1.28 (str2p): Nr. 142 Reichskanzler Stresemann an Dr. Freund, [16.] Oktober 1923

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Nr. 142
Reichskanzler Stresemann an Dr. Freund, [16.] Oktober 1923

R 43 I /453 , Bl. 53–62 Entwurf1

1

Nach Stresemanns Aussage war das Schreiben inhaltlich bereits im September 1923 konzipiert worden (Dok. Nr. 271). Dieser Entw. kam am 18.10.23 in das Büro der Rkei, wo unbekannt war, daß dieser Brief überhaupt abgeschickt worden war (R 43 I /453 , Bl. 52). Das Tagesdatum 16. ist mit einem Fragezeichen versehen hs. in den Briefkopf eingefügt worden. Aus einem Schreiben StS Fischers an den RK vom 18.11.23 ist zu entnehmen, daß als Monat nur der Oktober in Betracht kommt (s. u. Anm. 24). Abgedruckt ist das Schreiben in: Vermächtnis I, S. 266 ff.; dort auch über die Bekanntschaft zwischen Stresemann und dem Österreicher Freund.

[Betrifft: Deutsche Konzessionen gegenüber Frankreich.]

Sehr geehrter Herr Doktor Freund!

Nachdem ich bereits vor Wochen Gelegenheit hatte, mit Ihnen über die Frage der Reparationslösung zu sprechen, und Ihnen die Vorschläge zu erläutern,[598] die ich mir für eine Erledigung dieses Problems gebildet hatte2, ersehe ich gern aus Ihren letzten Mitteilungen, daß Sie die Absicht haben, mit Ihren Freunden in Paris hierüber erneut in einen Gedankenaustausch einzutreten.

2

Am 17.9.23 hatte Stresemann notiert: „Freund zurück aus Paris“ (Vermächtnis I, S. 124). Nach dem Terminkalender des RK war Dr. Freund am Abend dieses Tages für 19.30 Uhr eingetragen, außerdem auch für den 18. 9., 21 Uhr. Der Namen erscheint weiterhin im Terminkalender am 22., 28., 29. 9.; 11., 13., 15.10.23 (BA: NL von Stockhausen  15).

Aus dem Ergebnis Ihrer ersten Besprechung habe ich ersehen, daß in französischen Kreisen vielfach die Auffassung besteht, meine Darlegungen in Stuttgart und Berlin3 seien mehr allgemeiner Natur gewesen4, ohne daß ihnen gesetzgeberische Pläne der Deutschen Regierung zugrunde lägen. Wie Sie wissen, ist die Auffassung eine völlig irrige. Wenn auch der spezielle Plan der unmittelbaren Haftung der Wirtschaft für die Aufbringung von Leistungen nur einen Teil des Gesamtproblems umfaßte, so stellt er doch ein wichtiges Kernstück für die Lösung dieser Frage dar, und ich glaube, daß es wünschenswert ist, wenn ich Ihnen die Einzelheiten dieser Idee im Nachfolgenden noch einmal ausführlich auseinandersetze5, damit man sich auch an sachverständiger französischer Stelle mit diesen Absichten der Deutschen Regierung befaßt und sie aufrichtiger als bisher würdigt6.

3

Gemeint sind die Reden des RK vom 3. und 12.9.23 (Vermächtnis I, S. 100 f., 118 ff.; Schultheß 1923, S. 162 ff., 168 ff.).

4

Das folgende hs. korrigiert aus: „und daß man daran zweifelt, daß diesen Darlegungen bestimmte“.

5

Das folgende von Stresemann korrigiert aus: „um Gelegenheit zu geben, daß man sich auch an sachverständiger Stelle mit diesen Absichten der Deutschen Regierung befaßt und sie aufrichtiger würdigt als bisher in der französischen Öffentlichkeit zum Ausdruck gekommen ist“.

6

Bereits am 26.9.23 hatte der Leiter der dt. Kriegslastenkommission StS Fischer aus Paris telegrafiert, nach Abbruch des passiven Widerstandes müsse die RReg. das finanzielle Aufkommen für Sachlieferungen in den nächsten Monaten klären und das von RK angesprochene Hypotheken-Projekt erläutern (R 43 I /450 , Bl. 77).

Das deutsche Memorandum vom 7. Juli7 wollte die deutsche Wirtschaft (Industrie, Handel, Verkehr, Landwirtschaft, städtischen Grundbesitz usw.) nur mit einer hypothekarisch gesicherten Pfandhaftung für eine Kapitalschuld von 10 Milliarden Goldmark und eine Jahresleistung von 500 Millionen Goldmark, also gewissermaßen nur mit einer Ausfallbürgschaft belasten für den Fall, daß das Reich selbst mit einer Leistung im Rückstande bliebe. Es ging ferner von einem Moratorium7a von 4 Jahren aus. Ich gehe in 2 Punkten darüber hinaus: ich will erstens die Wirtschaft selbst zu diesen Leistungen direkt heranziehen und zweitens die effektiven Zahlungen nicht erst nach einem 4jährigen Moratorium beginnen.

7

Gemeint ist das Memorandum vom 7. 6. (!) 23 (Ursachen und Folgen V, Dok. Nr. 1048). Zu seiner Entstehung s. Das Kabinett Cuno, S. XXXIII f.

7a

Von hier ab als Durchschrift.

1. Sie wissen aus meinen verschiedenen Reden, daß die erforderlichen[599] Gesetzentwürfe für die Durchführung dieser Pläne vorbereitet sind8. Diese Gesetzentwürfe waren früher entsprechend dem deutschen Memorandum vom 7. Juli [!] nur auf eine Pfandhaftung in der Weise abgestellt, daß der landwirtschaftliche, städtische und industrielle Grundbesitz mit einer Haftung durch Eintragung von Hypotheken auf die Grundstücke belastet werden sollte, die nicht verzinslich waren und erst angegriffen werden konnten, wenn das Reich mit seinen Zahlungen im Rückstande blieb. Ich habe diese Gesetzentwürfe umarbeiten lassen in der Weise, daß die Hypotheken auf wertbeständiger Grundlage verzinslich sind, die Grundstücke also jährliche Barzahlungen aufzubringen haben. Bei den landwirtschaftlichen Grundstücken läßt sich dies einheitlich und gleichmäßig durchführen; ebenso bei den städtischen Grundstücken, obwohl hier die augenblickliche Schwierigkeit besteht, daß infolge der gegenwärtigen Regelung der Mieten der städtische Hausbesitz zu effektiven Zahlungen zurzeit noch nicht herangezogen werden kann. Die Zwangsmietenregelung wird aber jetzt abgebaut9 und es ist dann auch hier10 der nötige Spielraum für effektive Zahlungen vorhanden. Bei Industrie, Handel und Verkehr besteht insofern eine konstruktive Schwierigkeit, als hier der Grundbesitz – auch samt den mit dem Grundbesitz verbundenen Mobilien – keinen gleichmäßigen Maßstab für die Leistungsfähigkeit bietet, vielfach überhaupt kein Grundbesitz vorhanden ist. Hier muß also die Heranziehung des einzelnen Unternehmens nach einem anderem11 Schlüssel, nämlich nach dem wirklichen Vermögen, vorgenommen12 werden. Soweit die einzelnen Unternehmungen Grundbesitz haben, wird ihre so festgestellte Verpflichtung dann hypothekarisch gesichert, soweit sie Grundbesitz nicht haben, werden sie zur Aushändigung von verzinslichen Obligationen verpflichtet.

8

Der RK hatte das AA am 20.9.23 schriftlich aufgefordert, die Federführung bei Ressortbesprechungen zu übernehmen, in denen „Gesetzentwürfe zur Verhaftung des ländlichen und städtischen Grundbesitzes, der Industrie und der Reichsbahn“, die unter der Kanzlerschaft Cunos in unverbindlicher Form erstellt worden waren, weitererörtert werden sollten. „Bei den Beratungen ersuche ich, sowohl Entwürfe für die Pfandhaftung im Sinne der Kommissionsarbeiten wie auch Entwürfe für eine Leistungshaftung aufzustellen“ (R 43 I /450 , Bl. 55). Im einzelnen liegen vor: Vorschlag für die Ausgestaltung der Treuhandgesellschaft; Gedankengänge zur Umgestaltung des Wohnungswesens, Entwurf eines Gesetzes über die Reparationsleistungen der Deutschen Reichsbahn; Entwurf eines Gesetzes über die Belastung von Industrie, Gewerbe, Schiffahrt, Handel und Banken für die Reparation; Unverbindlicher Entwurf über die Belastung des land- und forstwirtschaftlichen Besitzes für Reparationszwecke (Haftung mit gleichzeitiger Leistung) (R 43 I /450 , Bl. 65–76). Grävell vermerkte für den StSRkei am 28.9.23, die Entwürfe seien „umgearbeitet und soweit fertiggestellt, daß sie den Ressorts vorgelegt werden können“ (R 43 I /450 , Bl. 80).

9

S. Dok. Nr. 130, P. 1.

10

Aus: „sicher“.

11

Aus: „besonderen“.

12

Aus „verteilt“.

Die Unternehmungen sollen das Recht erhalten, sich von den jährlichen Leistungen durch Zahlung eines einmaligen Kapitalbetrages freizukaufen, der zur Abdeckung der Reparationskapitalschuld selbst verwendet wird. Das individuelle Interesse des einzelnen Unternehmers wird auf diese Weise in den Dienst einer schnellen Tilgung der Reparationsschuld gestellt. Dazu ist erforderlich, daß ihm ein liberaler Rediskont für den Fall der Ablösung gewährt[600] wird. Da in französischen Kreisen vielfach auf eine Aktienbeteiligung an deutschen Unternehmen Wert gelegt wird, kann auch in Erwägung gezogen werden, daß Gesellschaften sich freiwillig anstatt durch eine Kapitalsumme durch Hergabe von 25% des Aktienkapitals an die Treuhandgesellschaft freikaufen.

Die Wirtschaft wird also bestimmte Jahresleistungen aufbringen. Ich sehe bei den Reparationszahlungen die Hauptschwierigkeiten nicht so sehr in der inneren Aufbringung der Zahlungen, als in der Überführung der aufgebrachten Summen von einer Wirtschaft auf die andere. Es ist zwar richtig, daß die Steuern in Deutschland nicht soviel aufgebracht haben, wie sie hätten aufbringen sollen. Es lag dies daran, daß die Markentwertung immer schneller war als die Erhöhung der Steuersätze. Sie wissen, daß mein Kabinett sofort die erforderlichen Schritte getan hat, um die Steuern auf wertbeständige Grundlage einzuziehen13. Ich werde die Steuern so weit erhöhen, daß die Aufbringung im Innern gesichert ist. Die Schwierigkeit liegt darin: Wie können die in Deutschland aufgebrachten Beträge verwertet werden, um in andere Länder überführt zu werden, ohne die deutsche Währung immer wieder ins Schwanken zu bringen. Hier sind m. E. in der Vergangenheit Fehler sowohl auf seiten der Gläubiger als auch die Schuldner gemacht worden. Die bisherigen Zahlungen sind in einer primitiven, bürokratischen und unkaufmännischen Weise gemacht und angenommen worden. Wenn in Zukunft auf eine lange Reihe von Jahren noch Zahlungen gemacht werden, so müssen sie nach richtigen geschäftsmäßigen Grundsätzen14 erfolgen. Dies sollte mein Vorschlag einer von den Gläubigern und Schuldnern gemeinsam zu errichtenden Finanz-Treuhandgesellschaft bezwecken. Sie haben mich besonders darauf aufmerksam gemacht, daß diese Treuhandgesellschaft in Paris mißverstanden worden ist, und daß man dort in der Treuhandgesellschaft die „Internationale Kommission zur Prüfung der deutschen Leistungsfähigkeit“ in einer anderen Form wieder finden wollte. Davon kann keine Rede sein. Ich habe mir eine Finanz-Treuhandgesellschaft (trustes société fiduciaire) mit folgender Aufgabe gedacht: Sie soll erstens die rechtsgültige Bestellung und die Erhaltung der Pfänder, insbesondere der Hypotheken überwachen, die Pfänder verwalten, die laufenden Zahlungen in Empfang nehmen und im Falle des Verzuges die zwangsweise Beitreibung der geschuldeten Zahlungen durchführen. Bisher also eine reine Vermögensverwaltung.

13

S. Dok. Nr. 71, P. 1.

14

Aus: „gesetzmäßigen Grundlagen“.

Ihre zweite Aufgabe ist, die Pfänder und Zahlungen zu verwerten. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten. Die Treuhandgesellschaft kann sich darauf beschränken, die Hypothekentitel und die Obligationen in ihrem Portefeuille zu behalten und die darauf fällig werdenden Zinsen an die empfangsberechtigten Reparationsgläubiger nach den Anweisungen der Reparationskommission zu verteilen. Auf diese Weise würden den Reparationsgläubigern jährliche Annuitäten zufließen. Die andere Möglichkeit ist die, daß die Treuhandgesellschaft auf der Grundlage der ihr übergebenen und von ihr verwalteten Sicherheiten[601] und der bei ihr eingehenden laufenden Zahlungen Anleihen aufnimmt und dem Ertrag der Anleihen den Reparationsgläubigern zuführt.

Daraus ergibt sich, daß die Treuhandgesellschaft eine rein geschäftsmäßige Organisation ist, die die Geschäfte von Geld-, Kredit- und Hypothekenbanken zu betreiben, daß sie aber keinerlei gutachtliche oder entscheidende Befugnis in der Reparationsfrage selbst hat. Die Zuständigkeiten und Vorrechte der Reparationskommission werden daher durch sie in keiner Weise eingeschränkt. Sie ist nur das Instrument, um die von Deutschland bereitgestellten und verpfändeten Vermögenskomplexe zu mobilisieren.

Im Hinblick auf die in Paris entstandenen Mißverständnisse, und da ich es für das wichtigste halte, die Schwierigkeiten zu überwinden, die in der Mobilisierung der in Deutschland vorhandenen Vermögenswerte liegen, habe ich diesen Punkt etwas eingehender behandelt.

Wenn man in Paris die Schaffung eines solchen Instrumentes für richtig hält, so würden ihm zweckmäßigerweise nicht nur die in der deutschen Privatwirtschaft liegenden, verpfändeten Vermögenskomplexe, sondern auch die übrigen von der deutschen Regierung angebotenen Sicherheiten übertragen werden, nämlich die hypothekarisch gesicherten und mit 500 Millionen Goldmark jährlich verzinslichen Gold-Obligationen der Reichsbahn in Höhe von 10 Milliarden Goldmark und die Einnahmen aus den Einfuhrzöllen auf Genußmittel und die Verbrauchssteuern auf Tabak, Bier, Wein und Zucker sowie die Erträge des Branntwein-Monopols.

2. Das deutsche Memorandum vom 7. Juli [!] geht von einem 4jährigen Moratorium aus. Ich unterschätze die Bedeutung der Argumente für die Notwendigkeit eines solchen Moratoriums nicht. Die endgültige Sanierung des deutschen Budgets und der deutschen Währung scheint ohne ein solches Moratorium nicht oder kaum durchführbar. Diese Argumente sind ja auch auf der Gegenseite anerkannt worden, wie aus den verschiedenen Plänen, die der Januarkonferenz der alliierten Ministerpräsidenten in Paris15 vorgelegt worden sind, hervorgeht. Wenn es sich aber darum handelt, das Ruhrgebiet durch sofortige Zahlungen frei zu bekommen und im Rheinland den vertragsmäßigen Zustand wieder herzustellen, müssen diese an sich berechtigten Argumente bei Seite gestellt werden. Wenn das Ruhrgebiet nicht frei wird, können Budgets und Währung auch nicht saniert werden. Ich bin also entschlossen, für den Preis dieser Befreiung die Zahlungen und Sachleistungen schon jetzt aufzunehmen16. Ich werde im Jahre 1924 500 Millionen Goldmark aufbringen. Davon werden 300 Millionen Goldmark dazu verwendet, um Kohlen- und etwaige sonstige Sachlieferungen zu bezahlen; 200 Millionen Goldmark werden in bar bezahlt werden. Im Jahre 1925 wird die Barzahlung auf 400 Millionen Goldmark steigen.[602] Ich werde, soweit Deutschland darauf einen Einfluß nehmen kann, durchaus dafür eintreten, daß für diese Barzahlung die Priorität der zerstörten Gebiete anerkannt wird, daß diese16a 200 Millionen Goldmark, also in erster Linie Frankreich erhält. England hat in seinem Januar-Plan die Notwendigkeit eines 4jährigen Moratoriums im Prinzip ja bereits anerkannt, so daß die Hoffnung nicht unberechtigt ist, daß England in der ersten Zeit mit seiner Quote zurücktritt. Diese Zahlungen könnte dann entweder Frankreich dazu verwenden, um die Zinsen auf die Bons zu bezahlen, die es zur Deckung des Defizits in seinem budget recouvrable in Frankreich in den Jahren 1924 und 1925 aufnehmen muß, oder sie könnten der Finanzierungs-Treuhands-Gesellschaft übergeben werden, um sie als Unterlage für eine Anleihe zu verwenden.

15

S. Schulheß 1923, S. 399 ff.; C. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 202, 206.

16

Im Gegensatz zur dt. Note vom 14.11.22 hatte das „Berliner Tageblatt“ wahrscheinlich als offiziöse Ansicht in einem Artikel am 19.9.23 (Nr. 440) ausgeführt, „daß die Zahlungen nicht erst im Jahr 1927, sondern zu einem weit früheren Zeitpunkte beginnen sollen, der der näheren Vereinbarung mit den Vertragskontrahenten bedarf.“ Dazu bemerkte Grävell (s. o. Anm. 8): „Diese Auffassung deckt sich mit der, die der Herr Reichskanzler in einer Kabinettssitzung geäußert hat und die jetzt die Grundlage für die Ausgestaltung der Gesetzentwürfe über die Verhaftung der deutschen Wirtschaft bildet.“

16a

Ende der Durchschrift.

Die ganze Inanspruchnahme der Wirtschaft für diese Leistungen ist natürlich davon abhängig, daß uns das Ruhrgebiet wieder zur Verfügung steht und daß die Souveränität der Deutschen Regierung in Bezug auf das Rheinland wieder voll hergestellt wird. Darunter verstehe ich die Wiederherstellung des status quo ante vor dem 11. Januar d. Js. Es würde dies bedingen, daß einmal die Verwaltung in deutsche Hände zurückgelegt wird, daß die Eisenbahnen wieder in unserem Besitz und unserer Verwaltung sind, und daß der unmögliche Zustand beseitigt wird, der die gegenwärtigen Verhältnisse unerträglich macht, indem er uns vor die unlösliche Aufgabe stellt, die Verwaltungskosten des besetzten Gebiets voll zu tragen, aber auf jede Einnahme aus dem besetzten Gebiet zu verzichten17. Ich habe infolgedessen auch in meiner Antwort an Herrn Stinnes18 zum Ausdruck gebracht, daß die Deutsche Regierung es ablehnen müsse, die Kohlensteuer zu übernehmen, Kohlen auf Reparationskonto zu liefern und auch, wie ich vertraulich hinzufügen möchte, der deutschen Industrie die Kredite zu geben19, die sie beansprucht, um die Arbeit wiederaufzunehmen. Ich kann mir nicht denken, daß es in den Intentionen der französischen Regierung liegt, diesen Zustand etwa unter eigener Verantwortung zu verewigen20. Er würde die französische Regierung vor die auch für sie unmögliche Aufgabe stellen, mit ihren Kräften unter Ausübung einer fremden Herrschaft den wirtschaftlichen Wiederaufbau zu versuchen. Das besetzte Gebiet würde dadurch für Frankreich anstelle eines produktiven Staates zu einem finanziellen Zuschußgebiet werden, alle politische Konsequenzen, die sich aus der Besetzung für Frankreich ergeben würden, ungerechnet.

17

Danach gestrichen: „Dieser Zustand wäre für uns nicht zu ertragen und“.

18

Gemeint ist Stresemanns Schreiben vom 12.10.23 (Dok. Nr. 131).

19

Danach zunächst: „deren sie bedarf“.

20

Die folgenden Sätze bis zum Ende des Absatzes lauteten zunächst: „Er würde die französische Regierung vor die auch für sie unmögliche Aufgabe stellen, mit ihren Kräften unter einer für die Bevölkerung fremde Herrschaft den wirtschaftlichen Wiederaufbau zu versuchen und würde anstelle produktiver Pfänder das besetzte Gebiet zu einem finanziellen Zuschußgebiet für Frankreich machen, alles politische Konsequenzen, die sich unausgesprochen auch für Frankreich ergeben würden, und die für Frankreich unmöglich zu tragen wären.“

In einer Mitteilung des Geschäftsträgers, die in Paris in den nächsten Tagen übergeben wird, wird infolgedessen der Reparationskommission auch zum Ausdruck gebracht, daß wir auf Grund von Artikel 234 des Friedensvertrages[603] eine Prüfung der Hilfsquellen und Leistungsfähigkeit Deutschlands beanspruchen, und es wird die Anregung gegeben, daß unseren Vertretern Gelegenheit gegeben wird, sich über diese Hilfsquellen und über die Leistungsfähigkeit Deutschlands zu äußern21. Unser Wunsch ist es aber nicht, einen Zustand zu verewigen, der gewissermaßen ein Kriegszustand zwischen uns und Frankreich sein würde, sondern unser Wunsch ist, möglichst sofort zu Verhandlungen über das Reparationsproblem zu gelangen und dabei unter der Voraussetzung eines Deutschland unter gewissen Bedingungen zu gewährenden Moratoriums für seine Gesamtleistungen die Möglichkeit zu geben, seine eigenen Pläne für die Lösung des Reparationsproblems vorzubereiten und dabei durch weitergehende Sicherstellung neben den hier erwähnten Sicherstellungen auf der Grundlage einer deutschen Gesamtleistung von 30 Milliarden Goldmark endlich zu einer Lösung des Gesamtproblems zu kommen, die den Friedenszustand in Europa herstellt und die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Nebeneinanderlebens und Miteinanderwirkens zwischen Deutschland und den Alliierten und insbesondere Frankreich, gewährleistet22.

21

S. Dok. Nr. 136, P. 9; Dok. Nr. 156.

22

Aus: „zu veranlassen“.

Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß dies auch die Auffassung der maßgebenden Kreise Frankreichs ist und würde mich freuen, wenn Ihre Auffassung, die in derselben Richtung geht, sich recht bald durch die Ereignisse bestätigen würde. Dabei bemerke ich aber, daß die Verhältnisse in Deutschland gegenwärtig so labil sind, daß baldige Gewißheit über diese Fragen so unerläßlich erscheint, um überhaupt die Ordnung in Deutschland aufrechterhalten zu können.

Da Sie über die Intentionen und über diejenigen Pläne, die ich schon als Kernstück des Reparationsproblems in diesem Briefe dargelegt habe, genau unterrichtet sind, ermächtige ich Sie, auch im Rahmen dieser von mir dargelegten Vorschläge mit Ihren Freunden und23, falls Sie dazu Gelegenheit haben, auch mit offiziellen französischen Stellen Fühlung zu nehmen. Der deutsche Geschäftsträger in Paris ist hierüber unterrichtet24.

23

Danach bis Ende des Absatzes zunächst: „falls Ihnen das möglich ist, auch mit offiziellen Stellen Fühlung zu nehmen und habe den deutschen Geschäftsträger in Paris auch hierüber unterrichtet.“

24

Über den dt. Geschäftsträger ließ Freund am 26.10.23 übermitteln: Wegen der Rheinlandunruhen habe er in Paris nur oberflächlich Fühlung genommen und dabei festgestellt, daß Einzelpunkte des Reichskanzler-Briefs Anstoß erregen und Verhandlungen ausschließen würden. Er habe deshalb den Gesamtbrief zur Legitimation benutzt und den Inhalt zur allgemeinen Besprechungsgrundlage vorgeschlagen. Maßgebende Stellen hätten dem Schreiben den guten Willen des Kanzlers entnommen und das Außenministerium werde evtl. einen Gegenvorschlag unterbreiten. Vor einer restlosen Aufgabe des Widerstands sei bei der Repko wohl kaum ein positives Ergebnis des deutschen Schritts zu erwarten und die Wiederaufnahme der Sachlieferungen erscheine unumgänglich. Zwei Tage später ließ Freund mitteilen, daß bisher ein Gespräch mit Poincaré nicht zustandegkommen sei, da der Kanzlerbrief als Legitimation unzureichend sei. Frz. Gegenvorschläge seien noch nicht übermittelt worden, würden aber unter Mitarbeit Poincarés wohlwollend vorbereitet (Pol.Arch.: Büro StS, Freund). Demgegenüber geht aus einem Vermerk MinDir. von Schuberts hervor, Dr. Freund habe in Paris „das Schreiben des Kanzlers einigen Vertrauensleuten gezeigt und sei damit fürchterlich abgefallen.“ In diesem Zusammenhang teilt v. Hoesch MinDir. v. Schubert zur Weitergabe an den RK mit, Freund habe sich mehrfach mit der Bitte an ihn gewandt, „ihn durch ein Schriftstück, in dem er etwa als Spezialbeauftragter der Deutschen Regierung für Verhandlungen mit der Französischen Regierung zu bezeichnen wäre, bei der hiesigen maßgebenden Stelle einzuführen.“ Zunächst hatte Freund jedoch nur ein Einführungsschreiben für Peretti della Rocca erhalten, mit dem informelle Unterredungen stattgefunden hätten. Nach einem Zwischenaufenthalt am 29.10.23 in Berlin wolle Freund erneute Gespräche in Paris führen. „Wenn er bei seinen jetzigen Besprechungen nach seinen Angaben vorwärts gekommen ist, so ist das natürlich in erster Linie darauf zurückzuführen, daß er in dem von ihm angefertigten Auszug aus dem Inhalt des Kanzlerbriefes den Franzosen gegenüber nahezu ausschließlich unsere Anerbietungen verwertet, unsere Forderungen aber herausgelassen hat.“ v. Schubert sah in der weiteren Tätigkeit Freunds eine Gefahr und riet, von seiner weiteren Verwendung abzusehen (R 43 I /64 , Bl. 12–16). Im Terminkalender Stresemanns ist Freund für den 29. u. 30. 10. sowie den 4. u. 6.11.23 eingetragen (BA: NL von Stockhausen  15). v. Schubert übermittelte der dt. Botschaft am 7.11.23, die von Freund erbetene Legitimation, die ihm aber nur gegeben werden solle, wenn er danach frage (Pol.Arch.: Büro StS, Freund). Ein Schreiben Stresemanns vom 4.11.23 an Freund wurde von StS von Maltzan erst am 14.11.23 weitergeleitet. Darin wurde dem Unterhändler mitgeteilt, v. Hoesch habe den Auftrag erhalten, ihn bei der frz. Regierung zu akkreditieren. „Ich brauche Sie nicht besonders zu bitten, bei Ihrem Studium der finanziellen und ökonomischen Verhältnisse sich innerhalb der besprochenen Richtlinien zu halten und insbesondere jedes Übergreifen auf die große politische Frage zu vermeiden.“ Französische Gegenäußerungen von Belang seien mitzuteilen. Sollten frz. Bekannte Freunds aus Wirtschaftskreisen den RK sprechen wollen, so sei dieser dazu bereit (R 43 I /453 , Bl. 183; Pol.Arch.: Büro StS, Freund). Daß ein erneutes Gespräch Freunds mit Peretti della Rocca unter dem Eindruck der Rückkehr des Kronprinzen Wilhelm nach Deutschland und der Haftentlassung Ludendorffs nach dem Münchner Putsch ergebnislos verlaufen sei, teilte v. Hoesch StS Maltzan am 12.11.23 mit. Die Akkreditierung Freunds im Stresemannbrief sei unzureichend, da sie sich nur auf technische Fragen beschränke, außerdem sei die Staatsangehörigkeit Freunds hinderlich. Eine Erweiterung der Vollmachten, über die vom 4.11.23 lehnte Stresemann ab (14.11.23; Büro StS, Freund). Zum Fortgang s. Vermächtnis I, S. 266. Über die Bedeutung des Stresemann-Briefes für die Prüfung der deutschen Leistungsfähigkeit s. Besprechung 20.11.23 (Dok. Nr. 271).

Mit vorzüglicher Hochachtung25

25

Der Briefentwurf ist nicht gezeichnet.

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