekannt. Wenn in den N[achrichten-]Berichten von den hier bekannt gewordenen Tatsachen keine Notiz genommen worden ist, so erklärt sich das daraus, daß die täglichen Nachrichtenblätter in letzter Zeit wiederholt unberufenen Stellen bekannt geworden sind und keine Gewähr geschaffen werden konnte, daß sie ausschließlich von den Empfängern gelesen werden. Der Ausgang des Prozesses gegen Helfferich hat das Ansehen der gegenwärtigen Regierung stark erschüttert3. Der starke Zulauf,[654] den die Unabhängigen erfahren haben, ist selbstverständlich allgemein bekannt und wird in den rechtsstehenden Parteien als eine große Schwächung der Stellung der Mehrheitssozialisten angesehen. Ebenso wird der Rückhalt, den die demokratische Partei noch im Volke hat, nicht mehr sehr hoch eingeschätzt, während der zeitweilige Rücktritt des Reichsfinanzministers aus dem politischen Leben4 dahin gewertet wird, daß im Zentrum die mehr rechtsgerichteten Kreise stärkeren Einfluß gewinnen. So erkennt man auf der einen Seite eine wesentliche Stärkung der Rechtsparteien, auf der andern Seite eine erhebliche Schwächung der heutigen Regierungsmehrheit. Diese Erkenntnis liegt selbstverständlich auch dem Antrage der beiden Rechtsparteien auf Beschleunigung der Neuwahlen zu Grunde5. Seitens der Unabhängigen, und zwar seitens führender Persönlichkeiten in der Unabhängigen Partei ist neuerdings Fühlung genommen worden zu den extremsten Vertretern der Rechtsparteien6. Diese betrachten sich im Besitz ausreichender Garantien der Unabhängigen, daß von ihnen aus, d. h. von den Unabhängigen, nichts zur Stützung der Regierung unternommen wird für den Fall, daß gegen die Regierung von rechts her ein Stoß erfolgt. Ob und in welchem Maße die Unabhängigen in der Lage sein werden, sich an die gegebenen Versprechungen zu halten, steht natürlich dahin. Hierzu kommt, daß in der Reichswehr eine tiefgehende Erregung besteht, eine Erregung, die begründet ist, einmal in der noch immer fortbestehenden Unsicherheit über die materiellen Existenzbedingungen, mit denen die Angehörigen der Reichswehr zu rechnen haben, andererseits in der Überzeugung, daß die Herabminderung des gegenwärtigen Armeebestandes von der Regierung ohne Not betrieben wird, während vornehmlich seitens der Engländer ein Druck nicht ausgeübt wird. Man glaubt fest, daß es in der Macht unserer auswärtigen politischen Leitung läge, in der Armeefrage weitere Konzessionen mit Hilfe der Engländer zu erreichen7. Die Struktur der Reichswehr hat insofern gegenüber den ersten Revolutionsmonaten eine Änderung erfahren, als das Vertrauensverhältnis zwischen Offizieren und Mannschaften[655] zweifellos ein intimeres geworden ist und in einer großen Zahl von Truppenformationen, auch in politischen Fragen, Offiziere und Mannschaften durchaus als Einheit zu betrachten sind. Die früher bestehenden Aussichten, den Mann in der Truppe gegen den Offizier auszuspielen, haben heute nicht mehr eine ausreichende Unterlage. Daß die wirtschaftliche Lage starken Einfluß zur Kritik an der Regierung gibt, liegt auf der Hand. Offiziere und Mannschaften sind natürlich nicht in der Lage, aus der Erkenntnis der Zusammenhänge des wirtschaftlichen Lebens heraus zu beurteilen, in welchem Umfange die Regierung in der gegenwärtigen Lage verantwortlich zu machen ist. In den politischen Rechtskreisen erkennt man diese Zusammenhänge natürlich besser, hat aber selbstverständlich ein starkes agitatorisches Interesse daran, für die Mißstände die Regierung haftbar zu machen und ihre Abstellung nur dann als möglich hinzustellen, wenn die von ihnen vertretenen wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen getroffen werden. Es ist nun nicht zu verkennen, daß auf politischer wie auf militärischer Seite die eigentlich führenden Männer den Willen zur Loyalität und zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung haben und man muß anerkennen, daß die politischen und militärischen Führer, worunter nicht so sehr die Wortführer als die tatsächlichen Führer zu verstehen sind, viele Mühe aufwenden, um die radikalen und zu Taten treibenden Elemente im Zaum zu halten. Aber auch sie treten in letzter Zeit mit der Ansicht hervor, daß es notwendig ist, daß die Regierung, ohne Rücksicht auf die parteipolitische Lage, Männer zur Regierungsarbeit heranzieht, die in genügender verwaltungsgemäßer und sonstiger praktischer Erfahrung die Gewähr für positive Leistung bieten8. Einstweilen besteht wohl noch die Sicherheit, daß die führenden Männer die Rechtsbewegung im Zaume halten werden und sie werden in diesem Willen besonders bestärkt durch die gelegentlichen Exzesse, die in letzter Zeit vorgekommen sind und die selbstverständlich der allgemeinen Rechtsbewegung mehr geschadet, als sie gefördert haben, dazu gehören die Ausschreitungen in der Philharmonie bei der Versammlung des Bundes Neues Vaterland und die letzten Vorkommnisse im Hotel Adlon9.

Es muß noch bemerkt werden, daß in der Rechtsbewegung der Gedanke einer Wiederherstellung der Monarchie eine völlig untergeordnete Rolle spielt, daß, ganz wenige radikale Schreier ausgenommen, der Wille allgemein ist, es zu einem eigentlichen reaktionären Umsturz im Sinne der Wiederherstellung der früheren Verhältnisse nicht kommen zu lassen. Im monarchistischen Gedanken als solchem irgendwie eine treibende Kraft sehen zu wollen, wäre völlig verfehlt.

Die erhobenen Forderungen laufen letzten Endes darauf hinaus, daß in Zukunft an den Regierungsgeschäften in größerem Umfange als bisher auch[656] rechtsgerichtete Elemente beteiligt werden, vor allem solche, deren Eignung nicht nur in ihrer Parteizugehörigkeit, sondern in ihren Kenntnissen begründet ist. Man hat also eine Änderung der bestehenden verfassungsmäßigen Verhältnisse insoweit im Auge, als man eine Durchbrechung des gegenwärtigen reinen Parlamentarismus zu erreichen bestrebt ist.

Dieses in großen Zügen der Stand der Rechtsbewegung. Die Bewegung selbst ist zur Zeit zweifellos sehr ernst zu nehmen, sie ist deshalb besonders ernst zu nehmen, als ihr mit gewaltsamen Mitteln nicht zu begegnen ist und im gegenwärtigen Zeitpunkt das Mittel der Erregung der öffentlichen Leidenschaften gegen die Rechte auch nicht ausreichenden Widerhall finden dürfte.

Auf die besondere Vertraulichkeit der vorstehenden Ausführungen darf noch ganz ausdrücklich hingewiesen werden.

gez. von Berger

Fußnoten

1

Zur Einordnung des Dok. in den Gesamtzusammenhang und zu seiner Entstehungsgeschichte vgl. Dok. Nr. 219. – StKom. Berger zufolge ging der Bericht auch dem RAM, RWeM, PrMinPräs., PrIM, PrFM, PrLandwM und PrArbM zu. Der nachstehende Bericht muß als das einzige bekanntgewordene amtliche Dok. angesehen werden, durch das Mitglieder der RReg. und des PrStMin. vor dem Kapp-Lüttwitz-Putsch auf die Konkretisierung der Staatsstreichabsichten, die von Teilen der Reichswehr und der rechtsstehenden Parteien gehegt wurden, hingewiesen worden sind. Ihr latentes Vorhandensein war seit längerem bekannt (vgl. Dok. Nr. 71). Hinweise auf einen im März bevorstehenden „coup d’état“ Ludendorffs, die der brit. Geschäftsträger in Berlin, Lord Kilmarnock, UStS Haniel Mitte Februar zukommen ließ, waren von diesem als nicht ernst zu nehmen und allgemein bekannt eingestuft worden (DBFP, 1st Series, Vol. IX, Nos 30 und 223). Publizistische Warnungen vor einer drohenden Putschgefahr, die am 4. und 10./12.3.20 von der Zentrale der KPD ausgingen, ließen eher auf parteitaktische Absichten als auf eine unmittelbar bevorstehende Gewaltaktion der „militärisch-monarchischen Gegenrevolution“ schließen (vgl. Arbeiterklasse siegt über Kapp und Lüttwitz. Bd. I, Dok. Nr. 26 und 29). Zusammen mit dem Bericht der Berliner Sipo und einem weiteren Bericht StKom. Bergers über ihre Tätigkeit anläßlich des Putschgeschehens (Dok. Nr. 210 und 219) gibt der hier zum Wiederabdruck gelangende Bericht Aufschluß darüber, inwieweit die der Sicherung der verfassungsmäßigen Ordnung verpflichteten zentralen Zivil- und Militärdienststellen im Reich und in Preußen über das Bevorstehen eines auf die Beseitigung der Reg. Bauer abzielenden Umsturzversuches unterrichtet und in welchem Sinne ihre verantwortlichen Funktionsträger auf den Gang der Ereignisse einzuwirken bereit waren, bevor das RKab. aufgrund der Mitteilungen des RWeM vom 12. 3. (vgl. Dok. Nr. 186, P. 3) in dieser Angelegenheit überhaupt tätig werden konnte. Frühere Abdrucke des Berichts bei Gustav Noske: Von Kiel bis Kapp. S. 208 ff. und in: Ursachen und Folgen. Bd. IV, Dok. Nr. 851.

2

Die Ausfertigung war am 1. 4. dem RIMin. auf Bitten von RIM Koch zur Einsichtnahme überlassen worden. Der Minister hatte den Bericht danach „verlegt“ (Aktennotiz des HofR Ostertag; R 43 I /2688 , Bl. 15).

3

Zum Prozeß gegen den früheren StS Helfferich vgl. Dok. Nr. 56, P. 9. – Am 12. 3. wird der Angeklagte wegen übler Nachrede und Beleidigung zu 300 M Geldstrafe, ersatzweise 30 Tage Haft verurteilt. Dem Nebenkläger RFM Erzberger wird das Recht zugesprochen, den erkennenden Teil des Urteils in der „Neuen Preußischen Kreuzzeitung“ veröffentlichen zu lassen. Der politische Aspekt des Prozeßausgangs erhellt aus der Urteilsbegründung, wonach in den Augen des Gerichts dem Angeklagten Helfferich „der Wahrheitsbeweis im wesentlichen gelungen“ sei, daß Erzberger sich in drei Fällen des Verstoßes gegen die Wohlanständigkeit, in sechs Fällen des Meineids und in sieben Fällen der Vermischung persönlicher Geldinteressen mit Politik schuldig gemacht habe (Der Erzberger-Prozeß. S. 989–992; vgl. auch Schultheß 1920, I, S. 39 ff.). – Vgl. auch unten Anm. 8.

4

RFM Erzberger hatte am 24. 2. um seine Beurlaubung vom Ministeramt gebeten, nachdem in den rechtsstehenden „Hamburger Nachrichten“ vom 22. 2. Photokopien seiner Steuererklärungen veröffentlicht worden waren, die auf den ersten Blick eine Steuerhinterziehung zu beweisen schienen. Die Beurlaubung dauerte bis zum offiziellen Rücktritt des RFM, der am 12. 3. nach dem Urteil im Helfferich-Prozeß erfolgt (Schultheß 1920, I, S. 25 und 38; Klaus Epstein: Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie. S. 409 und Anlage VII).

5

Einzelheiten s. Dok. Nr. 181, Anm. 10.

6

Die Annäherungsversuche dürften von Oberst Bauer ausgegangen sein (vgl. Adolf Vogt: Oberst Max Bauer. S. 217 ff.).

7

Zum Gesamtzusammenhang vgl. Dok. Nr. 172, P. 2. – Gestützt auf die Berichte des Chefs der brit. Militärmission in Berlin, Gen. Malcolm, über die Sicherheitslage in Dtld. enthielt eine Vorlage des Generalstabs im brit. KriegsMin. an das brit. Kab. vom 5.2.20 tatsächlich die Empfehlung, Dtld. zumindest für 1920 in Fragen der Heeresstärke entgegenzukommen (DBFP, 1st Series, Vol. IX, No. 31). Gen. Ludendorff war zusammen mit Arnold Rechberg zuletzt am 5. 3. in dieser Angelegenheit beim brit. Geschäftsträger in Berlin vorstellig geworden (ebd., No. 81).

8

Als nach Abschluß der Beweisaufnahme die den RFM diskreditierende Wirkung des Ausgangs des Helfferich-Prozesses abzusehen war, tauchten in der Presse Gerüchte über eine mögliche Kabinettsumbildung auf. Gesprochen wurde über: 1. verstärkte Besetzung der Ministerien mit „Fachleuten“ anstelle von Politikern; 2. Trennung des REMin. vom RWiMin. und Besetzung des letzteren mit einem Großindustriellen; 3. Kandidatur des UStS Moesle für das Amt des bereits beurlaubten RFM; 4. Übernahme des RVMin. durch den bisherigen Pr-ArbM Oeser (DAZ Nr. 117 und Vorwärts Nr. 118 vom 4.3.20).

9

Vgl. Dok. Nr. 182, Anm. 4.

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