1.59.1 (bru2p): Entwurf einer Notverordnung.

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RTF

Entwurf einer Notverordnung.

Zur Besprechung wurde der beiliegende Entwurf einer Verordnung des Reichspräsidenten an die Herren Reichsminister verteilt1.

1

Die NotVO-Entwürfe befinden sich in R 43 I /1449 , Bl. 269–349.

Der Reichsminister der Finanzen machte zunächst allgemeine Ausführungen über die Finanzlage. Diesen Ausführungen legte er die beiliegende Aufstellung zugrunde2. Sodann erläuterte er den Plan des Verordnungsentwurfs und den wesentlichen Inhalt der in seinem Ressort aufgestellten Teilentwürfe. Dabei nahm er auf die dem Entwurf vorausgeschickte schriftliche Inhaltsangabe Bezug. Sodann bemerkte er noch, daß die Verordnung noch einer Ergänzung bedürfe durch Maßnahmen zur Lockerung der bestehenden Preisbindungen, insbesondere auch durch Maßnahmen zur Senkung des Brotpreises, ferner durch Erleichterungen für die Veredelungswirtschaft. Jedenfalls könne die Reichsregierung mit dem bisherigen Verordnungsinhalt allein nicht an die Öffentlichkeit treten. Sie enthalte einstweilen nur Belastungen, die dazu angetan seien, das Volk einer Revolution zuzutreiben.

2

Die Deckungsvorschläge des RFMin. vom 29.5.31 (R 43 I /1449 , Bl. 350–351) entsprachen weitgehend der in Anlage zu Dok. Nr. 307 abgedruckten Aufstellung. Lediglich die unter II A aufgeführten Ausgabeabstriche waren statt mit 333,5 Mio RM jetzt nur noch mit 314,5 Mio RM angesetzt worden, woraus sich eine Erhöhung des ungedeckten Gesamtbetrages ergab. Für den Krisen- und Wirtschaftsfonds zur Arbeitsbeschaffung waren nur noch 117 Mio RM gegenüber ursprünglich 134 Mio RM vorgesehen.

Anschließend sprach der Reichsarbeitsminister über die in seinem Ressort aufgestellten Teilentwürfe. Auch er nahm auf die dem Verordnungsentwurf beigegebene kurze Inhaltsangabe Bezug. Er bezifferte den Fehlbetrag in Reich, Ländern und Gemeinden auf 2,2 Milliarden RM. Im einzelnen nannte er folgende Summen:

Fehlbetrag des Reichs

582 Millionen

Fehlbetrag der Arbeitslosenversicherung

400 Millionen

Fehlbetrag bei der Krisenfürsorge

200 Millionen

Fehlbetrag bei der Wohlfahrtsfürsorge der Gemeinden

300 Millionen

Fehlbetrag der Länder

700 Millionen

[1132] Alle diese Beträge abzudecken erklärte er für unmöglich. Länder und Gemeinden müßten sich in der Hauptsache selbst helfen. Für die spätere Diskussion stellte er zwei Punkte zurück,

a)

die Frage der etwaigen Aufhebung des Nachtbackverbots,

b)

die Frage der etwaigen Beseitigung der kleinen Renten in der Unfallversicherung.

Ob er in diesen Punkten werde nachgeben können, werde wesentlich von der endgültigen Gestaltung der Notverordnung abhängen. Nach Verabschiedung der Notverordnung müsse im Herbst eine große weitere Verbilligungsaktion einsetzen, und zwar

a)

in der Krankenversicherung,

b)

in der Invalidenversicherung, die organisch reformiert werden müsse im Zusammenhang mit der Krankenversicherung und der Reichsknappschaft.

Aber diese Dinge könnten nicht durch Notverordnung gemacht werden, vielmehr müsse diese Aufgabe dem Reichstag überlassen werden.

An diese Darlegungen des Reichsministers der Finanzen und des Reichsarbeitsministers schloß sich eine erste allgemeine Aussprache über den Inhalt der Notverordnung an.

Beschlüsse wurden nicht gefaßt.

Staatssekretär TrendelenburgTrendelenburg äußerte zu den Forderungen des Reichsministers der Finanzen, wonach auch Maßnahmen zur Zerschlagung der Preisbindungen getroffen werden müßten, daß auch in der Privatwirtschaft manches reformbedürftig sei und daß auf diesen Gebieten etwas geschehen müsse, damit die Wirtschaft innerlich reformiert werde. Und zwar seien erforderlich

a)

Maßnahmen auf dem Gebiete der Kartelle,

b)

Reformen auf dem Gebiete des Aktienrechts.

Bei den Aktiengesellschaften sei erforderlich: eine bessere Aufsicht über die Gesellschaften, ferner eine bessere Regelung des Stimmrechts und schließlich eine größere Publizität der Geschäftsführung.

Eine Aufhebung bestehender Preisbindungen lehne das Reichswirtschaftsministerium nicht a limine ab, aber die Konsequenzen derartiger Maßnahmen müsse dann sein, daß man auch die Bindungen für die Löhne aufhebe. Die Belegschaften der Werke müßten in der Lage sein, sich für die Erhaltung ihrer Werke selbst einzusetzen.

Notwendig sei, daß das Kabinett noch am heutigen Tage sich schlüssig werde über die Frage der Verlängerung des Kohlensyndikats3. Wenn das Kohlensyndikat nicht verlängert werde, werde es einen Kampf aller gegen alle[1133] geben. Die ganzen Haldenbestände würden plötzlich auf den Markt geworfen werden. Rückwirkungen auf die Kreditlage würden folgen, ferner Rückwirkungen in der Eisenindustrie. Schließlich müsse man alsdann auch darauf gefaßt sein, daß umfassende Standortsverlegungen der Industrie unvermeidlich seien. Das Kohlenkartell sei das größte deutsche Kartell; neben ihm fielen die anderen kaum wesentlich ins Gewicht. Nach seiner Meinung werde ein syndikatsloser Zustand der Anfang einer großen Krise sein. Er erbitte daher die Ermächtigung, das Syndikat wieder herzustellen. Die Industrie fordere eine Verlängerung auf neun Jahre. Er halte es aber für ausreichend, eine Verlängerung nur für drei Jahre auszusprechen.

3

Der Syndikatsvertrag des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats vom 30.4.25 war am 31.3.30 offiziell abgelaufen, aber er sollte endgültig erst am 30.6.31 außer Kraft treten, wenn sich die Vertragspartner nicht bis zum 31.5.31 auf eine neue Vereinbarung einigen konnten. StS Trendelenburg hatte in seiner Kabinettsvorlage vom 11.5.31 drei mögliche Lösungen zur Diskussion gestellt: 1. eine kurzfristige Verlängerung des bisherigen Syndikats; diesen Vorschlag hatte er als unpraktikabel abgelehnt: 2. den syndikatslosen Zustand. Die Wiederherstellung des freien Wettbewerbs zwischen den Zechen könne zwar zu Kohlenpreissenkungen führen, würde aber in der gegenwärtigen Depression sicherlich zu Entlassungen von Arbeitskräften führen; 3. ein langfristiges Zwangssyndikat; diese Möglichkeit hatte Trendelenburg in seinem Schreiben indirekt befürwortet (R 43 I /2178 , Bl. 107–110).

Der Reichspostminister sprach sich dahin aus, daß man bei Gelegenheit der neuen Notverordnung auch an die Wirtschaft heran und Reformen treffen müsse. Die Radikalisierung der Beamtenschaft würde stark vermehrt werden, wenn man hinsichtlich der Wirtschaft keinerlei Schritte unternehme. Zum mindesten müßten die Preisbindungen aufgehoben werden. In welcher Form dies geschehe, wolle er dahingestellt sein lassen.

Der Reichsarbeitsminister erklärte, in der großen Wirtschaft, d. h. in der Eisen- und Kohlenwirtschaft, dürfe man die Kartelle nicht zerschlagen. Ein solcher Schritt werde nach seiner Auffassung die kreditpolitische Vertrauensbasis verhängnisvoll schädigen. Außerdem sei dann die oberschlesische und Saargebiets-Industrie von der Vernichtung bedroht. Schließlich werde man ohne Kohlensyndikat auch nicht mit England zu einer Einigung in der Kohlenfrage kommen können.

Aber auf dem Gebiete der Mittelstandskartelle müsse eingeschritten werden. Es sei ein auf die Dauer unmöglicher Zustand, daß von seiten der Innungen mit Ordnungsstrafen wegen Verletzung der Standesehre eingeschritten würde, wenn einzelne Gewerbetreibende gewisse Richtlinien nicht innehalten wollten. Ferner seien die bestehenden Vorschriften über das Verdingungswesen durchaus schädlich. Die bestehenden Bedingungen hätten eine preissteigernde Wirkung. Für die Lebensmittelpreise müsse eine größere Publizität gefordert werden.

Staatssekretär TrendelenburgTrendelenburg bemerkte noch, daß es auch bei Verlängerung des Kohlensyndikats gelingen könne, die Einwirkung des Syndikats auf die Kleinhandelspreise zu beseitigen. Wenn man das Kohlensyndikat nicht verlängern wolle, so könne man es aber keinesfalls fristlos auffliegen lassen, da die gesamte Industrie auf einen syndikatslosen Zustand nicht vorbereitet sei. Zum mindesten müsse man einen Übergang schaffen, um den Kohlenproduzenten Zeit zu lassen, sich gegebenenfalls selbst zu einigen. Ferner müsse die Bestimmung des Kohlenwirtschaftsgesetzes, die den Reichswirtschaftsminister verpflichtet, einen Zusammenschluß oder Beitritt zu einem Syndikat gesetzlich herbeizuführen, abgeändert werden4.

4

Vgl. § 2 des Kohlenwirtschaftsgesetzes vom 23.3.19 (RGBl. 1919, S. 342 ) sowie § 6 der Ausführungsbestimmungen zum Kohlenwirtschaftsgesetz vom 21.8.19 (RGBl. 1919, S. 1449 ).

[1134] Der Reichsminister der Finanzen erklärte, daß nach seiner Meinung die Gefahren eines syndikatslosen Zustandes nicht so groß seien, wie sie von den Vorrednern geschildert wurden. Die großen Betriebe würden sich auch ohne Syndikat zusammenschließen und nach wie vor an das Ausland verkaufen. Andererseits werde in den Inlandsmarkt eine gewisse Konkurrenz hereinkommen, die auf die Preise drücken werde. Es spreche sich für eine Aufhebung der Preisvereinbarungen aus. Wenn man an den Großen vorbeigehe, könne man auch nicht gegen die Bäcker und Fleischer vorgehen. Er habe also stärkste Bedenken gegen die langfristige Verlängerung des Kohlensyndikats.

Es wurde beschlossen, den Reichswirtschaftsminister zu ermächtigen, das Kohlensyndikat zunächst nur bis zum 30. August 1931 zu verlängern. Gleichzeitig soll durch die Notverordnung eine Änderung des Kohlenwirtschaftsgesetzes erfolgen, derzufolge der Reichswirtschaftsminister in Zukunft zwar berechtigt, aber nicht verpflichtet ist, einen Zusammenschluß oder einen Beitritt zu einem Syndikat herbeizuführen5.

5

Diese Bestimmung wurde in die NotVO vom 5.6.31, 7. Teil, Kap. VII (RGBl. I, S. 313 ) aufgenommen. Vgl. auch Dok. Nr. 312.

Die Beratungen des Kabinetts wurden in einer Nachmittagssitzung fortgesetzt.

In dieser Sitzung wurde die Frage der Abstriche am Etat erörtert.

Der Reichsminister der Finanzen erklärte, daß in Vorbesprechungen mit den einzelnen Ressorts ein Programm für Abstriche im Gesamtbetrage von 110–120 Millionen RM ausgearbeitet worden sei.

Die einzelnen Reichsminister behielten sich ihre abschließende Stellungnahme zur Sache vor und erklärten sich bereit, in Einzelbesprechungen in kleinem Kreise mit dem Reichsminister der Finanzen über das Thema weiterzuverhandeln.

Über weitere Punkte der Nachmittagssitzung ist eine besondere Niederschrift gefertigt worden6.

6

S. Dok. Nr. 312.

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