2.20 (mu21p): Nr. 20 Unterredung zwischen Reichskanzler Müller und dem französischen Außenminister Briand in Genf. 5. September 1928, 18.30–20.00 Uhr

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Nr. 20
Unterredung zwischen Reichskanzler Müller und dem französischen Außenminister Briand in Genf. 5. September 1928, 18.30–20.00 Uhr1

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Müller und Briand hatten diese Unterredung am 4. 9. verabredet; sie sollte in Briands Hotel stattfinden. Dem RK dienten zur Vorbereitung für die Besprechung: „Richtlinien für eine Unterhaltung mit den Vertretern der Besatzungsmächte über die Räumungsfrage“, eine „Aufzeichnung“ über die deutsche Haltung zur Gesamträumung auf Grund der Regierungserklärung und „Notizen zur Unterredung mit Briand am Mittwoch, dem 5. September 28“ (R 43 I /502 , Bl. 291-293, 301-313). Vor der Abreise nach Genf hatte der RK die Räumungsfrage mit dem RbkPräs. besprochen und legte „Gewicht darauf, daß Herr Schacht über den weiteren Gang der Dinge auf dem laufenden gehalten werde“ (Pol.Arch.: Büro RAM 18, 16).

R 43 I /502 , Bl. 281-290 Durchschrift2

2

Die Aufzeichnung der offiziellen Gespräche in Genf erfolgte durch den Dolmetscher Dr. Paul Schmidt.

[Räumungsfrage und Reparationen.]

Der Herr Reichskanzler führte zunächst aus, daß er Herrn Briand für die Gelegenheit dankbar sei, mit ihm zunächst einmal allein die zwischen den beiden Ländern bestehenden Fragen zu besprechen und fügte hinzu, daß natürlich Herr Reichsminister Stresemann die Ereignisse in Genf mit dem größten[78] Interesse verfolge und sogar schon etwas unruhig darüber sei, daß bisher so wenig in Genf vor sich gegangen sei. Um was es sich bei dieser Unterhaltung zu handeln habe, sei ja schon in den Unterhaltungen, die der Herr Reichsminister in Paris geführt habe, sowie in dem Schritt des deutschen Botschafters in Paris zum Ausdruck gekommen3. Es handele sich um ein Problem, das die beiden Völker schon lange beschäftigt habe. Man habe jedoch deutscherseits erkannt, daß man die Zeit abwarten müsse, zu der die Fragen, um die es sich hier handle, reif für eine endgültige Gesamtlösung seien. Man habe darauf Rücksicht genommen, daß die französischen und die deutschen Wahlen eine solche Lösung zunächst hinausschöben. Glücklicherweise seien ja die Wahlen in beiden Ländern so ausgefallen, daß diejenigen, die für die Verständigung wären, die Mehrheit behalten haben4. In Deutschland habe man die große Koalition gebildet, weil die Sozialdemokraten es für ihre Pflicht hielten, an der Politik der Verständigung, die von Herrn Stresemann verfolgt würde und der sie ihre volle Anerkennung gäben, mitzuarbeiten.

3

S. Anm. 7 zu Dok. Nr. 18.

4

Zum Wahlergebnis in Deutschland s. Anm. 2 zu Dok. Nr. 2. Die Kammerwahlen in Frankreich am 22./29.4.28 hatten den Mittelparteien Stimmengewinne eingebracht.

Herr Briand antwortete darauf, daß auch er seinerseits sich freue, eine Unterhaltung mit dem Herrn Reichskanzler über diese Fragen haben zu können. Er müsse allerdings betonen, daß es sich um eine rein persönliche Unterhaltung und um keine offizielle Verhandlung handle.

Der Herr Reichskanzler fuhr darauf fort, indem er darauf hinwies, daß nach der Rückkehr des Herrn Ministers Stresemann das deutsche Kabinett sich mit der Räumungsfrage befaßt habe und daß die deutsche Regierung einstimmig der Ansicht sei, daß eine Gesamtlösung nunmehr stattfinden müsse. Da es sich im Augenblick um eine unverbindliche Unterhaltung handle, erklärte der Herr Reichskanzler, könne er darauf verzichten, die deutsche These im einzelnen zu begründen. Er wies im allgemeinen darauf hin, daß wir unseren Rechtsanspruch auf Art. 431 gründen5. Deutschland sei entwaffnet, was von[79] den vom Friedensvertrag eingesetzten Stellen anerkannt sei. Der Dawes-Plan regle die Reparationsverpflichtungen, so daß die im Art. 431 vorgesehenen Bedingungen erfüllt seien. Aber nicht allein juristische, sondern vor allem politische Argumente viel wichtigerer Art lägen vor. Man müsse mit aller Offenheit erklären, daß man deutscherseits die Besetzung deutschen Gebiets mit dem Geist und der Politik von Locarno unvereinbar hielte und daß nach deutscher Ansicht eine Realisierung des Locarno-Gedankens das Aufhören der Besatzung in sich schlösse. Es sei klar, daß die Besetzung als Sicherheitsgarantie überflüssig sei, denn es stehe doch wohl fest, daß in den 5 Jahren, während deren die Besetzung noch andauere, ein Krieg nicht ausbrechen werde. Andererseits müsse man auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen. Der einfache Mann der Straße verstünde es nicht, wenn trotz Locarno, trotz Kellogg-Pakt, trotz des Beschlusses der letzten Völkerbundsversammlung gegen den Angriffskrieg die Besetzung deutschen Gebiets weiter andauere6. Locarno sei deutscherseits nicht aus taktischen Erwägungen heraus geschlossen worden, sondern es sollte die Basis dauernder Verständigung bilden, und es müsse offen ausgesprochen werden, daß zu befürchten stehe, wenn die deutsche Delegation ohne Ergebnis nach Berlin zurückkehre, dies als ein schwerer Schlag gegen die von Herrn Stresemann verfolgte Verständigungspolitik bewertet würde. Das sei nicht nur im Interesse beider Länder, sondern im allgemeinen Interesse absolut zu vermeiden. Der Herr Reichskanzler führte weiter aus, daß er sich zunächst an Herrn Briand gewandt und um eine Unterhaltung gebeten habe, weil das deutsch-französische Verhältnis der Schlüssel der ganzen Lage und der Schlüssel der Befriedung Europas sei, und weil das Interesse der Vereinigten Staaten an Europa erst wieder dann voll und ganz zur Geltung kommen würde, wenn Europa seinerseits den Beweis dafür erbrächte, daß es aus eigenen Kräften heraus zu einer Konsolidierung des Friedens gelangen könne.

5

Der Artikel lautet: „Leistet Deutschland vor Ablauf der fünfzehn Jahre allen ihm aus dem gegenwärtigen Vertrag erwachsenden Verpflichtungen Genüge, so werden die Besatzungstruppen sofort zurückgezogen.“ In den „Richtlinien […] über die Räumungsfrage“ wurde über die dt. Haltung zu ihm erklärt: „II. Juristische Gesichtspunkte: […] 5.) Die Reparationsfrage hat ihre Regelung durch die Londoner Vereinbarungen über den Dawes-Plan gefunden. Es ist allerseits anerkannt, daß Deutschland seine Verpflichtungen aus dem Dawes-Plan stets pünktlich erfüllt hat. 6) Wir können den uns aus der französischen Presse bekannten Einwand, daß Artikel 431 eine effektive Abzahlung der ganzen Reparationssumme voraussetze, nicht als begründet anerkennen. Gegen den Einwand spricht schon der Wortlaut des Artikels (‚satisfait‘ nicht ‚a satisfait‘). Vor allem wäre aber der Artikel völlig sinnlos. Kein Mensch konnte jemals ernsthaft die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß Deutschland im Stande sei, die ganze Reparationslast schon vor 1935 zu tilgen. Der Vertrag von Versailles geht ja auch ausdrücklich von einer Zahlungsperiode von 30 Jahren aus. Artikel 431 kann deshalb, soweit die Reparationen in Betracht kommen, nur den Sinn haben, daß er eine angemessene Sicherstellung der deutschen Zahlungen vorsieht. Diese Sicherstellung ist durch die Dawes-Vereinbarungen erfolgt. Entscheidend ist dabei die Tatsache, daß diese Vereinbarungen nicht ein bloßes Zahlungsversprechen Deutschlands darstellen, sondern daß dadurch effektive Pfänder geschaffen worden sind, zu deren Bestellung Deutschland nach dem Vertrag von Versailles nicht verpflichtet war, und die daher eine freiwillige Leistung über den Vertrag hinaus darstellen.“ Es folgt die Feststellung, „daß Deutschland Beweise seines guten Willens und ausreichende Garantien im Sinne dieser Erklärung gegeben hat“ (R 43 I /502 , Bl. 301-309, hier: Bl. 303-305).

6

Vgl. zur Formulierung vom „einfachen Mann auf der Straße“ die Rede des RK vor der Vollversammlung des Völkerbunds am 7. 9. (Schultheß 1928, S. 452 ff., hier S. 456): „Der Mann aus dem Volk denkt einfach und denkt deshalb richtig. Er liest, daß die Regierungen sich feierlich auf die Erhaltung des Friedens verpflichten, und er sieht andererseits, daß diese Regierungen gleichwohl an ihren alten Machtpositionen festhalten und neue zu gewinnen suchen. […] So ist es nicht verwunderlich, wenn er schließlich dazu kommt, ein doppeltes Gesicht der internationalen Politik zu konstatieren.“ Über die Reaktion Briands auf diese Reise s. Anm. 1 zu Dok. Nr. 21.

Eine technische Frage stellte der Herr Reichskanzler bezüglich der Verhandlungen mit den übrigen Mächten und drückte den Wunsch aus, daß eine gemeinsame Besprechung stattfinden möge7.

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Weitere Einzelbesprechungen des RK fanden statt am 8. 9. mit Lord Cushendun, am 10. 9. mit Scialoja am Vormittag und nachmittags mit Hymans (R 43 I /502 , Bl. 260-278).

Darauf antwortete Herr Briand, daß zunächst einmal die Frage der Räumung keine ausschließlich deutsch-französische Angelegenheit sei, daß es noch mehrere andere interessierte Mächte gäbe, die allerdings, das müsse er zugeben, vielleicht in geringerem Grade interessiert seien. Auch Italien habe ja, jedenfalls indirekt, an der Besetzung ein Interesse und deshalb müßte es wohl auch zu den Besprechungen hinzugezogen werden.

Herr Briand wandte sich dann gegen die deutschen Presseäußerungen, nach denen Locarno überhaupt kein Resultat gezeitigt habe, und stellte in[80] längeren Ausführungen die ganze Entwicklung von Locarno bis Thoiry dar, indem er auf alle die Erleichterungen hinwies, die in der Zwischenzeit dem Rheinlande gewährt worden sind. In bezug auf Thoiry führte er aus, daß damals deutscherseits von gewissen finanziellen Kompensationen gesprochen worden sei, daß man aber keine positiven Vorschläge gemacht habe8, weil die Lage des amerikanischen Marktes die Durchführung der ins Auge gefaßten Finanz-Transaktionen nicht gestattete. Er, Briand, habe seinerseits die Angelegenheit nicht weiter verfolgt, weil er angesichts der Unmöglichkeit, auf dem amerikanischen Markt die entsprechende Unterstützung zu finden, der deutschen Regierung keine Schwierigkeiten habe bereiten wollen. Wenn jedoch jetzt aus Presseäußerungen sowie auch aus den Protokollen des sozialistischen Kongresses hervorgehe, daß man deutscherseits sage, man habe alle Bedingungen erfüllt, und Frankreich müsse daher seine Truppen aus dem Rheinland zurückziehen9, so könne er nur mit großem Nachdruck erklären, daß die französische Regierung einen derartigen Standpunkt nicht anerkenne. Die französische Regierung sei durchaus geneigt, die Fragen zu diskutieren und eine praktische Lösung zu suchen. Dabei müsse man die Beunruhigung der französischen öffentlichen Meinung berücksichtigen, die durch den deutschen Pressefeldzug gegen den Dawes-Plan hervorgerufen würde, und die die Notwendigkeit, ein Pfand zu besitzen, das die Zahlungen garantiere, nur um so deutlicher hervortreten lasse. Wenn man dieses Pfand aus der Hand gäbe und eine weniger verständigungsfreundliche deutsche Regierung ins Amt käme und z. B. die in der vorgenannten Pressekampagne angedeuteten Absichten in die Wirklichkeit umgesetzt würden, so habe man französischerseits überhaupt kein Mittel mehr in der Hand, um die Zahlungen zu sichern. Daher sähe er die einzige Lösungsmöglichkeit darin, den ganzen Fragenkomplex an dem Punkt wieder aufzugreifen, an dem man ihn in Thoiry verlassen habe, und praktische Lösungsmöglichkeiten zu suchen. (Reprendre les choses où l’on les avait laissées à Thoiry et rechercher des moyens pratiques de solution). Alle interessierten Regierungen seien sicherlich gern bereit, mit dem besten Willen die Frage zu studieren, aber es müsse deutscherseits etwas geschehen10. (Il faut que vous fassiez un effort). Es müsse deutscherseits der Hinweis gegeben werden, in welcher Richtung man sich auf Grundlage der seinerzeit in Thoiry ins Auge gefaßten Lösungsmöglichkeiten die weitere Entwicklung denke. Es sei klar, daß hier in Genf im Augenblick kein Resultat erzielt werden könne, das müsse den weiteren Verhandlungen überlassen bleiben.

8

Die frz. Ansicht, daß Deutschland keine praktischen Vorschläge gemacht habe, hatte schon Stresemann am 27. 8. in seinen Unterredungen mit Poincaré und Briand bestritten (Stresemann, Vermächtnis III, S. 354 f.).

9

Vom 5.–11. 8. hatte in Brüssel der Kongreß der sozialistischen Arbeiternationale getagt; dort hatte Paul Loebe den dt. Standpunkt zur Räumungsfrage dargelegt.

10

Am Rand der Niederschrift vom RK doppelt angestrichen, dazu von ihm handschriftlich: „Welche Vorschläge?“

Noch einen Punkt möchte er erwähnen: Die Sicherheitsfrage. Es bestünden in Frankreich Befürchtungen hinsichtlich der glatten Durchführung der Locarno-Abkommen, falls irgendein Ereignis einträte, das gegen die Locarno-Abkommen verstoße. Es denke daran, daß irgendeine Einrichtung getroffen[81] werden müßte, mit deren Hilfe man derartige Ereignisse mit aller wünschenswerten Schnelligkeit feststellen könne (un mécanisme pour constater ces faits avec toute rapidité désirable, un mécanisme de constatation rapide et de transmission rapide). Die Notwendigkeit einer derartigen Einrichtung habe sich auch im Hinblick auf die ungarische Waffenangelegenheit fühlbar gemacht11. Auch da müsse es der Deutschen Regierung möglich sein, irgendein Mittel zu finden, um die nun einmal bestehenden französischen Befürchtungen, natürlich unter Schonung der deutschen öffentlichen Meinung, zu beruhigen.

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Am 1.1.28 waren an der österreichischen Grenzstation Szent Gotthard 5 Güterwagen mit 591 Kisten „wegen falscher Deklaration der Sendung und wegen Fehlens des nötigen Waffenbegleitscheins“ beschlagnahmt worden. Die Sendung war angeblich von Italien nach Warschau bestimmt. Die Staaten der kleinen Entente hatten am 6. 3. im Völkerbund die Einleitung eines Investigationsverfahrens gefordert, das am 10. 3. beschlossen worden war. Zum Präsidenten des Investigationskomitees war der englische General Kirwan am 30. 8. ernannt worden.

Herr Briand schloß seine Bemerkungen, indem er ausführte, daß er nunmehr alle Tatsachen mitgeteilt habe, die einem offiziellen deutschen Verhandlungsvorschlag mit sämtlichen vier interessierten Regierungen zur Grundlage dienen könnten. (Un ensemble de faits sur lequel vous pouvez nous proposer une négociation officielle avec les quatre gouvernements interessés)12.

12

Am Rand vom RK der frz. Satz doppelt angestrichen, dazu eine von ihm unterstrichene Bemerkung: „Für jetzt?“

Der Herr Reichskanzler antwortete darauf, daß weder der Herr Reichsaußenminister noch er selbst die Presseangriffe wegen der Erfolglosigkeit von Locarno anerkenne. Im Gegenteil habe Herr Stresemann im Reichstag absolut den praktischen Erfolg von Locarno anerkannt. Es bestehe also darüber keine Meinungsverschiedenheit zwischen der deutschen und französischen Regierung. Die Entwicklung des Thoiry-Gedankens sei ihm wohl bekannt und er wisse, daß man nicht nur von der Mobilisierung der Obligationen, sondern auch von einem eventuellen Rückkauf der Saargruben gesprochen habe, wobei insgesamt ein Betrag von einer Milliarde realisiert worden wäre, wenn die Pläne hätten durchgeführt werden können. Wie Herr Briand ganz richtig ausgeführt habe, sei es damals wegen der Haltung des amerikanischen Marktes und der amerikanischen Regierung nicht möglich gewesen, die Absichten in die Tat umzusetzen. Die amerikanische Haltung sei beeinflußt gewesen von der französisch-amerikanischen Politik, d. h. von der Nichtratifizierung des Mellon-Bérenger-Abkommens13. Auf Wunsch der französischen Regierung habe man deutscherseits die Angelegenheit dilatorisch behandelt, glaube aber nunmehr, daß nach den Wahlen in den beiden Ländern der Zeitpunkt zu einer endgültigen Lösung gekommen sei. Ohne amerikanische Hilfe sei man natürlich nicht in der Lage, die in Thoiry ins Auge gefaßten Beträge aufzubringen. Die deutsche Auffassung gehe dahin, daß die Rheinlandräumung nicht in Abhängigkeit zu dem Reparationsproblem gebracht werden könne. Das bedeute[82] nicht, daß die deutsche Regierung nicht jederzeit bereit sei, auch über eine endgültige Lösung des Reparationsproblems zu verhandeln, da ja der Dawes-Plan von vornherein nur als eine vorläufige, später zu revidierende Lösung angesehen worden sei. Die öffentliche Meinung in Deutschland würde es aber nicht verstehen, wenn das junctim zwischen Rheinlandräumung und Reparation hergestellt würde, weil man wegen der notwendigen Beteiligung Amerikas an der Reparationslösung eine zu lange Hinausschiebung der Rheinlandräumung befürchte. Dies schließe aber große Gefahren in sich. Bei einer Besetzung würden immer Zwischenfälle entstehen, und ohne den bei dem letzten Zwischenfall französischerseits bewiesenen guten Willen unterschätzen zu wollen14, müsse doch immer wieder auf die Möglichkeit erneuter Zwischenfälle hingewiesen werden, die die bedauerliche Folge haben würden, das besetzte Gebiet und besonders die Pfalz in ein nationalistisches Fahrwasser zu treiben.

13

Am 29.4.26 hatten der amerik. StS Mellon und der frz. Botschafter Bérenger ein Schuldenabkommen unterzeichnet, das für Frankreich eine Gesamtzahlung von 6847 Mio Dollar in 62 Jahresraten vorsah. (Das frz.-engl. Abkommen vom 12.6.26 hatte frz. Zahlungen in Höhe von 222 Mio Pfund vorgesehen. Über die Modalitäten s. Schultheß 1926, S. 450 f.) – Ausführungen in ähnlicher Art wie hier gegenüber Briand machte der RK auch bei der Pressekonferenz in Genf am 16. 9. (R 43 I /502 , Bl. 91-105).

14

Gemeint ist der Zweibrückener Zwischenfall.

Zusammenfassend bemerkte der Herr Reichskanzler, daß die deutsche Regierung also durchaus zu Besprechungen über das Reparationsproblem bereit sei, daß diese Besprechungen auch parallel mit den Räumungsverhandlungen vonstatten gehen könnten, daß aber niemals die deutsche öffentliche Meinung die Herstellung einer Verbindung zwischen Reparation und Räumung verstehen würde.

Zum Schluß drückte der Herr Reichskanzler noch den Wunsch aus, daß ihm die Möglichkeit gegeben werde, in einer gemeinsamen Besprechung mit den französischen, englischen, belgischen und italienischen Vertretern hier in Genf die Ansichten der deutschen Regierung vorzutragen. Er, der Herr Reichskanzler, würde es begrüßen, wenn die Aufforderung zu einer solchen Besprechung nicht von Deutschland auszugehen brauchte, sondern wenn Herr Briand seinerseits die Initiative ergreife.

Herr Briand unterstrich dann seinerseits noch einmal den Pfandcharakter der Besetzung. Trotzdem sei es natürlich möglich, daß Deutschland durch seine diplomatischen Vertreter in den interessierten Ländern zunächst einmal Vorschläge unterbreite, wie es sich eine praktische Lösung der Frage denke und daß dann schließlich auf Grund dieser Vorschläge eine Konferenz der vier interessierten Mächte zusammentrete, um eine endgültige Lösung zu finden. Er sei überzeugt, daß sich eine derartige Lösung finden lasse, und er sei auch überzeugt, daß es gelingen werde, auf dem amerikanischen Markt die nötige Unterstützung zu finden. Hier in Genf könne man jedenfalls nach Lage der Dinge zu keiner Lösung gelangen.

Darauf erwiderte der Herr Reichskanzler, daß die beste Garantie, die die Franzosen für die Erfüllung der Reparationen besäßen, in der Kreditnot Deutschlands bestehe. Deutschland müsse infolge mangelhafter Kapitalsbildung einen großen Teil seines Kapitalsbedarfs in Amerika decken, und es sei klar, daß, wenn Deutschland seine Reparationszahlungen ganz oder teilweise einstelle, seine Kreditmöglichkeiten in Amerika dadurch in schwerste Mitleidenschaft gezogen würden15. Die wirtschaftlichen Folgen, die ein derartiger[83] Zustand für Deutschland nach sich zögen, lägen klar auf der Hand. Keine Regierung könne also die Reparationszahlungen ganz oder teilweise einstellen, ohne Deutschland den schwersten wirtschaftlichen Schaden zuzufügen. Deshalb entbehre die Befürchtung Frankreichs der realen Grundlage. Über die Sicherheit habe er ja schon gesagt, daß die Besetzung als Sicherheitsgarantie doch wohl insofern völlig überflüssig sei, als es feststehe, daß innerhalb der fünf bis sieben Besetzungsjahre kein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland ausbrechen werde und daß er, der Herr Reichskanzler, überhaupt der Überzeugung sei, daß der letzte Krieg nun auch wirklich der letzte zwischen den beiden Ländern gewesen sei. Es sei natürlich für Deutschland möglich, auf diplomatischem Wege die Frage anzuschneiden, aber es sei gerade wegen des zu erwartenden Eindrucks auf die deutsche öffentliche Meinung außerordentlich wichtig, daß schon in Genf verhandelt würde. Denn er fürchte, wenn die deutsche Delegation von Genf abreise und weiter nichts mitbrächte, als Vertröstungen auf spätere Verhandlungen, daß man dann weit über die Rechtskreise hinaus das Resultat als völlig negativ bewerten werde, und deshalb läge ihm außerordentlich viel daran, daß, wie es Herr Stresemann angekündigt habe, außerhalb des Völkerbunds das Problem mit den vier interessierten Mächten hier in Genf zur Sprache gebracht würde, damit die öffentliche Meinung Deutschlands wenigstens den Eindruck bekäme, daß man Anstrengungen mache, um eine Lösung zu finden. Wenn man das nicht täte, wäre es für die Annäherungspolitik Herrn Stresemanns außerordentlich abträglich. Deshalb bäte er noch einmal, daß eine gemeinsame Besprechung der vier Mächte stattfinde.

15

In Kenntnis dieser Besprechung warnte Schacht nach einer Rücksprache mit Parker Gilbert vor Verhandlungen mit den engl., belg. und ital. Delegierten und vor der Einbeziehung Deutschlands in das interalliierte Schuldenabkommen. Durch die Benutzung Deutschlands als „Sturmbock“ gegen die amerik. Schuldenforderungen würden amerik. Sympathien verscherzt. Nur mit Frankreich seien Vorbesprechungen über die Reparationsfrage und die Rheinlandräumung zu führen. Der RK solle offiziell die Verbindung der beiden Komplexe ablehnen, aber seine Bereitschaft zur Lösung der Reparationsfrage aussprechen. Dadurch werde die Unterstützung in der öffentlichen Meinung aller Länder gewonnen. Mit Briand sollten keine diplomatischen Unterhandlungen vereinbart werden, da Parker Gilbert von der frz. Regierung einen inoffiziellen Schritt erreichen wolle (Telegramm vom 6.9.28 und Schreiben vom 7. 9.; R 43 I /504 , Bl. 121-123, 118 f.). Im Telegramm wird Parker Gilbert nach der Straße, in der in Berlin das „Office for Reparation Payments“ lag, „Freund aus der Luisenstraße“ genannt.

Herr Briand sagte darauf zu, daß er die Frage mit den Vertretern Englands, Belgiens und Italiens besprechen werde, natürlich nicht sagen könne, wie deren Antwort ausfallen würde, aber glaube, daß sie wohl zu einer Unterredung bereit seien. Er würde morgen in der Vollversammlung bei den verschiedenen Vertretern vorsprechen und dann dem Herrn Reichskanzler das Ergebnis seiner Unterredung mitteilen16.

16

Bei einer weiteren Begegnung am 7. 9. teilte Briand dem RK mit, die „anderen an der Rheinlandbesetzung interessierten Mächte“ hätten den Wunsch, „zunächst in Einzelbesprechungen die deutsche These vom Herrn RK selbst auseinandergesetzt zu bekommen. Erst dann könne man nach einer erneuten Fühlungnahme zwischen Herrn Briand und dem Herrn RK die gemeinsame Besprechung zu fünft ins Auge fassen“ (R 43 I /502 , Bl. 279 f.).

Im übrigen wolle er nur noch eins hinzufügen. Die ganze Angelegenheit sei durch die Anschlußfrage außerordentlich erschwert worden und Herr Loebe[84] hätte sich einen besseren Augenblick für seine Anschlußmanifestation aussuchen sollen als gerade den jetzigen17.

17

Siehe Anm. 23 zu Dok. Nr. 18.

Der Herr Reichskanzler wies nur noch kurz auf die Verschiedenheit der Stellung des deutschen Reichstagspräsidenten und der französischen Kammer- und Senatspräsidenten hin, über die Herr Stresemann in Paris bereits Herrn Poincaré Auskunft gegeben habe18. Für den Anschluß sei die Prozedur im Versailler Vertrag vorgesehen.

18

Siehe Stresemann, Vermächtnis III, S. 359 f.

Briand erwiderte, Herr Poincaré habe ihm das mitgeteilt, es sei aber trotzdem sehr zu bedauern, daß Herr Loebe diese Äußerungen getan habe, da man natürlich der französischen öffentlichen Meinung die Unterschiede in der Stellung des Reichstagspräsidenten und des französischen Kammerpräsidenten nur sehr schwer beibringen könne.

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