1.117.1 (ma12p): [Regierungsumbildung.]

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Die Kabinette Marx I und II, Band 2 Wilhelm Marx Bild 146-1973-011-02Reichskanzler Marx vor seinem Wahllokal Bild 102-00392Hochverratsprozeß gegen die Teilnehmer am PutschDawes und Young Bild 102-00258

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[Regierungsumbildung.]

Der Reichskanzler beglückwünschte den Minister Luther zu seinen Erfolgen in der Anleihefrage1.

1

Am 10. 10. hatte Luther in London das Abkommen über die Dawes-Anleihe unterzeichnet; vgl. Dok. Nr. 315, P. 2, bes. Anm. 3.

Ende der Woche müsse die politische Lage endgültig geregelt sein.

Er halte persönlich eine Regierung von den Deutschnationalen bis zum Zentrum für eigentlich ganz untragbar. Wenn die Bayerische Volkspartei und die Wirtschaftspartei mitmachten, so sei das eine Mehrheit von höchstens 9 bis 10 Stimmen. Unter Umständen müsse auch die Auflösung erwogen werden, wenn die Demokraten nicht mitmachten. Dann würde auch die Art der Auflösung besprochen werden müssen.

Stresemann: Käme es zur Auflösung, so müsse man den Schritt ohne nochmaligen Zusammentritt des Reichstags tun.

Der Reichskanzler Er neige gleichfalls dieser Ansicht zu.

Graf v. Kanitz: Die Demokraten hätten im Mai einer Regierung mit den Deutschnationalen grundsätzlich zugestimmt. Ihm sei nicht klar, welche neuen Momente in der Zwischenzeit eingetreten seien, deretwegen sie jetzt nein sagten.

Luther: Für eine Auflösung würde seines Erachtens jetzt das „Thema“ fehlen, außerdem glaube er, daß der neue Reichstag für eine Regierungsbildung ebenso unfähig sein werde wie der alte. Von seinem Ressortstandpunkt aus würde die Aufwertungsfrage im Falle der Auflösung bedenklich werden.

Der Reichskanzler Bei einer Neuwahl würden seines Erachtens die Sozialdemokraten von den Kommunisten 20 bis 30 Sitze gewinnen, falls nicht inzwischen starke Teuerung eintrete. Die Völkischen würden sehr geschwächt werden, die Deutschnationalen nur wenig abnehmen. Eine wesentliche Änderung würde also nicht eintreten, aber die Schwächung der beiden extremen Parteien würde zu einer gewissen Ruhe im Reichstag beitragen. Beibehalten der jetzigen Regierung sei unmöglich, sie würde doch in 8 bis 14 Tagen fallen. Aus diesen Gründen sehe er nur die Möglichkeit einer Auflösung. Die Wahlparole wäre nur außenpolitisch.

Graf v. Kanitz: Die außenpolitische Wahlparole würde seines Erachtens nicht ziehen. Durch die Auflösung würde aber die Volkspartei an die Seite der Deutschnationalen herangezwungen.

[1113] Brauns: Es handle sich seines Erachtens hier um eine sehr schwere innenpolitische Frage, nämlich die der Verfassungstreue von oben. Die außenpolitischen Probleme seien geklärt. Gehe die Rechte da mit den Mittelparteien mit, so scheide die Frage aus dem Wahlkampf aus. Es spitze sich jetzt geradezu auf die Frage zu, ob nur mit links regiert werden dürfe. Er frage sich, ob das noch verfassungsmäßig sei. Das parlamentarische System kenne als einzigen Maßstab die Mehrheitsverhältnisse. Eine Mehrheitsbildung sei auch jetzt möglich, man müsse eben nur bereit sein, sie auch mit rechts zu machen.

Es handele sich hier geradezu um die Frage eines indirekten Staatsstreichs. Er fürchte, daß auch der Reichspräsident in dieser Frage in eine äußerst unangenehme Lage kommen und daß diese Frage im Vordergrund einer etwaigen Wahldebatte stehen würde. Bei einer Neuwahl würde das Bild im wesentlichen das gleiche bleiben; dann seien aber die Auflösenden blamiert. Die Demokraten würden bei dieser Gelegenheit zerrieben werden. Auf jeden Fall müsse der Wehrminister in seinem Amte bleiben. Die Demokraten müßten versprechen, mitzuarbeiten und nicht in Opposition zu gehen.

Geßler: Persönlich unterschreibe er Wort für Wort, was Minister Brauns ausgeführt habe. Es sei ihm doch zweifelhaft, ob die Demokraten in grundsätzliche Opposition treten würden. Daß aber demokratische Minister im Kabinett blieben, wenn die Demokraten aus der Regierung ausschieden, scheine ihm kaum möglich. Es sei dann am besten, für das Wehrministerium die früher von ihm mehrfach vorgeschlagene Lösung zu finden.

Stresemann: Seines Erachtens läge eine größere außenpolitische Belastung in einem Nichteintritt der Deutschnationalen als in ihrem Eintritt. Denn sie würden dann die schroffste Opposition machen. Er empfehle, die Auflösung zu vermeiden, da sonst im Wahlkampf schwarz-weiß-rot gegen schwarz-rot-gold stehen würde. Hierdurch würde Deutschland auf 10 Jahre zerrissen werden. Primär sei er der Ansicht, dieses Kabinett müsse bleiben. Sei das nicht möglich, dann müsse es mit rechts gemacht werden. Blieben die Demokraten draußen, so würde sich der Katzenjammer bei ihnen schon nach 14 Tagen einstellen.

Der Reichskanzler Er halte die Lage nur für haltbar, wenn die Demokraten im Kabinett blieben. Eine wohlwollende Neutralität könne nichts nützen. Gingen sie heraus, so sei die Auflösung unvermeidbar.

Luther: Die Demokraten hätten keine Plattform für eine Neuwahl. Außenpolitisch sei es das beste, die Regierung bliebe mit dem Reichskanzler Marx. Jetzt gebe es aber nur zwei Möglichkeiten: entweder die Auflösung oder eine unbequeme Umbildung der Regierung. Die Auflösung würde im Ausland als Beweis angesehen werden, daß Deutschland nicht in Ordnung komme; kämen dagegen die Deutschnationalen ins Kabinett, so würde dies im Ausland zwar nicht begrüßt, wohl aber getragen werden. Natürlich würde die Lage verschlechtert, wenn die Demokraten ausschieden. Aber bliebe das Kabinett ein Kabinett Marx, so würden keine ernsten außenpolitischen Gefahren entstehen.

Der Reichskanzler Er könne nicht mit dem alten Kabinett vor den Reichstag[1114] treten, um zu versuchen, ob er so durchkomme. Er halte es für ein Theater, so vorzugehen. Im übrigen sei seine Aufgabe erfüllt.

Graf v. Kanitz: Er befürchte bei einer Auflösung eine gefährliche innenpolitische Entwicklung, weil die Deutschnationalen, die für die Sachverständigengesetze gestimmt hätten, dann Unrecht bekämen. Die Deutschnationalen würden bei einer Auflösung radikal nach rechts gehen und den Weg zu den Völkischen finden. Er warne dringend vor einer Auflösung.

Hamm: Die Gefahren der Auflösung seien klar. Es würden Klassenkampfwahlen werden. Es frage sich also, ob man das Steuer nicht herumwerfen und die Auflösung vermeiden könne. Vielleicht sei es nicht nötig, eine Umbildung jetzt vorzunehmen, man sei auch bisher mit einer Minderheitsregierung ausgekommen. Die Regierung müsse versuchen, vor den Reichstag zu treten, darzulegen, was sie getan habe und abwarten, wer sie stürzen wolle.

Sei die Möglichkeit solchen Vorgehens nicht gegeben, so müsse mit der Rechten gegangen werden. Wenn eine kluge Personenwahl erfolge, so würden die Demokraten sich in den meisten Fragen nicht weit von der Regierung trennen.

Der Reichskanzler Das Fortbestehen der jetzigen Regierung scheide unter allen Umständen aus.

Stresemann: Er teile Hamms Optimismus nicht. Die Regierung würde zweifellos gestürzt werden, wenn sie vor den Reichstag trete. Die Schonzeit sei vorbei. Die Gefahren der Deutschnationalen im Kabinett würden stark überschätzt. Es sei ausgeschlossen, daß sie die anderen Parteien im Kabinett überrennen könnten. Ein Eintritt der Deutschnationalen würde zu einer Krise der Partei und damit zu ihrer Gesundung führen. Dieser Prozeß sei im Interesse des Staates zu fördern.

Zunächst müsse jetzt abgewartet werden, was die Demokraten sagten. Erempfehle, daß Minister Luther und Brauns vorher mit ihnen sprächen.

Das Kabinett beauftragt die Minister Luther und Brauns, mit den Demokraten zu sprechen, damit sie möglichst im Kabinett blieben oder wenigstens ihre Minister darin ließen2.

2

Am 15. 10. nachmittags faßt die DDP-Faktion mit Mehrheit folgenden Beschluß: „Die demokratische Fraktion hält daran fest, daß die gegenwärtige Krise ohne Not heraufbeschworen ist und daß die schwerwiegenden Gründe der Außenpolitik ein Beibehalten der jetzigen Regierung erfordern. Die Regierung hat die Pflicht, sich vom RT die Zustimmung für die Fortführung der bisherigen Außen- und Innenpolitik geben zu lassen, und darf erst abtreten, falls wider Erwarten der RT sie dazu zwingt. Entsprechend ihren bisherigen Entschlüssen vermag die Fraktion eine einseitige Erweiterung der Regierung nach rechts nicht mit ihrer Verantwortung zu decken.“ (DAZ Nr. 488 vom 16. 10.).

Zur Fortsetzung der Besprechung über die Regierungsbildung s. Dok. Nr. 333.

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