1.137 (lut2p): Nr. 306 Der Reichsminister für die besetzten Gebiete an den Reichskanzler und den Reichsminister des Auswärtigen. 3. März 1926

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Nr. 306
Der Reichsminister für die besetzten Gebiete an den Reichskanzler und den Reichsminister des Auswärtigen. 3. März 1926

R 43 I /196 , Bl. 255-259 Abschrift

Betrifft: Bemühungen in Genf zur Erreichung weiterer Rückwirkungen des Vertragswerkes von Locarno im besetzten Gebiet.

Die Völkerbundstagung in Genf bietet die Möglichkeit, weitere Rückwirkungen des Locarno-Werkes für das besetzte Gebiet zu erzielen. Die öffentliche Meinung, insbesondere im besetzten Gebiet, hegt in dieser Richtung besondere Erwartungen. Ich möchte deshalb nicht verfehlen, auch meinerseits die dringende Bitte zu stellen, bei den Besprechungen in Genf mit den Staatsmännern der die Besetzung ausübenden Mächte, insbesondere mit dem französischen Ministerpräsidenten, darauf hinzuwirken, daß Weiteres für das besetzte Gebiet erreicht werde.

Im einzelnen darf ich hierzu kurz folgendes ausführen:

1. Herabsetzung der Besatzungsstärke auf 50 000 Mann.

Ich bitte ergebenst, nachdrücklich dafür einzutreten, daß die Besatzungsstärke auf 50 000 Mann herabgesetzt werde. Zur Zeit besteht die Besatzung aus 66 400 Franzosen, 8 200 Engländern und 7 500 Belgiern, zusammen also aus 82 100 Mann. Die gegenteiligen ausländischen Zeitungsangaben, die von einer gegenwärtigen Besatzungsstärke von 75 000 Mann sprechen, sind entschieden zu niedrig angesetzt. Die in Zeitungsnachrichten enthaltene Mitteilung, daß eine Herabsetzung auf insgesamt 60 000 Mann erreicht werde, kann die öffentliche Meinung nicht beruhigen. Eine Herabsetzung auf nur 60 000 Mann würde allgemein als eine Verschlechterung der Zusage aufgefaßt, die die Botschafterkonferenz durch ihre Note vom 14. November 1925 erteilt hat, in der eine Verminderung der Besatzungstruppen „annähernd auf normale Stärke“ versprochen war1. Der amtliche Kommentar der Reichsregierung vom 17. November 1925 hat diese Wendung der Botschafterkonferenznote dahin erläutert, daß „ungefähr die Stärke der deutschen Truppen“ vor Ausbruch des Weltkrieges gemeint sei2. Im Hinblick auf diese Vorgänge muß darauf bestanden werden,[1187] daß die Besatzungsstärke nicht mehr als 50 000 Mann beträgt oder doch diese Ziffer höchstens unwesentlich überschreitet. Eine Überschreitung um 10 000 Mann, wie die angekündigte Besatzungsstärke von 60 000 Mann sie enthalten würde, kann nicht mehr als Erfüllung der Zusage der Botschafterkonferenz gelten. Gerade die Erfüllung dieser Forderung ist für das Volksgefühl außerordentlich wichtig, während umgekehrt die Nichterfüllung nicht bloß die Bevölkerung der besetzten Gebiete enttäuscht, sondern auch sonst dem Gedanken der Befriedung im Wege steht und innenpolitische Schwierigkeiten schafft3.

1

Vgl. Anm. 1 zu Dok. Nr. 223.

2

Vgl. Anm. 6 zu Dok. Nr. 224.

3

An Botschafter v. Hoesch ergeht am 3. 3. telegrafische Weisung v. Schuberts (abgesandt: 22 Uhr), die Frage der all. Truppenstärke gegenüber Briand in geeigneter Weise zur Sprache zu bringen. Hoesch berichtet am 4. 3., Briand habe ihm gesagt, die Zurückziehung weiterer 3–4000 Mann sei in die Wege geleitet, weitere Truppenverminderungen würden folgen (ADAP, Serie B, Bd. I, 1, Dok. Nr. 133, dort auch Anm. 8).

2. Restlose Entfernung der farbigen Besatzungsangehörigen.

Zur Zeit befinden sich noch rund 1000 farbige Besatzungsangehörige in der französisch-besetzten Zone. Es ist selbstverständlich, daß diese Tatsache die öffentliche Meinung stark erregt. Von den Gegnern des Locarno-Werkes wird höhnisch auf diesen Widerspruch zum Geiste der Befriedung hingewiesen. Die restlose Entfernung der Farbigen ist zu verlangen. Die Erfüllung dieser Forderung dürfte den Franzosen nicht allzu schwer fallen, da es sich nur noch um eine gegenüber früher geringe Ziffer handelt.

3. Besatzungsregime.

In bezug auf die Hauptpunkte des Besatzungsregimes schweben zur Zeit Verhandlungen zwischen dem Reichskommissar für die besetzten rheinischen Gebiete4 in Koblenz und der Rheinlandkommission, oder es sind solche Verhandlungen wenigstens von der Gegenseite zugesagt. Es fallen hierunter die Amnestieverhandlungen, die Revision des Ordonnanzensystems und die Reform der Militärjustiz mit Einschluß der Gendarmeriefrage. In der letzteren Hinsicht handelt es sich insbesondere darum, daß die Mehrzahl der Gendarmeriestationen, nämlich 33 von 58, sich in Orten befinden, in denen gar keine Garnisonen sind, so daß also diese Stationen in garnisonfreien Orten mit der Sicherheit der Truppen keinen Zusammenhang haben und lediglich dazu beitragen, die Militärjustiz, als deren Organe diese Gendarmeriestationen tätig sind, der Bevölkerung der besetzten Gebiete besonders drückend erscheinen zu lassen.

4

Langwerth v. Simmern.

Es wird nicht möglich sein, in diesen Fragen des Besatzungsregimes, die zum Gegenstand besonderer Verhandlungen gemacht sind oder werden, in Genf Einzelheiten zu erzielen. Was aber dringend notwendig ist, ist der Hinweis, daß die Arbeiten in Koblenz auf der alliierten Seite des Impulses von seiten der Besatzungsregierungen selbst bedürfen. Es wird für diese Verhandlungen von großem Vorteil sein, wenn liberale Anweisungen der Besatzungsregierungen an die Oberkommissare in der Rheinlandkommission ergehen und dabei insbesondere darauf hingewirkt wird, der Bevölkerung das Leben und die geistige,[1188] politische und wirtschaftliche Betätigung möglichst wenig drückend zu gestalten.

Die Gegenseite wird sich der Erkenntnis nicht verschließen können, daß die Besatzungspolitik sich in den Rahmen der allgemeinen Politik einfügen muß. In diesem Sinne sind ergiebigere Rückwirkungen des Locarno-Werkes ein unbedingtes Erfordernis der allgemeinen Politik. Wenn die rechtsgerichtete französische Presse gegen weitere Rückwirkungen polemisiert und das Maß des bisher Gewährten als genügend erklärt, so ist dem entgegenzuhalten, daß das im Laufe von sieben Jahren aus einer ganz anderen Einstellung heraus aufgebaute, ursprünglich außerordentlich bedrückerische Besatzungssystem selbst nach Anbringung mehrerer Verbesserungen immer noch unnötige Lasten genug mit sich bringt. Nur wenn die Belastung der Bevölkerung objektiv erkennbar auf ein Mindestmaß, das bei loyaler Besetzung üblich ist, herabgesetzt ist, kann von einigermaßen ausreichenden Rückwirkungen die Rede sein. Dieses Ziel ist noch lange nicht erreicht. Die obenbezeichneten Forderungen würden uns aber diesem Ziel nahe bringen.

Ich stelle zur gefälligen Erwägung ergebenst anheim, ob nicht zur intensiveren Vertretung des Vorstehenden ein Vertreter des Reichskommissars für die besetzten rheinischen Gebiete an der deutschen Abordnung für Genf teilnehmen soll. Ich darf darauf hinweisen, daß bei der Konferenz von Locarno der französische Oberkommissar in Koblenz durch den Obersten Carteron, den dritthöchsten Beamten der französischen Abteilung der Rheinlandkommission, vertreten war. Ähnliches ist wohl auch in Genf zu erwarten5.

5

Ein Vertreter des RKombesGeb. nimmt an der Genfer Konferenz (7.–17. 3.) nicht teil. – Von den oben behandelten Punkten wird in Genf lediglich die Frage einer weiteren Reduzierung der all. Besatzungsstärke im Rheinland kurz erörtert. In der am 16. 3. stattfindenden Besprechung zwischen Luther, Stresemann, Briand und Chamberlain erklärt der frz. MinPräs. hierzu u. a., daß die Rückwirkungen Locarnos ohne Rücksicht auf den nicht erfolgenden dt. Völkerbundseintritt französischerseits weiterverfolgt würden, insbesondere die Frage der Truppenverminderung. Er würde sich persönlich ein Vergnügen daraus machen, „noch mehr zu tun, um zu beweisen, daß die in Locarno gefundene Grundlage in stärkstem Maße weiterwirkte“ (Aufzeichnung in ADAP, Serie B, Bd. I, 1, Dok. Nr. 166).

gez. Marx

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