1.6 (bru3p): Nr. 520 Reichsminister a. D. Graf Kanitz an den Reichskanzler. Podangen, 18. Oktober 1931

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Nr. 520
Reichsminister a. D. Graf Kanitz an den Reichskanzler. Podangen, 18. Oktober 1931

R 43 I /2549 , Bl. 89–92

[Landwirtschaftliche Hypothekenzinsen.]

Hochverehrter Herr Reichskanzler!

Nachdem nunmehr der Reichstag sich auf einige Monate vertagt hat, und die Situation im Lande, vor allem im Osten sich wirtschaftlich von Tag zu Tag zuspitzt, ohne daß die Reichsregierung in der Lage sein dürfte, eine durchgreifende Besserung zur Lage anzubahnen, erhebt sich für mich, wie für alle verantwortungsbewußten Landwirte die bange Frage, wie es nun gelingen soll, das Gros der Landwirte in Ruhe und Ordnung zu halten. Ich habe ja des öfteren, sehr verehrter Herr Reichskanzler, den Vorzug gehabt, mich mit Ihnen über die allgemeine Situation auszusprechen. Die äußere Veranlassung zu diesen Zeilen bildet die Einberufung der Kreisführer des ostpreußischen Landbundes (Landwirtschaftsverband Ostpreußen) zum Freitag, den 23. dieser Woche. Obwohl ich der Volkspartei angehöre, bin ich Kreisführer in meinem Heimatkreise Pr. Holland und muß also an dieser Tagung teilnehmen. Sie werden vielleicht denken, daß ich Ihnen hier belanglosen Kleinkram vortrage. Es handelt sich aber, vertraulich gesagt, um sehr viel ernsteres. Wie ich gehört habe, plant man in der Provinz am 23. ds. Mts. entscheidende Entschlüsse für die gesamte Landwirtschaft etwa dahingehend zu fassen, daß entsprechend der tatsächlichen absoluten Illiquidität auch der besten Betriebe Zahlungen für Hypotheken- und sonstige Zinsen, Steuern, soziale Lasten etc. nur entsprechend[1833] der tatsächlichen Liquidität des einzelnen Betriebes in Zukunft zu leisten sind. Man wird nicht etwa einen Steuerstreik proklamieren, um dadurch einige wenige Märtyrer zu schaffen, sondern man wird, soweit ich die Sache beurteile, einfach erklären, man sei nicht mehr in der Lage, die verzweifelten Landwirte zusammenzuhalten und würde es verstehen, wenn jeder Landwirt nur nach seiner tatsächlichen Leistungsfähigkeit weiterhin Zahlungen leiste.

Ich wäre nun, im Vertrauen gesagt, gern in der Lage, am 23. in dieser sehr folgenschweren Sitzung, deren Resultat ja wohl unter Umständen die gesamte notleidende Landwirtschaft zur Nachahmung anreizen könnte, irgend etwas Tröstliches sagen und gewissermaßen Öl auf die Wogen gießen zu können. Sie wissen, sehr verehrter Herr Reichskanzler, daß ich unter Opferung meiner ganzen politischen Stellung bislang immer für Ruhe und Vernunft eingetreten bin. Ich muß aber selbst eingestehen, daß die Verhältnisse jetzt derart pernitiös sind, daß auch ich selbst in meinem Betriebe der Verzweiflung nahe bin. Bei relativ schlechter Ernte, bei geradezu grotesken Vieh- und Milchpreisen, steigen nicht nur die sozialen Lasten dauernd, sondern bekanntlich auch die Zinsen für lose Schulden. Es ist schon seit längerem völlig ausgeschlossen, auch einen gut gehenden Betrieb aus laufenden Einkünften im Gange zu halten. Ich kann schließlich nicht als einziger gegen den Strom schwimmen, wo ich selbst im übrigen merke, daß meine Wirtschaft mit Riesenschritten dem Abgrund entgegengeht. Wenn nicht in kürzester Zeit in irgendeiner Form eine durchgreifende Erleichterung eintritt, sind wir hier alle miteinander, ob groß oder klein, verloren, und ich bin, da ich das weiß, in allergrößten Gewissenskonflikten, wenn ich mich überhaupt noch der unpopulären Mühe unterziehe, für die Vernunft zu kämpfen.

Nach meiner Ansicht ist die Situation in der Landwirtschaft des ganzen Ostens nur dadurch zu halten, daß in irgendeiner Form baldigst eine Herabsetzung der Zinsfüße sowohl bei 1. Hypotheken als auch bei losen Schulden in Form einer Art von Moratorium eingeführt wird. Es ist völlig ausgeschlossen, daß die Dezemberzinsen gezahlt werden, nachdem die laufenden Einnahmen von der Krankenkasse für soziale Beiträge gepfändet werden, und nicht einmal das nötige Geld für die Löhnungen übrig bleibt. Die Landwirte sind mit vollem Recht absolut verzweifelt und ratlos, wenn sie sagen, mit Vertröstungen auf eine bessere Zukunft sei ihnen nicht mehr geholfen, da kein Mensch ihnen einen Pfennig stundete.

Sie können sich denken, sehr verehrter Herr Reichskanzler, daß es schon sehr schlimm kommen muß, bevor ich überhaupt einen solchen Brief an Sie schreibe. Wenn ich es tue, so nur deshalb, weil ich mit schwerster Sorge in die allernächste Zukunft für die Landwirtschaft sehe, weil es tatsächlich nicht mehr möglich ist, die verzweifelten Landwirte in Ordnung zu halten, da man ihnen ja auch Recht geben muß, wenn sie sagen, es geht von Tag zu Tag bergab, und die finanzielle Klemme wird immer schlimmer. Ich bin am Mittwoch und Donnerstag dieser Woche in Berlin und stehe zu weiterer Auskunft, vielleicht auch zu einer Besprechung mit Ihnen und den interessierten Ressortministern gern zur Verfügung, falls eine solche gewünscht werden sollte1. Ich weiß genau, daß man am Freitag dieser Woche in Königsberg[1834] Beschlüsse fassen wird und muß, die irgendwie verzweifelte Beschlüsse sind, die aber ganz bestimmt nicht ohne nachhaltiges Echo und Nachahmung in den anderen Provinzen und Ländern bleiben werden. Ich kann diese Beschlüsse nicht hindern, wenn ich den Leuten nicht etwas Positives und nahe Greifbares sagen kann, das sie mir auch glauben. Die hiesigen Landwirte sind, auch wenn sie bisher deutschnational wählten, an und für sich absolut ruhige und verständige Leute und sind nur zu gern bereit, sich an irgendeine Hoffnung zu klammern. Sie sehen aber keine Hoffnung mehr, und ich sehe auch keine Hoffnung mehr, wenn nicht betr. der Debetzinsen und der sozialen Lasten sofort etwas geschieht, da ja spätere Hilfe bei den meisten zu spät kommt. Die Osthilfe spielt gegenüber dieser allgemeinen Misere ja eine relativ nebengeordnete Rolle. Ich persönlich glaube, daß durch Zölle nicht mehr viel zu machen ist, und daß die Einführung höherer Butterzölle den Butterkonsum noch mehr zurückgehen lassen würde. Wenn aber schon auf dem Gebiet der Zölle nichts zu machen ist, so muß betr. Zinsen und sozialer Lasten tatsächlich sofort etwas geschehen, denn es ist für jede Regierung unmöglich mit einer, wenn auch ohne Waffen revoltierenden Landwirtschaft zu regieren.

1

ORegR Planck teilte RM a. D. Graf Kanitz in einem Zwischenbescheid am 20.10.31 mit, daß der RK sich im Urlaub (vom 19.–23.10.31: Nachl. Pünder , Nr. 43, Bl. 8, 13) befinde und auch brieflich nicht zu erreichen sei (Durchschrift in R 43 I /2549 , Bl. 93).

Man will hier auf dem Lande nicht mehr die Krankenkassenbeiträge zahlen, weil auch die Arbeiter selbst sagen, sie hätten es früher, als es keine Kassenbeiträge gab, ebenso gut gehabt und nicht unter den fürchterlichen Abzügen an Lohn gelitten. Man will die Kassenbeiträge nicht mehr zahlen, und, wie es früher üblich war, den Arzt auf eigene Kosten holen, wenn ein Arbeiter krank ist. Auch die Arbeiter sagen, es sei früher bei der alten Methode niemand zugrunde gegangen, und jetzt ginge[n] Arbeiter und Arbeitgeber zugrunde. Arbeitnehmer und Arbeitgeber wollen nicht mehr die Erwerbslosenbeiträge bezahlen, da es hier ja relativ wenig Erwerbslose gibt. Sie können sie auch nicht mehr bezahlen, da ja die Lohnzahlungen infolge der finanziellen Situation niemals mehr pünktlich erfolgen, und oft nur das ausgezahlt werden kann, was gerade reicht, um den Anteil der Arbeiter an den sozialen Lasten zu decken. Es sind heillose und beispiellose Zustände hier in der Provinz! – Und ich kann gar nicht anders als mich in die Front der verzweifelten Menschen hineinstellen, nicht parteipolitisch, aber wirtschaftlich, da es bei mir auch ums Letzte geht, wenn nicht im allerletzten Moment eine positive wirksame Hilfe bei den Zinsen und Soziallasten eintritt. Wenn Sie, sehr verehrter Herr Reichskanzler, mir nichts derartiges vor dem Freitag dieser Woche zusagen können, bzw. einer Ihrer Ressortminister, dann wird hier am Freitag eine Parole ausgegeben werden, die nicht etwa zu ungesetzlichen Handlungen Anlaß geben wird, jedoch zu einem heillosen verzweifelten Durcheinander und zur Stillegung der gesamten landwirtschaftlichen Produktion, soweit sie nicht nötig ist, um die landwirtschaftlichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer notdürftig zu ernähren2. Man fürchtet sich nicht mehr vor Zwangsversteigerungen, weil man sowieso alle Hoffnung auf Besserung aufgegeben hat. Ich selbst habe, um dringende Verpflichtungen zu erledigen, vor acht Tagen schwere alte Kühe für 15 Pfennig pro Pfund gegen 40 Pfennig im Vorjahr verkaufen müssen, also nur den dritten Teil des für die Ausgaben benötigten Geldes bekommen. Bei den Zwangsversteigerungen, zu denen es bei dem bevorstehenden Durcheinander in geradezu beispiellosem Ausmaß kommen wird, wird es ja schließlich gar keine Bieter mehr geben, wenn schon das Vieh jetzt fast nicht mehr absetzbar ist. Die Landwirte sind hier tatsächlich auf den nahen Untergang eingestellt, es ist ihnen alles egal, und sie sitzen mit ihren Arbeitern stumpf und verzweifelt auf ihren Höfen. Ich glaube jedoch, daß ein landwirtschaftliches Chaos, das sich gar nicht einmal in ungesetzlichen Formen abspielen braucht, das Ende des Reichs ist. Dieses Chaos steht hier unmittelbar vor der Tür. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie, sehr verehrter Herr Reichskanzler, falls Sie überhaupt eine sofortige positive Hilfe wissen, mir diese in Form eines Briefes bis zum Donnerstag nach Berlin zustellten, den ich bei der Versammlung am Freitag in Königsberg zur Beruhigung der landwirtschaftlichen Führer verwenden kann. Ob man es heute will oder nicht, es wird ja doch zu einem inneren Zwangsmoratorium kommen müssen. Warum dann nicht es ankündigen zu einem Zeitpunkt, wo die Ankündigung noch wenigstens psychologische Beruhigung erzeugt! Sie wissen, sehr verehrter Herr Reichskanzler, daß ich immer zu Ihren zuverlässigsten Anhängern gezählt habe und zähle. Ich verlange dafür keine Gegenleistung, erbitte nur das Verständnis für die tatsächlich heillose Situation und für die Notwendigkeit, mir vor dem kommenden Freitag irgend etwas Positives in die Hand zu geben, damit ich Entschlüsse verhindern kann, die alles auf den Kopf stellen. Der schlimmste Entschluß wird der sein, daß die Führer sagen, sie könnten nichts mehr für die Landwirte erreichen, und der Landwirtschaftsverband solle sich auflösen, und jeder sei auf Selbsthilfe angewiesen. Das bedeutet die sofortige Bildung nationalsozialistischer Wirtschaftsverbände, die bereits jetzt dem Landwirtschaftsverband schwerste Konkurrenz machen, oder aber es bedeutet, daß jeder sich taubstumm stellt, kaum mehr produziert, sich die letzte Kuh versteigern läßt und schließlich auch stempeln geht. Die Auflösung der bisherigen Wirtschaftsverbände, auch wenn sie uns viel Kopfzerbrechen gemacht haben, ist viel schlimmer als eine törichte Parole zum Steuerstreik. Der erstere Weg ist der wahrscheinlichere. Ich möchte ihn verhindern, aber ich weiß nicht womit. Da es 5 Minuten vor 12 ist, und ich tatsächlich völlig ratlos bin, übersende ich Abschrift dieses Briefes, den ich im übrigen bitte vertraulich zu behandeln, an Herrn Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft und den Herrn Reichsfinanzminister, damit vielleicht diese Herren von sich aus mit Ihnen, sehr verehrter Herr Reichskanzler, in Fühlung treten, um mir vor dem Freitag irgendeinen positiven Rat zu erteilen. Sollten in dem diesbezüglichen Schreiben Dinge gesagt werden, die sich noch nicht für die Öffentlichkeit eignen, so will ich dieses Schreiben dann nur dem Vorsitzenden des Landwirtschaftsverbandes zeigen, damit er seinerseits unter Einsetzung seiner Person und[1836] nur unter vager Andeutung der in Aussicht gestellten Hilfen, die Situation retten kann3.

2

In einem Schreiben an den RK vom 2.11.31 kritisierte die IHK Königsberg die Entschließung des Kreisführertags des Landwirtschaftsverbands Ostpreußen über die steuerliche Zahlungsunfähigkeitserklärung und die Verweigerung bzw. eingeschränkte Erfüllung bestehender Zahlungsverpflichtungen. Die IHK bezweifelte, „daß innerhalb der Landwirtschaft die Notlage überall die gleiche wäre. Wer tatsächlich nicht zahlen kann, der kann eben nicht, auch ohne die Erklärung des Landwirtschaftsverbandes.“ Dem Landwirtschaftsverband gehe es vielmehr um die Senkung des Satzes für Sollzinsen auf maximal 3%. Diese Forderung werde sich jedoch für den gesamten landwirtschaftlichen Kredit sehr schädigend auswirken (R 43 I /1811 , Bl. 5–7, Zitat a.a.O., Bl. 6).

3

StS Pünder kündigte in seiner Antwort an Graf Kanitz vom 6.11.31 weitere Maßnahmen der RReg. zur Stüzung der Landwirtschaft an und verwies auf die noch ausstehenden Vorschläge des Wirtschaftsbeirats der RReg. (Konzept von MinR Feßler in R 43 I /2549 , Bl. 94).

In gewohnter Hochschätzung bin ich stets

Ihr sehr getreu ergebener

Gf. Kanitz

Reichsminister a. D.

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