2.26 (mu21p): Nr. 26 Telegramm der Reichsregierung an die deutsche Delegation in Genf. 15. September 1928

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Nr. 26
Telegramm der Reichsregierung an die deutsche Delegation in Genf. 15. September 19281

1

Das Telegramm wurde vom Auswärtigen Amt um 17.30 Uhr abgesandt.

R 43 I /502 , Bl. 148-151 Durchschrift

[Betrifft: Verhandlungen in Genf.]

Das Reichskabinett nahm in seiner heutigen Sitzung, an der die Reichsminister Groener, Curtius, Severing, Wissell, Hilferding, Dietrich, von Guérard, Schätzel sowie die Staatssekretäre Meissner, Weismann und MinDir. Köpke teilnahmen2, eingehend zu dem in dem dortigen Telegramm Nr. 56 vom 14. September enthaltenen Fragenkomplex3 Stellung und erklärte sich[109] mit dem eingeschlagenen Verfahren sowie den bisherigen Ergebnissen durchaus einverstanden.

2

Vgl. die vollständige Teilnehmerliste in Dok. Nr. 25.

3

In diesem Telegramm hatte der RK die Erörterung der Räumungsfrage als Fortschritt bezeichnet und Vorschläge für die weitere Behandlung unterbreitet (s. unten Anm. 5 und 8). Es habe sich ferner als „der übereinstimmende Wille der gegnerischen Mächte herausgestellt, alsbald mit uns in Besprechungen über die Reparationsfrage einzutreten“. (Telegramm Nr. 56 v. 14. 9.; R 43 I /502 , Bl. 164-171).

Das Reichskabinett erkannte dankbar an, daß es der Delegation gelungen ist, Verhandlungen über die Endlösung der Reparationsfrage in Gang zu bringen und diese Verhandlungen von solchen über die Räumung der besetzten Gebiete zu trennen4. Die Anbahnung von Verhandlungen über die Endlösung der Reparationsfrage durch Einsetzung eines Sachverständigenausschusses ist von so entscheidender Bedeutung für die deutsche Zukunft, daß das bereits jetzt anscheinend gesicherte Ergebnis der Einsetzung einer Sachverständigenkommission nicht mehr gefährdet werden darf. Dieser Gesichtspunkt muß bei den weiteren Verhandlungen über die Räumungsfrage im Vordergrund stehen, ohne daß dabei die Trennung zwischen beiden Problemen rückgängig gemacht wird. Als selbstverständlich betrachtet es das Reichskabinett, daß weder für Organisation und das Verfahren des Sachverständigenausschusses, noch für die ihm zu erteilenden Richtlinien in Genf Festlegungen erfolgen. Alle diese Fragen werden zweckmäßigerweise diplomatisch geklärt werden müssen, bevor das Sachverständigenkomitee endgültig konstituiert wird. Besonders muß dabei im Auge behalten werden, daß die Möglichkeit der Wiedereinberufung des Dawes-Komitees oder eines anderen zusammengesetzten Ausschusses gewahrt bleibt. Ferner darf bei Genfer Vereinbarungen über die Einleitung von Verhandlungen betr. Endlösung der Reparationsfrage kein Raum für die Auffassung bleiben, daß Deutschland mit seinen europäischen Gläubigern über die Regelung der interalliierten Schulden verhandelt. Schließlich scheint es dem Kabinett zweckmäßig zu sein, wenn Zuziehung englischer, belgischer und italienischer Sachverständiger nicht vermieden werden kann, auch einen japanischen Sachverständigen zuzuziehen. Vorstehende Gesichtspunkte werden nur deshalb hervorgehoben, weil sie in heutiger Kabinettssitzung erhebliche Rolle gespielt haben. Das Reichskabinett ist darüber unterrichtet, daß die Delegation ihrerseits auf sie schon Rücksicht genommen hat.

4

Zu diesem Fragenkreis hatte MinDir. v. Hagenow auf Bitte des StS Meissner an die deutsche Delegation telegrafiert: „Der Herr RPräs. ist mit der bisherigen Haltung des Herrn RK sehr einverstanden und hofft, daß die Delegation den bisherigen Standpunkt weiter durchhält.“ (Telegramm Nr. 71 vom 14. 9.; R 43 I /502 , Bl. 142).

Die Bedeutung der Verhandlungen über die Endlösung der Reparationsfrage erfordert vorsichtiges Verhandeln über Räumungs- und Sicherheitsproblem. Nach übereinstimmender Auffassung aller Kabinettsmitglieder dürfen diese Verhandlungen nicht mit einem Abbruch enden. Das Kabinett ist zwar mit den Vorschlägen Nr. 1–3 für die von der Delegation einzunehmende Haltung5 einverstanden mit der Hinzufügung zu Ziffer 3, daß die Kompetenz[110] der Kommission nicht auf entmilitarisierte Zone im ganzen, sondern nur das gegenwärtig noch besetzte Gebiet ausgedehnt werden darf, es hat aber hinsichtlich des ganzen von Briand vorgeschlagenen Verfahrens für die Einsetzung eines Sicherheitsausschusses die schwersten Bedenken. Von der Basis des Locarno-Vertrags aus erheben sich Gefahren in Richtung auf Zuziehung aller Locarno-Mächte, auf Einsetzung des gleichen Ausschusses für den Osten, auf Reibung mit dem Völkerbundsrat, der nach Absatz 1 Artikel 4 des Locarno-Vertrags allein zur Schlichtung berufen sein soll, auf Notwendigkeit unbequemer gesetzgeberischer Aktion vor allem aber nach der Richtung, daß bei Einlassung auf den von Briand gezeigten Weg die zeitliche Begrenzung auf den 10. Januar 1935 vielleicht nicht durchgehalten werden kann. Welche Bedenken im einzelnen gegen den Sicherheitsausschuß vom juristisch technischen Standpunkt aus sowie vom Standpunkt der Interessen des besetzten Gebietes bestehen, ergeben zwei besondere auf Grund der Kabinettssitzung anzufertigende Telegramme des Auswärtigen Amts6. Die Frage der Begrenzung jedes neuen Ausschusses, wie immer er gestaltet sein möge, auf die Zeit bis zum 10. Januar 1935 hat im Kabinett entscheidende Rolle gespielt.[111] Die überwiegende Mehrheit der Kabinettsmitglieder sowie der Vertreter des Herrn Reichspräsidenten stehen auf dem Standpunkt, daß diese Grenze nicht überschritten werden darf. Herr Minister Dr. Hilferding glaubt sich mit Rücksicht auf die Lösung der Reparationsfrage unter Umständen mit einer Überschreitung dieser Grenze abfinden zu können, wenn es möglich ist, die Organisation und die Befugnisse des Ausschusses so zu gestalten, daß er als Unterausschuß des Völkerbundsrats fungiert, ausdrücklich auf die besetzten Gebiete beschränkt und jede Möglichkeit ausgeschlossen wird, ihn als éléments stables zu kennzeichnen. Dieser Auffassung hat sich auch Herr Minister Wissell angeschlossen. Herr Minister Severing hielt vor der endgültigen Stellungnahme auch zu dieser Frage eine gemeinsame Aussprache mit dem Herrn Reichskanzler und dem Reichsaußenminister, je nachdem in Frankfurt oder Baden-Baden, für erwünscht. Alle übrigen Kabinettsmitglieder, die in die Diskussion eingriffen, nämlich Groener, Curtius7, von Guérard, Dietrich, Schätzel, Staatssekretäre Meissner und Weismann hielten demgegenüber die unzweideutige Mitteilung an die Delegation für erforderlich, daß an örtlicher und zeitlicher Begrenzung jedes Sicherheitsausschusses festgehalten werden müsse. Das Reichskabinett bittet wegen der gegen die Locarno-Basis überhaupt bestehenden Bedenken darum, unsererseits mit den unter 4 formulierten Vorschlägen nicht hervorzutreten8. Andererseits hält auch das Reichskabinett eine Wiederholung und Weiterverfolgung des Angebots von Dr. Stresemann über die Einsetzung eines Ausschusses bei vorzeitiger völliger Räumung des ganzen besetzten Gebietes einschließlich der Saar für geboten, um gegenüber der Briandschen These sich nicht rein negativ zu verhalten. Dieser Weg des Stresemann-Angebots bewegt sich notwendig in der Grenze des Versailler Vertrags und schließt damit von vornherein die Gefahr einer Überschreitung der Grenze des 10. Januar 1935 oder die Einbeziehung der ganzen entmilitarisierten Zone aus. Das Reichskabinett bittet die Delegation,[112] alles daran zu setzen, von der Locarno-Basis herunterzukommen und die weiteren Räumungs- und Ausschußverhandlungen auf obiger Basis zu führen.

5

Im Telegramm Nr. 56 vom 14. 9. hatte der RK die deutsche Haltung für die Besprechung der Mächte am 16. 9. dargelegt: „1) Es kann meiner Ansicht nach nicht in Frage kommen, für eine baldige Räumung der zweiten Zone eine Gegenleistung irgendwelcher Art zu machen. Wir werden deshalb anzustreben haben, daß Briand die schnelle Räumung der zweiten Zone ohne Gegenleistung zusichert und daß daneben der baldige Zusammentritt eines internationalen Gremiums zwecks Einleitung von Besprechungen über die Reparationsfrage verabredet wird. 2) Unsererseits muß dabei einmal zum Ausdruck gebracht werden, daß die Räumung der zweiten Zone unter keinen Umständen eine Mehrbelastung der dritten Zone zur Folge hat. Ferner müssen wir unseren Standpunkt aufrechterhalten, daß die Räumungsfrage nicht von der Reparationsfrage abhängt. 3) Falls Franzosen, wie bestimmt zu erwarten, auf einen Abschluß der hiesigen Besprechungen in vorstehendem Sinne nicht eingehen, sondern an dem Gedanken der sogenannten Feststellungs- und Konziliationskommission festhalten, werden wir in Übereinstimmung mit der von Reichsminister Stresemann seinerzeit im Reichstag abgegebenen Erklärung den Standpunkt einnehmen, daß eine solche Kommission erstens nur bis 1935 in Betracht kommen könnte, daß sie zweitens aber auch nicht schon für den Zeitpunkt der Räumung der zweiten Zone, sondern erst für den Zeitpunkt der Räumung der dritten Zone zugestanden werden könne. Es würde mithin die jetzige Vereinbarung nur dahin zu gehen haben, daß die Besatzungsmächte die schnelle Räumung der zweiten Zone zusichern, und daß wir uns jetzt über ein nach Räumung der dritten Zone in Wirksamkeit und mit dem Jahre 1935 wieder außer Wirksamkeit tretendes Kommissionsverfahren einigen. Dazu käme die Verabredung des baldigen Zusammentritts eines Reparationsgremiums“ (R 43 I /502 , Bl. 164-171, hier: Bl. 165f).

6

Nach der Darstellung des AA hatte der RVM vom Standpunkt des besetzten Gebietes aus zu diesem Thema erklärt: „In der Verbindung mit Locarno läge auch die Gefahr, daß künftig die Polen und Tschechen in allen Fragen ein entscheidendes Wort mitsprächen.“ Die Kommission sei „nur annehmbar […] in der Beschränkung auf das gegenwärtige besetzte Gebiet und bis zum Jahr 1935 als Gegenleistung für die totale Räumung, d. h. der Räumung der zweiten und dritten Zone einschließlich der Räumung des Saargebiets“ (Telegramm Nr. 75 vom 15. 9.; R 43 I /502 , Bl. 146 f.). In einem weiteren Telegramm wurde vom AA erklärt: 1. Die Ausdehnung der Untersuchungen über Artikel 1 des Locarno-Paktes hinaus sei gegen Deutschland gerichtet. Die Kommission werde auch über die entmilitarisierte Zone hinaus wirksam sein. 2. Die Zusammensetzung dieser Kommission sei ungünstiger als eine neutrale Investigationskommission, da der deutsche Vertreter überstimmt werden könne. 3. Da die beantragende Partei den Ort des Zusammentretens der Kommission bestimme, könne es zu Unzuträglichkeiten kommen. 4. Auch bei einem Zusammentritt der Kommission nach dem Haager Abkommen von 1907 (s. RGBl. 1910, S. 25  ff.) sei die Zustimmung des RT erforderlich. Durch diese Einschränkung werde bei der ersten Anwendung Konflikt zu erwarten sein. 5. Die Gegenseite habe früher im Locarno-Pakt keine Lücke festgestellt, und Deutschland erkenne eine solche Lücke nicht. Werde die Kommission auf den Bestimmungen des Locarno-Paktes aufgebaut, bestehe die Gefahr, daß sie ohne Begrenzung bestehen bleibe. Außerdem sei die Gefahr gegeben, daß Polen und die Tschechoslowakei im abschließenden Verhandlungsstadium mitherangezogen würden (Telegramm Nr. 76 vom 15. 9.; R 43 I /502 , Bl. 144 f.). – Der polnische Außenminister Zaleski behauptete, daß ihm Briand die Teilnahme Polens an der Kontrollkommission zugesichert habe. Diese Äußerung wurde vom RK in der Berliner Pressekonferenz am 18. 9. als unvereinbar mit den Ergebnissen der Verhandlungen zurückgewiesen (R 43 I /502 , Bl. 69-84, hier: Bl. 81f).

7

Curtius hatte im übrigen wie v. Guérard gefürchtet, daß Polen und die Tschechoslowakei an der Investigationskommission beteiligt würden (Telegramm Nr. 75 des AA; R 43 I /502 , Bl. 146 f.).

8

In der Annahme, Frankreich werde einer zeitlichen Begrenzung der Kommission bis 1935 nicht zustimmen, hatte der RK im Telegramm Nr. 56 eine Formulierung der „französischen Gedanken in der für uns denkbar günstigsten Form zu realisieren“ versucht: „Um die Anwendung der Bestimmungen des Rheinpaktes von Locarno zu erleichtern, kommen die deutsche, französische und belgische Regierung überein, nach vollständiger Räumung der besetzten deutschen Gebiete ein besonderes Feststellungs- und Vergleichsverfahren folgender Art einzuführen: Wenn ein Fall vorliegt, der gemäß Artikel 4 Ziffer 1 des Rheinpakts vor den Völkerbundsrat zu bringen ist oder wenn nach Ansicht einer der drei Regierungen Umstände vorliegen, die das Eintreten eines solchen Falles befürchten lassen, ist jede der drei Regierungen befugt, sich vor Anrufung des Völkerbundsrats an eine besondere Kommission zu wenden, die die Aufgabe hat, sofort den Sachverhalt festzustellen und gegebenenfalls Vorschläge für eine gütliche Regelung zu machen. – Die Kommission wird für jeden Einzelfall aus je einem zivilen Vertreter der fünf Signatarmächte gebildet. Diese Vertreter werden unverzüglich ernannt sobald die deutsche, französische oder belgische Regierung die übrigen Signatarmächte des Rheinpakts darum ersucht. – Die Kommission tritt unverzüglich an dem Ort zusammen, den die Regierung, die die Kommission anruft, in ihrem Ersuchen an die übrigen Signatarmächte bezeichnet. Die Kommission regelt ihre Verfahren selbst. Sie faßt ihre Beschlüsse mit Stimmenmehrheit. – Die deutsche, französische und belgische Regierung werden der Kommission die Erfüllung ihrer Aufgabe nach Maßgabe ihrer Gesetzgebung in jeder Weise erleichtern“ (R 43 I /502 , Bl. 164-171, hier: Bl. 170f).

Zum Schluß hebt das Kabinett noch einmal besonders hervor, daß für die Räumung der zweiten Zone allein keine Gegenleistung in Frage kommt.

gez. Köpke9

9

Die Abschrift der Ausfertigung in R 43 I /1432 , Bl. 217-221 (Anlage zur Ministerbesprechung vom 15.9.28) trägt die Unterschrift: „gez. Groener“.

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