2.203 (mu21p): Nr. 203 Reparationspolitische Besprechung. 18. Mai 1929

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RTF

Nr. 203
Reparationspolitische Besprechung. 18. Mai 1929

R 43 I /277 , Bl. 301-306 Durchschrift

Anwesend: Müller, Hilferding; StS v. Schubert; MinDir. Dorn; Protokoll: StS Pünder.

Reichsminister Dr. Hilferding teilte mit, daß er per Flugpost gestern Abend einen Brief des Generaldirektor Vögler aus Paris erhalten habe, worin ihm dieser seinen Rücktritt vom Amt eines Sachverständigen anzeigt1. Minister Hilferding verliest diesen Brief und erläutert sodann näher seinen Inhalt und seine etwaigen Folgen. Der Brief und sein Inhalt kämen überraschend, da man nach den vorangegangenen Besprechungen des Herrn Reichskanzlers und anderer Kabinettsmitglieder mit Herrn Vögler hätte annehmen können, daß letzterer nicht sofort zu dem Schritt seines offiziellen Rücktritts greifen würde. Zu dieser schrofferen Haltung sei Herr Vögler offensichtlich auf Grund einer vor wenigen Tagen im Reichsverband der Deutschen Industrie stattgehabten[661] Besprechung gekommen, an der die Herren von Borsig, Thyssen, von Siemens, Kraemer, Bücher und Pietrkowski (A.E.G.) teilgenommen hatten. Diese Besprechung sei unglücklich zusammengesetzt gewesen, da in ihr offensichtlich die schroffere Tonart vorgeherrscht habe. Insbesondere habe Herr Thyssen den sofortigen Rücktritt Vöglers immer wieder verlangt, während die gegenteilige Haltung eigentlich nur von Herrn Bücher eingenommen worden sei. Die übrigen Herren schienen sich mehr oder weniger unentschieden geäußert zu haben. Die Erörterung habe sich dann auch um die Haltung des Herrn Geheimrat Kastl gedreht. Teilweise sei sogar zum Ausdruck gekommen, daß Kastl seine Stellung beim Reichsverband verlieren würde, wenn er nicht Vögler sofort folge. Über die Stimmung dieser Sitzung sei dann mit Kastl telephonisch und brieflich in Paris Fühlung genommen worden. Kastl scheine einstweilen durch die schroffere Haltung eines Teiles des Reichsverbandes noch nicht übermäßig beeindruckt zu sein. Jedenfalls habe er noch eben in Paris erklärt, über seine Haltung könne nur er selbst entscheiden. Hinsichtlich der Behandlung des Rücktritts des Herrn Vögler in der Öffentlichkeit liege eine Verabredung zwischen den Sachverständigen in Paris vor, worüber das anliegende Telegramm Nr. 379 des Herrn Ruppel aus Paris Näheres enthält2.

1

In den Beständen R 2 und R 43 nicht ermittelt.

2

Dazu heißt es im Telegramm: „Vögler angibt bis auf weiteres keinerlei Gründe über sein Fernbleiben von den Verhandlungen. Dasselbe tun auch die hiesigen Sachverständigen. Änderungen in dieser Haltung eintreten erst, wenn die hiesigen Sachverständigen sich mit ihm hierüber verständigt haben werden. Vögler bleibt einstweilen in Dortmund, teilnimmt voraussichtlich nächsten Freitag an Sitzung des Reichsverbandes in Berlin, um dann nach Karlsbad zu gehen“ (Telegramm vom 17. 5., unterzeichnet von Ruppel und Berger; R 43 I /277 , Bl. 307).

Minister Hilferding berichtete dann weiterhin, daß die übrigen Reparationsminister in voller Übereinstimmung mit ihm und den Sachverständigen der Auffassung seien, daß über den erfolgten Rücktritt des Herrn Vögler einstweilen unter keinen Umständen irgend etwas in die Öffentlichkeit dringen dürfe.

In der vergangenen Nacht sei Ministerialdirektor Dr. Ritter vom Auswärtigen Amt nach Dortmund gefahren, um nochmals eine Einwirkung auf Herrn Vögler zu versuchen. Falls dies nicht möglich sei, müsse unter allen Umständen mit ihm eine Verabredung über eine Hinausschiebung seiner Rücktrittserklärung gefunden werden, denn die Verweigerung der Unterschrift Vöglers würde insbesondere die Franzosen überaus stutzig machen. Die Franzosen würden sich im Endeffekt nur dann zu irgendwelchen Entgegenkommen bereit finden, wenn sie neben dem politischen Scheck durch die Reichsregierung auch einen wirtschaftlichen Scheck erhielten; und diesen wirtschaftlichen Scheck hatten die Franzosen sich gerade in der Unterschrift des Herrn Vögler gedacht. Falle diese Unterschrift jetzt weg, so sei es möglich und vielleicht sogar wahrscheinlich, daß die im Gange befindliche Einigung wieder völlig zu Bruch gehe. Von der weiteren Einstellung des Herrn Vögler hinge daher ganz außerordentlich viel ab. Minister Curtius habe vor wenigen Tagen dem Herrn Reichspräsidenten Vortrag über die Reparationslage gehalten und sei hierbei auf volles Verständnis gestoßen. Es käme daher vielleicht eine Einwirkung des Herrn Reichspräsidenten in irgendeiner Form (Brief oder Rücksprache) auf[662] Herrn Vögler in Frage, vielleicht aber auch eine Einwirkung in einer Besprechung mit dem gesamten Reichskabinett.

Geheimrat Kastl komme über Pfingsten nach Berlin und werde eine Besprechung im Reichsverband der Deutschen Industrie haben, die für die weitere Einstellung Kastls von großer Bedeutung sein werde. Er, Hilferding, sei hinsichtlich dieser bevorstehenden Aussprache mit Herrn Geheimrat Bücher in dauerndem Kontakt.

Staatssekretär von Schubert berichtete, daß in der vergangenen Nacht sofort ein Antworttelegramm an Ministerialdirektor Ruppel abgegangen sei, in dem auf die entscheidende Bedeutung völliger Geheimhaltung des Entschlusses Vöglers hingewiesen worden sei. Gleichzeitig habe er nach telephonisch eingeholter Übereinstimmung mit Herrn Minister Stresemann an Botschafter von Hoesch telegraphiert und ihn um Beurteilung des Rücktritts Vöglers und die mutmaßlichen Folgen dieses Schritts auf die Einstellung Frankreichs gebeten3.

3

Hoesch erwiderte auf diese Frage: „Rücktritt Vöglers scheint mir in erster Linie bedeutsam vom Standpunkt innerdeutscher Wirkung, über die RReg. besseres Urteil besitzt als ich. Nach außen hin, das heißt auf Schicksal Konferenz, würde Ausscheiden Vöglers wohl keine ausschlaggebende Wirkung ausüben. Zwar würde man hier ablehnende Haltung deutscher Großindustrie feststellen und brandmarken. Ersetzung Vöglers durch Kastl, der ja gleichfalls Industrievertreter ist, würde aber sowohl innerhalb Konferenz im allgemeinen wie auch im besonderen bei Franzosen Grund zu Beanstandung beseitigen müssen. Ich glaube also nicht, daß Ausscheiden Vöglers, wenn er durch Kastl ersetzt wird, direkte Gefahren für Schicksal Konferenz herbeiführen würde“ (Telegramm Nr. 381 vom 18. 5.; R 43 I /287 , Bl. 103-107, hier: Bl. 105).

Der Herr Reichskanzler erklärte sich mit den getanen Schritten durchaus einverstanden, glaubt aber nicht an die Möglichkeit irgendeiner Umstellung des Generaldirektors Vögler, nachdem in so betonter Weise eine Einwirkung auf ihn bereits versucht worden sei. Immerhin müsse man also die weiteren Mitteilungen von Ministerialdirektor Ritter aus Dortmund und von Herrn Bücher über die beabsichtigte Vorstandssitzung des Reichsverbands abwarten. Sollte sich die Notwendigkeit einer Sitzung des Reichskabinetts ergeben, so könne man eine solche für die Pfingsttage oder auch unmittelbar nachher ins Auge fassen.

Die Aussprache wandte sich sodann der weiteren Behandlung der belgischen Markfrage zu. Minister Hilferding berichtete über das gleichfalls anliegende Telegramm des Botschafters von Hoesch über seine diesbezüglichen Besprechungen mit dem belgischen Botschafter4. Diese Besprechung im Zusammenhang mit den Briefen des Reichsbankpräsidenten Schacht vom 8. und 10. d. M. ließe eine neue Instruktion an den Reichsbankpräsidenten Schacht erforderlich erscheinen5.

4
 

Baron Gaiffier hatte gegenüber v. Hoesch die unnachgiebige Haltung Deutschlands in der Markfrage bedauert. Die Angelegenheit sei von psychologischer Bedeutung, und die belgischen Sachverständigen würden wohl den Vorschlag des Young-Komitees nicht unterzeichnen, wenn der belgische Anteil gekürzt und die Markfrage nicht geregelt werde. Äußerstenfalls werde ein Minderheitsgutachten unterzeichnet. Die Rückerstattung Eupen-Malmedys sei belgischerseits niemals ernsthaft erwogen worden, sondern es hätten private Meinungsäußerungen des MinPräs. Delacroix vorgelegen. Schacht habe v. Hoesch über einen Briefwechsel mit Francqui unterrichtet, in dem dieser „wahrheitswidrig jegliche Beteiligung seinerseits an Erörterungen Angelegenheit Eupen-Malmedy abgeleugnet hätte“ (R 43 I /277 , Bl. 308-310).

5

In seinem Schreiben vom 8. 5. hatte Schacht dem RK seinen Briefwechsel mit Francqui übermittelt, in dem dieser die Verbindung einer Reparationsangelegenheit, Markfrage, mit einer politischen Frage, Rückgabe Eupen-Malmedys, als Verhandlungsgrundlage ablehnte. Schacht hatte gebeten ihn zu informieren, falls in Berlin durch Belgien die Markfrage angeschnitten werde, da er als RbkPräs. daran interessiert sei, „daß in keinem Fall eine Markaufwertung stattfindet“ (R 43 I /287 , Bl. 80-82). Am 8. 5. hatte Francqui ein weiteres Schreiben an Schacht übersandt, in dem er abstritt, 1926 mit Schacht über eine Regelung der Markfrage in Verbindung mit der Rückgabe Eupen-Malmedys verhandelt zu haben; diese Verhandlungen hätten mit Delacroix stattgefunden, der dazu jedoch von der belgischen Regierung kein Mandat gehabt habe. Darauf hatte Schacht Francqui am 10. 5. mitgeteilt, er begnüge sich mit den in seinen Händen befindlichen Unterlagen, da Francqui sein Gedächtnis „so sehr im Stich“ lasse. Dieser Briefwechsel war am 10. 5. der Rk übersandt worden (R 43 I /55 , gefunden in R 43 I /54 , Bl. 28-31).

[663] Staatssekretär Dr. von Schubert verliest den Entwurf der im Auswärtigen Amt aufgestellten Instruktionen. In den sehr eingehend gehaltenen Ausführungen der Instruktion wird insbesondere gesagt, daß die Reichsregierung im Interesse des Zustandekommens der Pariser Sachverständigenkonferenz und zwecks Beseitigung des sonst offensichtlich nicht überwindlichen Widerstands Belgiens die in der ersten Instruktion an Herrn Schacht verlangte Verbindung der beiden Fragen Marknoten und Eupen-Malmedy fallen lasse.

Der Herr Reichskanzler macht auf die Bedenken aufmerksam, die gegen einen solchen Brief sprechen könnten. Er fürchte durch einen solchen Brief schließlich auch noch Schwierigkeiten mit dem Präsidenten Schacht, dessen Besprechungen mit dem Belgier Francqui doch offensichtlich völlig festgefahren seien und auch zu einer beiderseitigen starken Animosität geführt hätten. Ob unter diesen Umständen Präsident Schacht geneigt sein werde, auf Grund einer gänzlich veränderten Einstellung der Reichsregierung die Verhandlungen erneut aufzunehmen, erscheine ihm äußerst zweifelhaft, zum mindesten müsse die Instruktion überaus sorgsam abgefaßt und mehr auf den Ton eines erbetenen Gutachtens gebracht werden.

Die weitere Erörterung drehte sich sodann um die Art der Formulierung einer solchen Instruktion.

Staatssekretär Dr. von Schubert wies noch insbesondere darauf hin, daß die Markfrage für Belgien mehr und mehr der Dollpunkt werde. Es sei völlig ausgeschlossen, mit Belgien überhaupt politisch noch etwas zu erreichen, wenn nicht zuvor die Markfrage bereinigt sei. Der Unterzeichnete macht noch darauf aufmerksam, daß die Aufhebung der Verbindung der beiden Fragen Marknoten und Eupen-Malmedy von dem hier anwesenden Kreise doch wohl kaum endgültig beschlossen werden könne, da dies doch eine Frage von außerordentlicher politischer Tragweite sei und man sich bisher sowohl im Kabinett als auch mit den hinter ihm stehenden Parteien in der unbedingten Verbindung dieser beiden Fragen völlig einig gewesen sei. Nicht zuletzt auch aus diesem Grunde wurde daher abschließend beschlossen, daß die ganze Instruktion mehr auf den Ton der Erwägung abgestellt werden solle und Herr Schacht nicht schon jetzt neuerliche ausdrückliche Weisungen erhalten, vielmehr unter Hervorhebung aller Gesichtspunkte, die dafür und dagegen sprechen, um seine Auffassung zur Sache gebeten werden solle.

Staatssekretär Dr. von Schubert übernahm es, die im Auswärtigen Amt entworfene Instruktion daraufhin erneut durchzuprüfen und den Entwurf noch[664] in den heutigen Mittagsstunden dem Reichsfinanzminister und dem Herrn Reichskanzler vorzulegen.

Es wurde in Aussicht genommen, daß nach Genehmigung des Entwurfs der Brief an Präsident Schacht mit Kurier heute Abend nach Paris abgehen solle6.

6

Siehe Dok. Nr. 204.

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