2.8.4 (mu11p): 4. Lage im Ruhrrevier.

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4. Lage im Ruhrrevier3.

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Am Rand des TOP handschriftlich: „vorsichtshalber nicht vernichten“.

ReichskanzlerMüller: Der Reichskommissar Severing habe mitgeteilt, daß die Lage im Ruhrrevier ohne Anwendung von Waffengewalt nicht mehr zu retten sei. Am 3. April würde von Norden und Osten vormarschiert werden, falls nicht bis dahin eine völlige Niederlegung der Waffen erfolge, an die er nicht glaube4.

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Dieser Aussage liegt die Aufzeichnung eines Telefonats aus Münster zugrunde: „1) Severing bittet dringend, daß RK und RReg. keinerlei Anordnung oder Deklarationen vornehmen, ohne ihn vorher zu hören. Er könne sein Amt sonst nicht ausfüllen. […] 2) Verhandlungen mit Arbeiterorganisationen der USPD, die gestern stattgefunden, hätten dazu geführt, daß nochmals Frist bis Freitag [2. 4.] Mittag 12 Uhr für Waffenabgabe und Einsetzung der verfassungsmäßigen Organisationen gewährt sei [s. dazu Dok. Nr. 4]. Diese Verlängerung sei erfolgt auf Grund a) Telephonats von Osterroth, wonach RReg. weiteren Vormarsch der Truppen angehalten und Frist verlängert habe; b) Befehls an Reichswehrgruppenkommando, demzufolge vor dem 2. 4. keine provozierenden Märsche und keine Kampfhandlungen zu erfolgen hätten. Er, Severing, halte diese Stellungnahme für falsch; die Situation sei ohne Waffengewalt nicht zu retten; Frist bedeute daher nur Zeitverlust. – Immerhin, nachdem es geschehen, habe es den Vorteil, daß man der Welt gegenüber gezeigt habe, daß die Regierung Langmut bis zur äußersten fast unerträglichen Grenze gezeigt habe [Dazu die Fußnote: Das letztere erklärte über Telephon auch Herr Legien.]. 3) Die gegenwärtige Situation sei nunmehr so, daß bis morgen, Freitagabend, nicht marschiert werde, daß am 3. aber marschiert werde, und zwar von beiden Seiten, d. h. von Norden und Osten, falls nicht bündiger Beweis der Waffenabgabe und der Wiedereinsetzung der verfassungsmäßigen Beamtenorganisationen erbracht werde, woran er, Severing, zweifele“ (R 43 I /2728 , Bl. 107). In einem Lagebericht, der vom PrHandMin. aufgrund einer telefonischen Meldung aus Düsseldorf bekanntgegeben wurde, hieß es für den 1.4.20, 12.30 h: „Das Gesamtbild sei, daß sich die Lage in keiner Weise verbessert, vielmehr eher verschlechtert habe, die Unruhe nehme in allen Orten der Front zu“ (R 43 I /2728 , Bl. 366).

[16] Der Reichskanzler weist darauf hin, daß zahlreiche Deputationen die Situation im Ruhrrevier als äußerst gefährlich schilderten und das sofortige Einrücken der Truppen forderten. Unterstaatssekretär Albert teilt mit, daß der Oberbürgermeister Luther soeben telephoniert habe, daß in Essen und Umgebung bewaffnete Banden starken Terror ausübten. Der Eisenbahnbetrieb sei eingestellt, Beschlagnahme von Depots <seien erfolgt>5. Oberbürgermeister Luther habe sich am Telephon nicht frei äußern können, er hätte jedoch angedeutet, daß der Truppeneinmarsch unumgänglich notwendig sei.

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Aus: „erfolgten ständig“.

Oberstleutnant Hasse berichtet, daß Hamm und Werl am 31. März ohne Kampf von der Reichswehr besetzt worden seien. Heute hätten Kämpfe am Rhein und in der Gegend von Hamm infolge Angriffs roter Truppen stattgefunden, dasgleiche sei südlich Haltern der Fall gewesen. Hier sei die Reichswehr in Richtung auf Recklinghausen nachgestoßen, so daß mit der alsbaldigen Besetzung Recklinghausens zu rechnen sei.

ReichskanzlerMüller weist auf die äußerst ernsten Folgen hin, die dieser Nachstoß in die neutrale Zone haben könnte. Nach einem Telegramm des Pariser Geschäftsträgers, Dr. Mayer, der heute mit Millerand gesprochen habe, sehe man in Paris die Lage im Ruhrrevier als so entspannt an, daß die französische Regierung einen Truppeneinmarsch nicht für erforderlich halte. Offenbar habe die französische Regierung unter dem Einfluß französischer Militärkreise, insbesondere des Generals Nollet, den früheren Standpunkt, nach dem die Genehmigung zum Einmarsch zu erteilen sei, jetzt aufgegeben. Millerand habe betont, daß die militärischen Notwendigkeiten erst geprüft werden müßten, deshalb könne ein Einmarsch jetzt nicht bewilligt werden6.

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In einer Darstellung seiner Verhandlungen mit Millerand am 1.4.20 berichtete der Geschäftsträger Mayer, der frz. MinPräs. habe nach nochmaliger Erörterung des Mißverständnisses über das Schreiben Paléologues (s. Anm. 2 zu Dok. Nr. 3) weiterhin erklärt, „die militärischen Sachverständigen hätten nun aber sich so geäußert, daß er vor unübersteigbaren Schwierigkeiten stehe, weil er für die Sicherheit Frankreichs verantwortlich sei. Übrigens hätten die militärischen Auskünfte aus Berlin die Folgen eines Einmarsches in das Ruhrgebiet so hingestellt, daß er, selbst wenn Deutschland heute die Bedingungen der Note vom 28. 3. annehme, den deutschen Einmarsch ins Ruhrgebiet nicht zulassen könnte. Ich erwiderte, die französischen Militärs würden Gespenster sehen, worauf er sagte, aber auch die deutschen“ (Telegramm Nr. 127 vom 1.4.20, Ankunft: 21.20 h; R 43 I /2728 , Bl. 320 f.). In einem weiteren Telegramm berichtete Mayer: „Millerand schilderte mir noch mit der Bitte um streng vertrauliche Behandlung und nur für mich persönlich bestimmt, in wie schwierige Lage er durch die Haltung der Militärs gekommen sei. Er sagte, ihr Widerstand sei unübersteigbar (insurmontable). Ich erwiderte, daß diese Schwierigkeiten uns bekannt seien und daß wir darauf Rücksicht genommen hätten“ (Telegramm Nr. 128 vom 1.4.20, Ankunft: 21.40 h; R 43 I /2728 , Bl. 322).

Der Reichskanzler weist darauf hin, daß, wenn bei dieser Lage Truppen in die neutrale Zone einrückten, Frankreich den Friedensvertrag als verletzt ansehen und in Deutschland einmarschieren könnte. Mit der Besetzung von Frankfurt, Homburg, Darmstadt und Hanau sei bestimmt zu rechnen, schon um[17] hierdurch die Stimmung in Süddeutschland zu beeinflussen. Praktisch sei dann ganz Hessen okkupiert.

Die Lage sei ferner dadurch verschärft, daß französische Offiziere heute im Auswärtigen Amt vorgesprochen seien und erklärt hätten, daß Reichswehrtruppen, nämlich das Detachement Faupel, bereits in die neutrale Zone eingerückt seien. Die französischen Offiziere hätten ferner erklärt, daß sie noch heute Abend über diesen Fall nach Paris berichten müßten. Der Reichskanzler befürchtet, daß wenn die Meldung des Einmarsches erfolgt, Frankreich erklären würde, daß wir uns an die Abmachung nicht gehalten hätten. Dann sei keinerlei Entgegenkommen zu erwarten.

Der Kanzler schlägt vor, einen Beschluß, unter allen Umständen in das Ruhrrevier einzurücken, heute nicht zu fassen.

General von Seeckt hat keine Nachricht über den Einmarsch des Detachements Faupel, hält ihn aber für möglich. Wenn ein Einmarsch hier und an anderen Stellen bereits erfolgt sei, so müßten wir erklären, daß wir durch Angriffe der roten Truppen dazu gezwungen worden seien7.

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Am 3.4.20 erhielt UStS Albert vom Presseamt des AA eine wohl für die Presse bestimmte Notiz: „Der deutsche Geschäftsträger, Herr Dr. Mayer, hat gestern Herrn Millerand die Mitteilung gemacht, daß einige deutsche Truppen-Kontingente in die neutrale Zone eingedrungen sind. Herr Dr. Mayer brachte die Auffassung zur Darstellung, daß es sich hier um ein einfaches Versehen handele und daß die militärischen Chefs nach den Mitteilungen des Kanzlers annehmen konnten, die französische Regierung billige diesen Schritt. Herr Millerand hat diese Tatsache, ohne sie allzu tragisch zu nehmen, immerhin für sehr ernst erklärt. Er hat Herrn Dr. Mayer darauf aufmerksam gemacht, daß er seine Haltung, die er bisher in der Frage des Vordringens der deutschen Truppen eingenommen hat, nicht im mindesten zu ändern gedenke. Im übrigen müssen die deutschen Truppen sowieso am 10. April das Ruhrrevier verlassen und zwar nicht nur die jetzt eingedrungenen Kontingente, sondern alle Truppen, die sich bisher dort befanden“ (R 43 I /2728 , Bl. 185).

ReichsschatzministerBauer weist auf die Konsequenzen hin, die ein Imstichlassen der Rheinländer in der jetzigen Lage haben würde. Der Abfall des Rheinlands sei dann ernstlich zu befürchten. Frankreich warte nur auf den Moment, in dem es seinerseits von den Rheinländern zur Hilfe gerufen werde. Es bleibe daher nichts übrig, als einzumarschieren und die Ordnung wieder herzustellen.

Reichsminister der Justiz Dr. Blunck und ReichspostministerGiesberts schließen sich dieser Ansicht an.

Unterstaatssekretär von Haniel: Nach Artikel 44 des Friedensvertrags bedeute der Einmarsch eine feindliche Handlung8. Er warnt vor einer militärischen Festlegung, bevor die Verhandlungen mit Frankreich abgeschlossen seien, mindestens müsse man das angekündigte Telegramm des Pariser Geschäftsträgers noch abwarten.

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Durch Art. 44 VV wurde der „ständige oder zeitweise“ Aufenthalt dt. Streitkräfte in der demilitarisierten Zone zu einer feindseligen Handlung erklärt.

Ministerialdirektor Rauscher legte dar, daß in der heutigen Pressekonferenz nur auf die politische Entspannung der Lage hingewiesen worden sei. Er tritt im übrigen den Ausführungen des Unterstaatssekretärs von Haniel bei, auch wegen der innerpolitischen Wirkung. Mit einer vorübergehenden Besetzung Frankfurts sei es nicht getan, es handele sich um den drohenden Verlust Süddeutschlands.

[18] Reichswehrminister Dr. Geßler: Die staatliche Notwendigkeit erfordere den Einmarsch ins Ruhrrevier. Erfolge er nicht, so würde das gesamte Wirtschaftsleben Deutschlands in kurzer Zeit gänzlich still liegen.

Gesandter Riezler: In der Zwangslage, in der wir uns befänden, könnte von dem Einmarsch in das Ruhrrevier nicht mehr abgesehen werden. Der darin liegende Bruch des Friedensvertrages würde zwar möglicherweise, aber nicht sicher, die von anderer Seite geschilderten <ernsten Folgen haben>9. Bei Befolgung einer geschickten Politik müsse es möglich sein, die französische Militärpartei und die von ihr beeinflußte französische Politik zu isolieren. Wenn Frankreich infolge unseres Einmarsches den gesamten Friedensvertrag als aufgehoben ansehe, so könne dies in einigen Monaten sogar zu unseren Gunsten ausschlagen, denn es sei äußerst unwahrscheinlich, daß dann ein für Frankreich gleich günstiger Vertrag, wie der von Versailles, zustande komme.

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Aus: „Katastrophe folgen lassen“.

ReichsernährungsministerHermes tritt den Ausführungen des Gesandten Riezler bei.

ReichspostministerGiesberts betont nochmals, daß, wenn der Einmarsch nicht erfolge, Deutschland in einer Woche ohne Kohlen sei. Dies bedeutet den völligen Zusammenbruch und die Ausrufung der Räterepublik.

Reichsminister des InnernKoch schlägt vor, in Paris zu sagen, die Grenze der neutralen Zone sei überschritten worden, weil der General von Watter sich nach der vom Reichskanzler abgegebenen Erklärung über die Haltung Frankreichs zum Einmarsch für berechtigt gehalten habe.

ReichskanzlerMüller hält es für notwendig, in Paris nochmals sofort klarzulegen, daß das gesamte deutsche Wirtschaftsleben zusammenbrechen werde, wenn wir in das Ruhrrevier nicht einmarschieren könnten. Man müsse sich darüber klar sein, daß England und Italien uns zwar im Laufe der Zeit in dieser Frage unterstützen würden10, aber ein Druck dieser Länder auf Frankreich, um es vom sofortigen Einmarsch in deutsches Gebiet abzuhalten, werde kaum erfolgen. Man müsse also mit dem französischen Einmarsch rechnen, wenn unser Pariser Geschäftsträger mit seinen Vorstellungen keinen Erfolg hätte.

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Die britische Einstellung war aus einer Unterredung zwischen Lord Hardinge und dem deutschen Geschäftsträger in London, Sthamer, bekannt. Sthamer hatte u. a. mitgeteilt: „Lord Hardinge erklärte mit besonderem Nachdruck, daß die frz. Forderung auf Besetzung von Frankfurt a./M. usw. keine Forderung der Alliierten sei, wollte aber wissen, welche Garantien Deutschland für den Fall biete, daß die deutschen Truppen nicht innerhalb einer zu setzenden Frist 50 Kilometerzone räumten. Er war bereit, Lord Curzon, dessen Stellungnahme vorbehalten wurde, Vorschläge zu unterbreiten, bei Frankreich in dem Sinne vorstellig zu werden, daß Deutschland Freiheit der Aktion für 6 Wochen erhalte unter der Bedingung, daß bei Nichteinhaltung dieser Frist alliierte Truppen in gleicher Stärke, wie die deutschen, in die fragliche Zone einrückten, setzt aber hinzu, daß er persönlich nicht glaube, daß dies Anerbieten angenommen würde, weil es zu ungünstig sei für die Alliierten, daß er vielmehr voraussetze, daß die Alliierten sich die Freiheit des Handelns nach Maßgabe des Friedensvertrages vorbehalten würden, falls Deutschland seine Truppen nach 6 Wochen nicht zurückgezogen habe“ (Telegr. Nr. 85 vom 30.3.20; R 43 I /2728 , Bl. 294).

Unterstaatssekretär Albert hält es für notwendig, daß der Reichskanzler[19] am 2. April die Presse persönlich über die Lage aufklärt. ReichskanzlerMüller erklärt sich hierzu bereit11 und stellt fest:

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Angaben über eine Pressekonferenz des RK ließen sich nicht ermitteln.

Das Kabinett sei darüber einig, daß ein endgültiger Entschluß heute noch nicht gefaßt werden solle12. Das Kabinett müsse sich bereit halten, am Karfreitag [2. 4.] nachmittags wieder zusammenzutreten13.

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Demgegenüber hatte aber in einer Sitzung des PrStMin., die bereits um 16 h stattgefunden hatte (zur Datierung: R 43 I /2285 , Bl. 71), UStS Albert nach einem Bericht über die Lage im Ruhrgebiet erklärt, „daß die RReg. entschlossen sei, mit dem Einrücken der Truppen in die gefährdeten Landesteile längstens bis zum 2. des Monats mittags 12 h warten zu wollen. Damit, daß sie bis dahin ihre abwartende Haltung beibehalten wolle, glaube die RReg. alles getan zu haben, um einerseits Blutvergießen zu verhüten und andererseits die rote Armee von der Arbeiterschaft zu trennen. Das StMin. nahm hiervon Kenntnis und sprach sich übereinstimmend dahin aus, daß nunmehr der psychologische richtige Augenblick für ein Eingreifen gekommen sei“ (P 135/214).

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Eine amtliche Niederschrift über diese Kabinettssitzung wurde nicht ermittelt. In einem militärischen Lagebericht heißt es hierzu: „Gestern fand Kabinettssitzung statt, in der beschlossen wurde, dem Abgeordneten Severing freie Hand zu lassen. Besonders auf die Vorstellungen des Generals von Watter, der jede Verantwortung für militärische Maßnahmen abgelehnt hat, wenn ihm militärisch nicht völlig freie Hand gelassen würde. Die Mitteilungen von sozialdemokratischen und Zentrumsabgeordneten, daß das Ruhrgebiet, wenn ihm nicht augenblicklich geholfen würde, seitens der deutschen Regierung gezwungen sei, sich selbst von anderer Seite Hilfe zu verschaffen, führten dazu, daß das Kabinett sich entschloß, der Entente gegenüber volle Verantwortung zu tragen, für das verbotene Einrücken von Truppen in die 50 km Zone. Man hofft, daß die Entente nichts weiter unternehmen wird. Jedenfalls wird erneut mit ihr verhandelt. […]“ (3.4.20; BA: Nachlaß Mentzel  9). Der RIM trug als Kommentar zu dieser Kabinettssitzung u. a. in sein Tagebuch ein: „Presse steht voll von unglaublichen schwächlichen Abkommen, die Severing geschlossen haben soll. Alles Nachrichten von den Berichterstattern bei der Roten Armee in Essen. Rauscher versteht es nicht, klar zu stellen, daß wir nicht aus Angst vor den innerpolitischen Schwierigkeiten verhandeln, sondern die Entscheidung in Paris beeinflussen wollen. Severing hat nicht abgeschlossen, sondern will morgen marschieren. Jetzt alles dafür, Severing nicht in den Arm zu fallen, außer David. Schwerste Entscheidung seit Friedensvertrag“ (BA: Nachlaß Koch-Weser 27; vgl. auch Anm. 16 zu Dok. Nr. 10). Zur weiteren Entwicklung s. Dok. Nr. 9 und 10.

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