1.95.1 (mu22p): 1. Einreiseverlangen deutschstämmiger Kolonisten aus Sibirien.

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1. Einreiseverlangen deutschstämmiger Kolonisten aus Sibirien.

Der Reichskanzler und der Reichsminister des Auswärtigen trugen zunächst die Sachlage vor1.

1

Vgl. Dok. Nr. 344, P. 4.

Der Reichsminister des Auswärtigen schilderte im Rahmen der den Parteiführern bereits zugesandten Aufzeichnung […] die Möglichkeiten der Überführung von etwa 13 000 Flüchtlingen nach Kanada und Brasilien. Man werde im ganzen 5 bis 6 Millionen RM dafür benötigen. Die durch den Aufruf des Roten Kreuzes und einen noch zu erlassenden Aufruf des Herrn Reichspräsidenten und der Reichsregierung flüssig gemachten Mittel könne man dann vielleicht zur Linderung der Not in Rußland selbst verwenden. Der Reichsminister des Auswärtigen machte darauf aufmerksam, daß die Gefahr von erheblichen Rückwirkungen dieser Aktion groß sei. Es könne sich ein großer Auswanderungsstrom deutscher Elemente in Bewegung setzen.

Abgeordneter Bell, Abgeordneter Koch-Weser und Abgeordneter Zapf setzten sich für Ansiedlung eines Teiles der Flüchtlinge in Deutschland ein. In Ostpreußen und überhaupt im deutschen Osten werde zweifellos eine größere Ansiedlermenge aufgenommen werden können. Es wurde dabei besonders auf die Tätigkeit und die Vorschläge des Fürsorgevereins für deutsche Rückwanderer aus Rußland hingewiesen.

Demgegenüber machten Abgeordneter Lejeune-Jung, Abgeordneter Stücklen und Staatssekretär Dr. Weismann darauf aufmerksam, daß dieser Fürsorgeverein bisher keine praktische Arbeit geleistet habe und deshalb seine Einschaltung abzulehnen sei.

Abgeordneter Lejeune-Jung sprach sich ebenso wie Reichsminister Dr. Hilferding nachdrücklich gegen die Überführung von Kolonisten nach Brasilien aus. Die Verhältnisse dort seien klimatisch und in Rücksicht auf die Arbeitsbedingungen durchaus ungünstig, die Rückwanderung größer als die Zuwanderung.[1145] Legationsrat Seelheim schilderte demgegenüber die Kolonisationsverhältnisse sowohl in dem Distrikt Blumenau wie im Staate Sao Paolo als durchaus angemessen.

Abgeordneter Stücklen befürchtete, daß man mit 5–6 Millionen RM nicht auskommen werde. Man könne vielleicht den Versuch machen, eine begrenzte Anzahl von Leuten, etwa gegen 4000 Köpfe, in dem jetzt von der Reichswehr freigegebenen Lager Hammerstein2 unterzubringen.

2

In der Provinz Grenzmark.

Diesem Vorschlag schloß sich auch Staatssekretär Weismann an.

Der Reichsminister des Auswärtigen erklärte, daß der Versuch einer begrenzten Hilfe unbedingt gemacht werden müsse, schon um den guten Willen der Reichsregierung zu zeigen. Mit diesem Versuch müsse dann aber die ganze Aktion abgeschlossen werden, damit sie nicht ins Uferlose wachse.

Er schlug vor, einen Kommissar mit besonderen Machtvollkommenheiten zu ernennen, der die Angelegenheit zentral bearbeiten soll.

Dem wurde von den Vertretern aller Fraktionen zugestimmt.

Der Reichskanzler stellte als zusammenfassendes Ergebnis der Beratung fest, daß der Versuch einer Hilfsaktion gemacht werden soll. Diese Aktion soll aber von vornherein auch nach außen hin klar begrenzt werden. Die Grenze wird sich aus der Aufnahmefähigkeit der deutschen Lager, den Auswanderungsmöglichkeiten und den zur Verfügung stehenden Mitteln ergeben. Die Ansiedlungsmöglichkeiten in Brasilien sollen beschleunigt sorgfältigst geprüft und die Verhandlungen mit der kanadischen Regierung nach Möglichkeit bald zum Abschluß gebracht werden. Endlich soll in erster Linie die Unterbringung im Lager Hammerstein in Aussicht genommen werden. Zur Durchführung dieser Maßnahmen wird die Ernennung eines Kommissars ins Auge gefaßt, über dessen Auftrag und Vollmachten das Auswärtige Amt dem Reichskabinett Vorschläge machen soll. Hierüber sollten auch mit den Ländern Verhandlungen eingeleitet werden.

Der Reichskanzler stellte ferner fest, daß zunächst Abgeordneter Stücklen für diese Tätigkeit genannt worden sei. Einen endgültigen Vorschlag auch in personeller Hinsicht soll das Auswärtige Amt vorlegen.

Der Bereitstellung von 5–6 Millionen RM für die Hilfsaktion wurde von den Fraktionsvertretern zugestimmt. Baldmöglichst soll hierzu der Haushaltsausschuß gehört werden.

Das Auswärtige Amt wurde ermächtigt, die für die Hilfsaktion erforderlichen Vorarbeiten in Angriff zu nehmen.

Der Reichsminister der Finanzen bemerkte zu diesem Beschluß, daß zunächst eine Deckung für die angeforderten 5–6 Millionen RM nicht vorhanden sei3.

3

Siehe dazu Dok. Nr. 355, P. 3.

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