Text
[VII] Einleitung*
- *
Meiner Frau danke ich dafür, daß sie wie schon bei der Edition des „Kabinetts Müller II“ nicht nur die Reinschrift des Manuskripts hergestellt hat, sondern mir auch wesentliche Hilfe bei dem Lesen der Korrekturen leistete. Die Dokumentenauswahl und der Kommentar wurden erleichtert durch die erfreuliche Zusammenarbeit mit meinem Kollegen P. Wulf, der in dieser Editionsreihe das anschließende „Kabinett Fehrenbach“ bearbeitet. M. V.
Außen- und innenpolitisch war Deutschland seit dem Kriegsende und der Revolution vom November 1918 noch nicht zur Ruhe gekommen, als unter dem Eindruck des Versailler Vertrags Georg Gothein, der ehemalige Schatzminister des Kabinetts Scheidemann, auf Belastungen hinwies, die dem Reich im Jahr 1920 bevorstehen würden: „Deutschland steht vor der schwersten politischen Aufgabe, die je einem Staatswesen gestellt worden ist. Zerstückelt, wertvollster Teile seines Landes beraubt, die Kolonien verloren, seine Handelsflotte ihm weggenommen, der Besitz seiner Bürger im feindlichen Ausland – und das ist mehr als drei Viertel der Welt – konfisziert, von der Gleichberechtigung der Nationen im wirtschaftlichen Verkehr ausgeschlossen, durch einen fünfjährigen Krieg mit einer entsetzlichen Hunger- und Rohstoffblockade, durch eine nachfolgende schwere Revolution aufs furchtbarste geschwächt, soll es noch gegenüber dem Ausland Lasten übernehmen, die zu tragen das alte, reiche, mächtige Deutschland der Vorkriegszeit kaum fähig gewesen wäre, geschweige dieses zermürbte, in dem Arbeitswillen seiner Bevölkerung unsagbar geschwächte Land1.“
- 1
Almanach 1920 des Mosse-Verlags, S. 40.
Doch bei diesen Belastungen sollte es nicht bleiben: Anfang des Jahres 1920 forderten die Alliierten die Auslieferung prominenter Heerführer und Politiker als Kriegsverbrecher und drängten auf die im Friedensvertrag vereinbarte Abrüstung und Verminderung des Heeres. Auseinandersetzungen über die Frage, ob die Nationalversammlung nach der Verkündung der neuen Reichsverfassung zurücktreten müsse und ob der Reichspräsident nun vom Volk zu wählen sei, verschärften die politischen Auseinandersetzungen der „Weimarer Koalition“, MSPD, DDP und Zentrum, mit der Rechtsopposition, DVP und DNVP, während die Regierung sich gleichzeitig des Vorwurfs der USPD und der nicht dem Parlament angehörenden KPD ausgesetzt sah, den Fortgang der Revolution mit Hilfe reaktionärer Kräfte aufgehalten zu haben. Schließlich erschütterte der unglückliche Verlauf des Beleidigungsprozesses, den der erste Finanzminister der Republik Erzberger gegen seinen schärfsten politischen Gegner, Helfferich, führte, das mühsam errungene Ansehen des neuen Staatswesens. Diesen Zeitpunkt nutzten reaktionäre Politiker und Offiziere zu einem Putsch, durch den die politische Entwicklung seit dem 9. November 1918, d. h. innen- und außenpolitische Maßnahmen wie die Verfassung[VIII] und der Friedensvertrag, rückgängig gemacht werden sollten. Zwar konnten sie sich nur wenige Tage in Berlin an der Macht halten und mußten dann dem Widerstand der Arbeiter und Beamten weichen; aber der „Putsch der Prätorianer und Junker“, wie Ernst Troeltsch ihn nannte, hatte „Milliarden an Volksvermögen gekostet und fast alles bisher Erreichte wieder in Frage gestellt2.“ Unter diesen Voraussetzungen wurde eine neue Reichsregierung, das von der Geschichtsschreibung kaum beachtete erste Kabinett Hermann Müller, gebildet. Seine Aufgabe sah es vornehmlich darin, innenpolitisch Ruhe und Ordnung herzustellen; gleichzeitig mußte es versuchen, Deutschlands Interessen gegenüber den Alliierten zu vertreten.
- 2
E. Troeltsch, Spektatorbriefe, S. 117 f. Diese Aussage wird von einem Bericht über „die wirtschaftlichen Wirkungen des Kapp-Putsches auf Grund statistischen Materials durch den Pressedienst des Reichswehrministeriums“ vom 14.4.20 bestätigt, in dem es heißt: „Unmittelbar vor Ausbruch der Kapp-Gegenrevolution war in den Sitzungen des Wirtschaftsrates beim Reichswirtschaftsministerium von allen Parteien einmütig anerkannt worden, daß die wirtschaftliche Lage sich zu bessern begann, und daß diese Besserung auch auf die Gegensätze überbrückende Wirtschaftspolitik, wie sie in diesen Beratungen in ihren Grundlinien wiederholt und ergänzt wurde, mit zurückzuführen sei. Zum ersten Mal konnte mit Sicherheit für längere Frist eine erhebliche Steigerung der Kohlenförderung festgestellt werden. Unternehmer und Arbeitnehmer betonten übereinstimmend, daß Arbeitswilligkeit und Arbeitsleistung nahezu überall im Steigen begriffen seien. Die Finanzsachverständigen, insbesondere auch solche, die aus dem Auslande kamen, erklärten, daß das Vertrauen zu Deutschlands wirtschaftlichem Emporkommen allenthalben gewachsen sei. Die Wirtschaftsnote der Entente bezeugte das gleiche, und die ersten Folgen waren im Steigen der deutschen Valuta bereits deutlich zu spüren. Auf Grund dieser erfreulichen Ansätze hatte das Reichswirtschaftsministerium unter Zuhilfenahme eines größeren Abschlusses in der Kaliindustrie bereits recht erhebliche Mengen von Nahrungsmitteln zur Verbesserung der deutschen Volksernährung beschaffen können, und auch eine gewisse Besserung der Rohstoffversorgung stand in sicherer Aussicht. Zwei Tage nach Abschluß der Beratungen des Wirtschaftsrates kam der Putsch. Wirtschaftlich stellte er sicher eins der größten Verbrechen dar, die je am deutschen Volk begangen worden sind. […] Sicherlich hat die deutsche Wirtschaft durch die Arbeitsruhe der letzten Woche [!] einen bedenklichen Stoß erlitten. Die allgemeine Arbeitswilligkeit und selbst Arbeitsfreudigkeit mußte unter den erschreckenden Ereignissen leiden, welche der Arbeiterschaft zunächst ein Sturmzeichen dafür sein mußten, daß alle ihre Errungenschaften aus der politischen Umwälzung vernichtet werden sollten“ (BA: NL Mentzel 9).
Die im Vergleich mit der kurzen Amtsdauer des Kabinetts große Zahl ausgewählter Dokumente in diesem Editionsband erklärt sich aus der Vielfalt politischer Ereignisse in den zehn Wochen vom 28. März bis zum 21. Juni 1920. Im Gegensatz zur chronologischen Anordnung im Dokumententeil soll diese Einleitung die Übersicht über sachthematische Zusammenhänge erleichtern. Den Ausgangspunkt bildet die Entstehungsgeschichte des Kabinetts und eine kurze Charakteristik seiner Mitglieder. Daran schließen sich Abschnitte über die Reparationsfrage und die Wehrpolitik an, die in der Vorgeschichte der Konferenz von Spa eine Rolle spielen. Weiterhin werden der Aufstand im Ruhrgebiet, die französische Intervention im Maingau sowie die latente innerpolitische Unruhe in Deutschland behandelt. Es folgen Hinweise auf die Situation der Länder und der Grenzgebiete im Osten und Westen und Bemerkungen zur Finanz-, Sozial- und Wirtschaftspolitik. Den Schluß bilden Ausführungen über die Reichstagswahl und den Rücktritt des Kabinetts.