2.224 (mu21p): Nr. 224 Der Staatssekretär in der Reichskanzlei an den Reichskanzler. Madrid, 12. Juni 1929

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Nr. 224
Der Staatssekretär in der Reichskanzlei an den Reichskanzler. Madrid, 12. Juni 1929

R 43 I /287 , Bl. 245-248

[Betrifft: Tagung des Völkerbundsrates.]

Hochgeehrter Herr Reichskanzler!

In den hiesigen Verhandlungen betreffend Völkerbunds- und politischen Fragen ist augenblicklich ein gewisser Abschnitt zu verzeichnen, so daß ein zweiter Schriftbericht zweckmäßig erscheint. Beim Völkerbundsrat steht bekanntlich das Minderheitenproblem im Vordergrund der Erörterungen1. Beim Eintreffen des Herrn Ministers in Madrid wurde vielfach, und zwar zum Teil mit einem gewissen Unterton des Vorwurfs, erörtert, ob nicht in den ersten Komiteesitzungen deutscherseits stärker auf eine völlige Vertagung hätte hingearbeitet werden sollen. Tatsächlich waren ja solche Anregungen anfangs ergangen, insbesondere seitens des französischen Kanadiers Dandurand. Es ist aber festzustellen, daß sich diese Anregungen zu keinerlei offiziellem Antrag verdichtet hatten. Nach allen inzwischen bekanntgewordenen Äußerungen Dandurands[732] kann als bestimmt angenommen werden, daß ein offizieller Antrag auf Vertagung seinerseits nicht eingebracht worden wäre. Man hätte also deutscherseits, wenn man auf die Vertagung hinauswollte, einen solchen offiziellen Antrag stellen müssen. Ich möchte aber, nachdem auch ich retrospektiv die Protokolle genau durchgesehen habe, den Herren von Schubert und Gaus darin völlig beitreten, daß die Stellung eines solchen Antrags deutscherseits ganz ausgeschlossen war, da man doch nicht außer acht lassen darf, daß die ganzen Minderheitenfragen durch Deutschland ins Rollen gebracht worden waren. Ich möchte sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen, daß die völlige Vertagung des Problems politisch sogar recht unbequem hätte werden können. Zunächst würde nicht zuletzt auch die deutsche Öffentlichkeit hervorgehoben haben, daß der Völkerbund nun wieder zum soundsovielten Male eine der allerwichtigsten Fragen debattelos vertagt habe, und dies noch sogar auf deutschen Antrag! Ferner aber – und das ist das Wichtigste! – hätten im Falle der Vertagung die Minderheitenfragen zwangsläufig auf der nächsten Tagesordnung für die Septembertagung gestanden. Wer weiß aber heute, ob eine Erörterung dieser Fragen gerade im September für Deutschland nicht recht unbequem werden könnte? In der politischen Offensive muß man doch, wie auch sonst im Leben, eine gewisse Reihenfolge innehalten, und gerade nach dem Ergebnis der gestrigen Aussprache Stresemann–Briand wird man heute schon sagen können, daß um die Septemberwende des Jahres bei aller Wertung des Minderheitenproblems akutere Fragen im Vordergrund der Erörterung stehen werden.

1

Über den voraussichtlichen Gang der Minderheitenverhandlungen hatte StS v. Schubert dem RK Anfang Juni Vortrag gehalten: Vom Dreierkomitee sei eine Denkschrift verfaßt worden, die bis auf kleine formale Verbesserungen die deutschen Vorschläge negativ beurteile. Unterstützung werde der deutsche Standpunkt in Madrid kaum erfahren. Wenn kein Bericht zustande komme, werde von Deutschland Vertagung beantragt werden, um die Angelegenheit vor den Völkerbund zu bringen. Der RK hatte dieser Haltung zugestimmt, aber gemeint, daß durch Chamberlains Ausscheiden vielleicht eine Entspannung in der Frage möglich sei (Vermerk der Rkei vom 1. 6.; R 43 I /561 , S. 189 f.).

Ich glaube sagen zu dürfen, daß auch Herr Minister Stresemann, mit dem wir in den letzten Tagen im engsten Kreise diese Dinge mehrfach und stundenlang durchberaten haben, der gleichen Auffassung ist. Wie der Ablauf jetzt gedacht ist, ist ja wohl aus den täglichen Telegrammen, die wir von hier aus über das Minderheitenproblem nach Berlin absenden, ersichtlich. Es sollen die zweifellos als Verbesserungen anzusprechenden Veränderungen hinsichtlich des Verfahrens jetzt beschlossen werden. Diese Veränderungen gehen auf die bekannten deutschen Vorschläge zurück, und diese Verfahrensvorschläge waren, im Vertrauen gesagt, ursprünglich die einzigen Vorschläge des Auswärtigen Amts. Mit der Annahme dieser Abänderung soll nun aber die Debatte keineswegs als abgeschlossen gelten. Vielmehr bleibt das ganze Problem hinsichtlich der weiteren Anregung in lite. Zu diesem Zwecke werden das Londoner Dreierprotokoll, die eingegangenen Vorschläge der einzelnen Staaten und die Verhandlungsprotokolle als Material überwiesen, also kein Wort davon, daß der Londoner Dreierbericht etwa in seinen Grundzügen angenommen werde. Um dies zu bekräftigen und auch sozusagen notariell vor der Weltöffentlichkeit festzustellen, daß deutscherseits hinsichtlich der materiellen Anregungen die Minderheitenfragen noch keineswegs als gelöst angesehen werden, wird der Herr Minister morgen in der offiziellen Ratssitzung, in der der im Komitee vorbereitete Beschluß angenommen werden soll, eine feierliche und genau formulierte Erklärung abgeben2. Vermutlich werden von der Gegenseite, vielleicht[733] Frankreich, Rumänien und Polen, dann Gegenäußerungen erfolgen, – aber das ist nun einmal nicht zu ändern. Herr Briand regte deshalb gestern an, der Beschluß solle debattelos angenommen werden. Aber auf diesen Leim wird Herr Minister Stresemann nicht kriechen. «Möglich ist natürlich auch, daß morgen ein Beschluß am Widerstand eben von Polen scheitert, weil die Grundsätze des Londoner Berichts nicht als maßgebend angenommen werden. Aber das wäre dann nicht schlimm, da es das Abrücken des Rats von diesem Bericht deutlich machen würde»3.

2

Siehe Stresemann, Vermächtnis III, S. 424 f.

3

Handschriftlich eingefügt.

Selbstverständlich wäre eine vom deutschen Standpunkt aus gesehen noch positivere Erledigung der Minderheitenfrage vorzuziehen gewesen. Aber rebus sic stantibus glaube ich, daß wir mit dem Erreichten durchaus zufrieden sein können. Festzuhalten ist, daß einiges erreicht ist, und bezüglich der anderen Punkte wir und auch die anderen interessierten Staaten die volle Freiheit haben, ob und wann der Erörterung Fortgang gegeben werden soll. Ich habe das Empfinden, daß die deutsche Presse, soweit sie hier in Madrid versammelt ist, für vorstehende Gedankengänge im allgemeinen durchaus Verständnis hat. Jedenfalls geschieht in laufenden und eingehenden Pressekonferenzen das Menschenmögliche. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang noch die Berücksichtigung dessen, was ich im Schlußsatz meines gestrigen langen Telegramms über die Besprechung des Herrn Ministers mit Briand ausführte4. Wenn ich nun hiermit auf diese Besprechung Stresemann–Briand noch mit einem Wort eingehen darf, so ist zunächst festzustellen, daß unser Herr Minister unter dem Eindruck gestanden hat und noch steht, daß sich diesmal Briand ganz ungewöhnlich positiv ausgesprochen hat. Natürlich muß man von den üblichen Briandschen Sentenzen ein gut Teil abschreiben, aber es bleibt doch die überaus wichtige Feststellung, daß eigens vor der Madrider Völkerbundsratstagung auf Antrag Briands der französische Ministerrat einstimmig sich für eine baldige politische Konferenz ausgesprochen hat, in der die berühmte Generalliquidierung des Krieges vorgenommen werden solle. Über das von Briand vorgeschlagene Datum (Mitte August) wird ja wohl noch zu sprechen sein. Ich habe dem Herrn Minister jedenfalls vorgeschlagen, er möchte bei dem zu erwartenden Gegenbesuch von Briand bei ihm auf einen etwas früheren Termin (etwa den 1. August) drängen. Andernfalls würden nämlich die beteiligten Außenminister, da bekanntlich Anfang September, wie[734] üblich, die Völkerbundstagung in Genf beginnt, zu der parlamentarischen Erledigung dieser wichtigen Fragen in ihren eigenen Ländern nicht zur Verfügung stehen. Außerdem würde der im Young-Plan vorgesehene Termin des 1. September doch gar zu sehr überschritten werden. Der Herr Minister ist aber auch der Auffassung, daß man hierüber noch zu einer zweckentsprechenderen Einigung kommen werde.

4

Dieser Schlußsatz lautete: „Daß Reichsminister das Ergebnis seiner Besprechung mit Briand in der unmittelbar darauf heute nachmittag stattgehabten Ratskomiteesitzung über die Minderheitenfragen für seine innere Einstellung und eigene Entschließung nicht unberücksichtigt lassen konnte, ist selbstverständlich.“ In der Pressekonferenz hatte Stresemann aber auch gebeten, ihn nicht nach dem Inhalt der Unterredung zu befragen. In der Unterredung mit Stresemann war von Briand die politische Konferenz im Anschluß an die Pariser Sachverständigenbesprechungen erörtert worden. Dabei hatte der französische Außenminister die „Generalliquidierung des Kriegs“ gefordert und erklärt, daß er sein Amt zur Verfügung stelle, wenn das nicht gelinge. Außerdem hatten die beiden Minister eine Kooperation der europäischen Staaten gegenüber Amerika und eine Unterstützung der deutschen Wirtschaft durch französisches Kapital erörtert (Pünders Telegramme Nr. 15, Fortsetzung zu 15 vom 12. 6.; R 43 I /287 , Bl. 253-257. Pünder hatte diese Telgramme bereits am 11. 6. aufgesetzt. BA: Nachlaß Pünder  78).

Außer den vorstehend erörterten beiden großen Problemen wäre nur noch zu berichten, daß die spanische Regierung und das spanische Volk mit einer ganz ausgesuchten Höflichkeit die Völkerbundsgäste in Madrid aufgenommen haben. Madrid ist eine durchgehends sehr moderne Stadt, die in vielen Teilen sicher mehr New York gleicht als Berlin. Die Witterung war in den ersten Tagen überaus drückend. Vorgestern und gestern hat es aber tüchtig geregnet, so daß es augenblicklich erträglich ist. Wir hoffen, daß die Beratungen in dieser Woche zu Ende gehen, so daß der Herr Minister mit seiner Begleitung hoffentlich spätestens Mitte nächster Woche wieder in Berlin zurückerwartet werden darf. Inzwischen hat sich in Berlin ja neben dem Besuch des ägyptischen Königs5 noch allerlei Bemerkenswertes zugetragen. Mit besonderer Genugtuung habe ich von der positiven Erledigung der Panzerkreuzerfrage im Haushaltsausschuß Notiz genommen6. Hoffentlich sind Sie, sehr verehrter Herr Reichskanzler, wohlauf. Ich habe den angenehmen Auftrag, Ihnen vom Herrn Reichsminister Stresemann verbindlichste Grüße zu übermitteln. Persönlich verbleibe ich mit den ehrerbietigsten Empfehlungen, hochgeehrter Herr Reichskanzler,

5

König Fuad II.

6

Diese Beratungen hatten in der 84. und 86. Sitzung des Haushaltsausschusses am 5. und 6. Juni stattgefunden.

Ihr Ihnen stets ganz ergebener

Pünder

[…]

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