2.93 (mu21p): Nr. 93 Der Reichskanzler an das Büro des Reichspräsidenten, 19. Dezember 1928

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[322] Nr. 93
Der Reichskanzler an das Büro des Reichspräsidenten, 19. Dezember 1928

R 43 I /1059 , Bl. 249 f., 252-254 Reinkonzept

[Betrifft: Spruch des Staatsgerichtshofs im Streit über den Reichsbahn-Verwaltungsrat.]

Auf das gefällige Schreiben vom 18. Dezember 19281 betreffend die verfassungsrechtliche Streitsache zwischen dem Reiche einerseits und den Ländern Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden andererseits, beehrt sich die Reichsregierung folgendes zu erwidern:

1

Vgl. Anm. 1 zu Dok. Nr. 88.

1. Sachlage

Dem vor dem Staatsgerichtshof anhängigen Verfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Nach dem auf der Dawes-Regelung beruhenden § 11 des Reichsbahngesetzes2 besteht der Verwaltungsrat der Reichsbahn aus 18 Mitgliedern. Die Mitglieder des Verwaltungsrats werden zur Hälfte von der Reichsregierung, zur Hälfte von dem ausländischen Treuhänder als dem Vertreter der Gläubiger der Reparationsschuldverschreibungen ernannt. Von den von der Reichsregierung zu besetzenden neun Sitzen sind vier den Inhabern der Vorzugsaktien vorbehalten. Die Reichsregierung hat, sobald ihr die Bestellung eines Vertreters der Vorzugsaktionäre mitgeteilt ist, ein von ihr ernanntes Mitglied zurückzuziehen. Der Reichsregierung bleiben demnach als dauernder und sicherer Besitz fünf von den 18 Stellen des Verwaltungsrats.

2

RGBl. 1924 II, S. 283  (Satzung der Deutschen RB-Gesellschaft).

Nachdem die Eisenbahn in das Eigentum des Reichs durch Staatsverträge mit den Ländern übergegangen war, aber vor der Dawes-Gesetzgebung gab der damalige Reichsverkehrsminister den Ländern Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden folgende Erklärung ab:

„In dem zukünftigen Verwaltungsrat der Deutschen Reichsbahn, auch dem vorläufig zu bildenden, erhält die Regierung eine Vertretung aus eigenem Recht. Es soll angestrebt werden, daß unter den Mitgliedern des Verwaltungsrates, die etwa aus der freien Wirtschaft genommen werden, die Regierung Preußen (die Länder Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden) vertreten ist.“

Nach Erlaß der Dawes-Gesetzgebung, die die ganze rechtliche Stellung der Eisenbahn von Grund aus veränderte, nahm Preußen auf Grund dieser Erklärung das Recht auf Benennung eines Verwaltungsratsmitgliedes in Anspruch. Die damalige Reichsregierung bestritt dieses Recht wegen der veränderten Rechts- und Sachlage. Darauf hat Preußen im Juli 1926 die Entscheidung des Staatsgerichtshofs angerufen. Der Staatsgerichtshof hat durch Urteil vom 7. Mai 1927 zugunsten Preußens entschieden. Da nach diesem Urteil auch die Geltendmachung von Ansprüchen der Länder Bayern, Sachsen, Württemberg und[323] Baden auf einen Sitz im Verwaltungsrat anzunehmen war, hat die damalige Reichsregierung versucht, über die Besetzung des Verwaltungsrates mit den Ländern eine Verständigung herbeizuführen. Es war zu befürchten, daß bei Anerkennung der Ansprüche der Länder der Einfluß des Reichs auf die Reichsbahn ausgeschaltet würde. Außer der Tatsache, daß bei Anerkennung der Ansprüche der Länder die gesetzliche Zuständigkeit des Reichs völlig ausgeschaltet werden könnte, würden dann auch alle anderen Teile des Reichs von jedem Einfluß auf die Verwaltung der Reichsbahn ausgeschaltet und eine den Größenverhältnissen der Länder nicht entsprechende Besetzung des Eisenbahn-Verwaltungsrates herbeigeführt werden. Eine im Verfolg dessen im Juni 1928 unter dem Vorsitz des damaligen Reichskanzlers Dr. Marx abgehaltene Besprechung verlief bedauerlicherweise ergebnislos. Außer der Tatsache, daß bei Anerkennung der Ansprüche der Länder die gesetzliche Zuständigkeit des Reiches völlig ausgeschaltet werden könnte, würden dann auch alle anderen Teile des Reiches von jedem Einfluß auf die Verwaltung der Reichsbahn ausgeschaltet und eine den Größenverhältnissen der Länder nicht entsprechende Besetzung des Eisenbahnverwaltungsrates herbeigeführt werden. Nach dem Scheitern dieser Verständigungsverhandlungen hat Baden am 30. Juni 1928 Klage beim Staatsgerichtshof mit dem Antrage auf Zubilligung eines Sitzes im Eisenbahnverwaltungsrat erhoben. Die Reichsregierung mußte nach der geschilderten Sachlage besonderen Wert darauf legen, daß die Frage durch eine einheitliche und grundsätzliche Entscheidung gegenüber allen in Betracht kommenden Ländern geklärt würde. Sie hat deshalb ihrerseits gegen die Länder Bayern, Württemberg und Sachsen Feststellungsklage erhoben, eine Klage, die mit der Klage Badens prozessual verbunden wurde. Am 18. September 1928 wurden in Gemäßheit der gesetzlichen Bestimmungen drei deutsche, von der Reichsregierung ernannte Mitglieder des Eisenbahn-Verwaltungsrates mit Wirkung für den 31. Dezember 1928 ausgelost. Ein weiteres von der Deutschen Reichsregierung ernanntes Mitglied verzichtete auf seinen bisherigen Sitz zu demselben Zeitpunkt3, so daß der Ersatz von vier Mitgliedern durch die Reichsregierung notwendig wurde. Außerdem wurden drei von dem Treuhänder ernannte Mitglieder ausgelost, unter denen sich auch ein deutsches Mitglied befand. Nach dem Reichsbahngesetz hat der Treuhänder als Vertreter der Gläubiger der Reparationsschuldverschreibungen von den 18 Mitgliedern des Eisenbahnverwaltungsrates neun zu benennen, von diesen können fünf Deutsche sein. Bisher hat der Treuhänder zugunsten Deutschlands fünf deutsche Mitglieder ernannt. Es war dem Reichskabinett bekannt, daß nach der diesmaligen Auslosung mit Sicherheit zu erwarten war, daß der Treuhänder an Stelle des ausgeschiedenen deutschen Mitgliedes ein ausländisches Mitglied benennen würde, wenn nicht zwischen ihm und der Reichsregierung über die von der Reichsregierung zu benennenden deutschen Mitglieder eine Verständigung erfolgte. Falls dieser Schritt des Treuhänders zugunsten eines Ausländers erfolgt wäre, bestand die drohende Gefahr, daß auch bei späteren Auslosungen von durch den Treuhänder ernannten deutschen Mitgliedern nur Ausländer an ihre[324] Stelle gesetzt würden, wodurch die deutsche Majorität im Eisenbahnverwaltungsrat beseitigt worden wäre. Dieser schweren Gefahr mußte im Reichsinteresse unter allen Umständen vorgebeugt werden.

3

Gemeint ist der Rücktritt Luthers.

Zu diesen Schwierigkeiten gesellte sich die weitere, die darin bestand, daß nach Ansicht der derzeitigen Reichsregierung gemäß dem genannten Urteil des Staatsgerichtshofes vom 7. Mai 1927 mit Preußen über das von ihm zu benennende deutsche Mitglied eine Einigung herbeigeführt werden mußte. Nach langwierigen Verhandlungen sowohl mit dem Treuhänder wie mit Preußen erfolgte unmittelbar vor der auf den 15. Dezember festgesetzten Sitzung der Reparationskommission, in der die Ernennung der ausländischen Mitglieder mitgeteilt werden sollte, und zwar erst am 14. Dezember, eine endgültige Einigung. Die Reichsregierung mußte, nachdem diese Einigung mit dem Treuhänder und mit Preußen erzielt war, die Ernennung wegen der genannten auf den 15. Dezember angesetzten Sitzung der Reparationskommission sofort vollziehen. Dies waren die Gründe, die die Reichsregierung veranlassen mußten, die Ernennung am 14. Dezember zu vollziehen. Die Tatsache, daß auf den 15. Dezember eine Sitzung des Staatsgerichtshofes über den Erlaß einer inzwischen von Sachsen, Württemberg und Baden beantragten einstweiligen Verfügung anberaumt war, hat dabei keine Rolle gespielt. Es war Baden zudem vom Reichskanzler vorher mitgeteilt, daß die Reichsregierung hinsichtlich des Zeitpunktes der Wiederbesetzung sich völlig freie Entschließung vorbehalten müßte. Trotzdem hatte Baden am 1. Dezember 1928 die genannte einstweilige Verfügung beim Staatsgerichtshof dahin beantragt, der Reichsregierung die Besetzung der Verwaltungsratsstellen bis zur endgültigen Entscheidung des schwebenden Rechtsstreites zu verbieten. Diesem Antrag hatte sich Württemberg am 8. Dezember und Sachsen am 11. Dezember angeschlossen. Die genannte nach Lage der Sache nicht aufschiebbare Entscheidung des Reichskabinetts über die Wiederbesetzung der Stellen ist dem Vorsitzenden des Staatsgerichtshofes loyalerweise sofort drahtlich und telefonisch mitgeteilt worden. Auf die telefonische Mitteilung hat der Vorsitzende des Staatsgerichtshofes Gründe für die Stellungnahme der Reichsregierung nicht erbeten, sondern lediglich mitgeteilt, daß der Antrag auf einstweilige Verfügung gegenstandslos geworden sei, daß er aber nunmehr versuchen werde, in die Verhandlung über die Hauptsache einzutreten. In Erwartung der Möglichkeit dieses Eintretens in die Hauptverhandlung wurde ein Vertreter der Reichsregierung nach Leipzig entsandt. dem die Gründe der Reichsregierung für die beschleunigte Wiederbesetzung nicht mehr mitgeteilt werden konnten; diese Gründe wären auch, wie aus dem Vorhergesagten hervorgeht, zu einer Mitteilung in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung nicht alle geeignet gewesen.

2. Stellungnahme der Reichsregierung

Die derzeitige Reichsregierung hat trotz der bei ihr nicht geschwundenen Bedenken der Entscheidung des Staatsgerichtshofes in Sachen des Anspruchs Preußens ohne weiteres Folge geleistet. Sie würde auch einer Entscheidung des Staatsgerichtshofes in Sachen der Länder Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden Folge geleistet haben, selbst auf die Gefahr hin, daß sich daraus die[325] schwerwiegendsten politischen und verwaltungstechnischen Hemmnisse ergeben hätten. Sie würde lediglich in den Kreis ihrer Erwägungen gezogen haben, diesen Schwierigkeiten auf andere Weise zu begegnen. Irgendeine Entscheidung des Staatsgerichtshofes lag aber zu der Zeit, als die Reichsregierung die notwendige Entschließung über die Besetzung der vier Verwaltungsratsstellen treffen mußte, noch nicht vor, weder über die Hauptsache noch über die einstweilige Verfügung. Es ist ein in allen prozessualen Verfahren anerkannter Grundsatz, daß eine Partei ihre Handlungsfreiheit behält, solange eine Entscheidung nicht ergangen ist. Dieser Grundsatz gilt auch für den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung. Nach den Grundsätzen des Prozeßrechtes war somit die Reichsregierung zu ihrem Vorgehen völlig berechtigt. Aus der geschilderten Sachlage geht weiter hervor, daß die Reichsregierung pflichtwidrig gehandelt hätte, wenn sie ihre Entscheidung auch nur einen Tag verzögert hätte, denn sie mußte bei einer Hinausschiebung der Entscheidung schwere politische Schädigungen des Reiches voraussehen. Die Behauptung der Beschwerde, daß die Reichsregierung die verfassungsmäßige Tätigkeit des Staatsgerichtshofes in der Streitsache unmöglich gemacht habe, ist daher völlig unbegründet. Auch konnte nach der geschilderten Sachlage der Vertreter des Reichs zu der Frage der Ernennung der Verwaltungsratsmitglieder keine Erklärung abgeben. Der Vorwurf der Beschwerde, daß eine frühere Reichsregierung die Durchführung der zugunsten Preußens gefällten Entscheidung vom 7. Mai 1927 vereitelt habe, kann die derzeitige Reichsregierung nicht treffen, denn sie hat den Anspruch Preußens anerkannt und bei der ersten Gelegenheit ihm Rechnung getragen. Die Folgerungen, die die Beschwerde aus diesem Vorgang zieht, entbehren daher auch der Unterlage. Die weiteren Behauptungen der Beschwerde, daß die Reichsregierung den Staatsgerichtshof in eine unwürdige, mit seiner Stellung zu Reich und Ländern unvereinbare Lage versetzt habe, ist ebenfalls unverständlich, denn die Reichsregierung hat sich an die Vorschriften des Prozeßrechts gehalten und eine innerhalb ihrer Befugnisse und ihrer Stellung als Prozeßpartei liegende, pflichtgemäße Entscheidung getroffen. Nicht der Staatsgerichtshof, sondern höchstens die Länder als Prozeßgegner konnten allenfalls eine derartige Beschwerde erheben. Das mußte auch für den Präsidenten des Staatsgerichtshofs erkennbar sein. Noch unerfindlicher ist die Behauptung, daß die Reichsregierung die Achtung vor dem Staatsgerichtshof hintangesetzt habe, wenn sie in prozessual zulässiger Weise von ihren Rechten Gebrauch machte. Der Reichsregierung liegt jedes Mißtrauen in die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes fern. Ein solches Mißtrauen kann auch aus ihrem Vorgehen in keiner Weise gefolgert werden. Der Reichsregierung hat es fern gelegen, den Staatsgerichtshof im letzten Augenblick vor eine vollendete Tatsache zu stellen, sie hat lediglich eine pflichtgemäße Entscheidung ohne Rücksicht auf den vor dem Staatsgerichtshof angesetzten Termin treffen müssen. Die Reichsregierung hat das Bewußtsein, in dieser Sache pflichttreu und unparteiisch im Reichsinteresse gehandelt zu haben. Sie hat keinerlei Mangel an Achtung und Vertrauen in den Staatsgerichtshof gezeigt. Auch dieser Vorwurf der Beschwerde ist unbegründet.

Die Reichsregierung bedauert aufs tiefste, daß der Staatsgerichtshof in[326] seinem öffentlich verkündeten Beschluß gegen die Reichsregierung den Vorwurf eines verfassungswidrigen Verhaltens erhoben hat, ein Vorgehen, das bisher noch bei keinem deutschen Gericht beobachtet worden ist.

Eine verfassungsmäßige Zuständigkeit, über diesen Vorwurf eine Entscheidung zu treffen, kommt nicht dem Herrn Reichspräsidenten, sondern nach Artikel 59 der Reichsverfassung dem Reichstage zu, der, wenn der Vorwurf begründet wäre, die Reichsregierung wegen schuldhafter Verletzung der Reichsverfassung in Anklagezustand versetzen könnte. Über diese Anklage würde, wenn auch in anderer Besetzung, eben der Staatsgerichtshof zu entscheiden haben, der die gegenwärtige Beschwerde erhoben hat.

Die Reichsregierung bittet hiernach, der Herr Reichspräsident wolle wie folgt entscheiden und seine Entscheidung der Reichsregierung behufs Weitergabe an den Vorsitzenden des Staatsgerichtshofes mitteilen:

1.

Der Herr Reichspräsident ist der Auffassung, daß die Reichsregierung verfassungs- und pflichtgemäß gehandelt hat, daß insbesondere weder ein Eingriff in die verfassungsmäßige Tätigkeit des Staatsgerichtshofes noch irgendeine Minderung der Autorität seiner Gerichtsbarkeit vorliegt.

2.

Der Herr Reichspräsident erachtet sich zu einer förmlichen Entscheidung über die Beschwerde aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht für zuständig4.

4

Dazu Anm. 1 zu Dok. Nr. 94.

Namens der Reichsregierung

M[üller]

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