1.142 (str2p): Nr. 256 Der Vertreter der Reichsregierung in München an die Reichskanzlei. 14. November 1923

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RTF

Nr. 256
Der Vertreter der Reichsregierung in München an die Reichskanzlei. 14. November 1923

R 43 I /2218 , Bl. 338–3421

1

Neben der Verfügung Kempners, das Schreiben über den StSRkei an den RK zu geben und Abschriften an den RPräs., das AA, den RIM und RWeM zu senden, trägt das Schreiben die Paraphe des späteren RK Marx.

Inhalt: Zur Lage in Bayern nach dem Hitler-Putsch.

Vertraulich!

Allmählich beginnt sich die Stimmung hier wieder zu beruhigen und die Stadt hat so ziemlich ihr gewöhnliches Aussehen angenommen2. Auch die fanatischen Anhänger Hitlers, meistens Studenten und sonstige junge Leute gleichen Alters, soweit sie nicht wegen Beteiligung an dem Putsch geflohen sind, treten in der Öffentlichkeit nicht mehr in der aggressiven Weise hervor wie in den letzten Tagen. Universität und Infanterieschule sind geschlossen3. Auch die Bestattung der Opfer der Straßenkämpfe ist ohne Zwischenfall vor sich gegangen, ernstere Ruhestörungen sind nicht mehr zu befürchten. Durch die Verhaftung Hitlers ist der Bewegung der Führer genommen. Keiner seiner Unterführer ist imstande, ihn zu ersetzen. Allerdings scheint Ehrhardt, der bisher ein Gegner Hitlers war, wie ich an anderer Stelle ausführte, einen Teil von dessen Erbschaft antreten zu wollen4.

2

Zwei Tage später schrieb v. Haniel, in München sei „lediglich eine äußere Beruhigung, aber noch keine Klärung“ eingetreten (R 43 I /2218 , Bl. 347).

3

In einem nicht gezeichneten und undatierten Bericht über die Ereignisse in München um den 9.11.23, der auch MinDir. Meissner vorgelegen hat, wurde berichtet: „Die Infanterie-Schule ist geschlossen für Ludendorff. Ob das Gerücht den Tatsachen entspricht, wonach Ludendorff die Infanterie-Schule in der Nacht telephonisch zu sich beordert hätte, worauf die Fähnriche ohne Führer zu ihm marschieren wollten, habe ich nicht mit Sicherheit feststellen können. Tatsache ist, daß die Infanterie-Schule am 11. November geschlossen worden ist. Die Fähnriche scheinen zu ihrem Regiment zurückgeschickt worden zu sein“ (R 43 I /2218 , Bl. 318 bis 319).

4

Am 16. 11. meldete Haniel auf Grund eines Gesprächs mit Knilling, Ehrhardt habe sich Kahr angeschlossen. „Jedoch bleibt Kapitän E. das dunkelste Pferd im Rennen. Herr von Knilling, dem ich Vorstellungen wegen des ungehinderten öffentlichen Auftretens E. machte, gab zu, daß ihm dieses Treiben äußerst unbequem, ja bedenklich sei und daß er dieserhalb bereits mit Herrn von Kahr gesprochen habe. Normalerweise – so meinte er – sollte auch in den rechtsradikalen Kreisen darauf gedrungen werden, daß eine politisch hervortretende Persönlichkeit wie E. sich zunächst von der Anklage eines gemeinen Verbrechens [Rathenaumord] reinige. Wenn er sich indessen nicht freiwillig stelle, so sei es für die Regierung gänzlich ausgeschlossen, ihn etwa verhaften und nach Leipzig abtransportieren zu lassen. Für die öffentliche Meinung würde dies die ‚Auslieferung eines Nationalheros an die Tscheka‘ darstellen“ (R 43 I /2218 , Bl. 347). S. a. Dok. Nr. 268, P. 2.

[1077] Was die hiesigen führenden Persönlichkeiten betrifft, so wird mir von zuverlässiger Seite bezüglich des Herrn von Lossow versichert, daß zwar ein Teil der jüngeren Offiziere – vor allem natürlich diejenigen, die selber mit Hitler sympathisieren – ihm sein Verhalten im Bürgerbräukeller zum Vorwurf machten5. Die höheren Offiziere stünden jedoch durchaus auf seiner Seite und hielten mehr wie je sein Verbleiben in seiner Stellung für notwendig. Man hofft in diesen Kreisen, daß die Niederschlagung des Hitlerputsches, die ihm im wesentlichen zu verdanken sei, auch die Spannung zwischen ihm und den maßgebenden Berliner militärischen Persönlichkeiten verringert habe.

5

In dem in Anm. 3 zitierten Bericht ist von einem Ehrengerichtsverfahren gegen v. Lossow die Rede. Einzelheiten wurden nicht ermittelt. (R 43 I /2218 , Bl. 319).

Über Ludendorff höre ich aus bester militärischer Quelle, daß er bereits am Mittag des 8. November die Fähnriche der Infanterieschule durch seinen Stiefsohn zu einer Besprechung auf abends ½9 Uhr bestellt habe. Aus dieser und anderen Tatsachen gehe unzweideutig hervor, daß er von Hitlers Putschplan gewußt habe. Die Infanterieschüler seien lediglich durch das Ansehen Ludendorffs verführt worden, an der Bewegung teilzunehmen6.

6

S. o. Anm. 3.

Mit Herrn von Knilling hatte ich eine längere Unterredung, in der er sich in vertraulicher, rückhaltloser Weise mir gegenüber aussprach. Er gab mir eine eingehende Schilderung seiner persönlichen Erlebnisse und beklagte sich darüber, daß, obwohl sein Aufenthaltsort bekannt gewesen sei, Herr von Kahr während des ganzen Freitag keine Schritte zu seiner und der übrigen Minister Befreiung unternommen habe. Über die Vorgänge im Bürgerbräukeller äußerte Herr von Knilling: Unzweifelhaft seien Kahr und Lossow, ebenso wie er selbst, von dem Putsch vollkommen überrascht worden, der Nachrichtendienst habe gänzlich versagt. Er wisse ferner aus gleichzeitigen Äußerungen, daß sowohl Herr von Kahr wie Herr von Lossow von vorneherein Hitler bewußt eine Komödie vorgespielt und nicht etwa nachträglich ihre Ansicht geändert hätten. Allerdings sei Kahr im Schauspielern reichlich weit gegangen. Die mit Hitler gewechselten Händedrücke, sowie die Erklärung, in die er auch noch unnötigerweise die Monarchie hineingezogen habe, seien wohl kaum notwendig gewesen. Er, Knilling, würde überhaupt eine derartige Komödie nicht mitgemacht haben. Offenbar hätten Kahr und Lossow ihre persönliche Bedeutung für die Bekämpfung des Putsches überschätzt. Denn auch ohne ihr Zutun würde der Putsch niedergeschlagen worden sein. Die betreffenden nächstältesten Kommandeure hätten bereits alle notwendigen Befehle erteilt und die Truppen fest in der Hand gehabt7.

7

S. hierzu Dok. Nr. 248.

Das Ansehen Kahrs, das schon vorher durch seine wirtschaftlichen Maßnahmen gelitten hätte, habe durch diese letzten Vorgänge einen unheilbaren Stoß erfahren. Er dürfe sich wegen der Gefahr eines Attentates nicht mehr auf der Straße zeigen, sei übrigens auch mit den Nerven zusammengebrochen. Er,[1078] der Ministerpräsident, habe daher im Ministerrat Herrn von Kahrs Rücktritt gefordert, sei aber leider in dieser Forderung nur von zweien seiner Kollegen unterstützt worden. Doch habe er Herrn von Kahr vor dem Kabinett ausdrückliche Zusicherungen über sein weiteres Verhalten abgefordert, u. a., daß er nicht nach diktatorischer Gewalt strebe, daß er sich nicht in die Beziehungen zwischen Bayern und dem Reiche mischen werde, daß die Truppen und die Polizei auch zur Verfügung der Regierung ständen usw. Kahr habe auch mit äußerlicher Bereitwilligkeit diese Erklärungen abgegeben8.

8

S. hierzu E. Deuerlein, Der Hitlerputsch, Dok. Nr. 115.

Auf meine Frage, warum Herr von Knilling nicht selber das Generalstaatskommissariat übernähme, erklärte er mir, daß seine Nerven einer solchen Aufgabe nicht mehr gewachsen seien. Die letzten acht Wochen hätten ihn zu stark mitgenommen. Noch gestern sei er entschlossen gewesen, überhaupt zurückzutreten und habe sich nur durch die dringenden Vorstellungen seiner Parteifreunde schweren Herzens bewegen lassen, wenigstens für einige Zeit noch am „Marterpfahl“ zu bleiben. Abgesehen von seinem Verhältnis zu Herrn von Kahr stehe er auch in schärfstem Gegensatz zu zweien seiner Kabinettsmitglieder (Schweyer und Wutzelhofer). Er habe diesen vor versammeltem Ministerrat erklärt, daß ihr Verbleiben im Kabinett „unerträglich“ sei. Wutzelhofer sei auch nicht abgeneigt gewesen, daraus die Konsequenzen zu ziehen, während Schweyer sich direkt geweigert habe, sein Portefeuille abzugeben9. Ich könne mir denken, welche Selbstüberwindung es unter diesen Umständen für ihn bedeute, die Ministerpräsidentschaft beizubehalten. Was ihn schließlich zu bleiben veranlaßt habe, sei die Überzeugung, daß sein Kabinett das letzte verfassungsmäßige in Bayern sein werde. Da die Mittelpartei10 erklärt habe, sie würde sich unter einem neuen Kabinett nicht mehr an der Koalition beteiligen, würde kein Kabinett mehr eine genügend starke Koalition zusammenbringen. Unter diesen Umständen wolle er nicht das Odium auf sich laden, durch seine Fahnenflucht das Chaos herbeigeführt zu haben.

9

S. E. Deuerlein, Der Hitlerputsch, Dok. Nr. 105.

10

Name der DNVP in Bayern.

Die Auffassung Herrn von Knillings über die innerpolitische Lage dürfte im allgemeinen zutreffend sein, wenn auch seine Ansicht über das Stärkeverhältnis zwischen den einzelnen Persönlichkeiten individuell beeinflußt sein mag. Vielleicht ist nämlich die Stellung Herrn von Kahrs, insbesondere außerhalb Münchens, doch nicht so unheilbar geschwächt, wie Herr von Knilling annimmt. Jedenfalls hat Herr von Kahr verstanden, die Presse auf seine Seite zu bringen, die fortgesetzt Huldigungsadressen an ihn veröffentlicht. Ebenso dürfte Herr von Knilling den Einfluß Herrn Schweyers, insbesondere innerhalb der bayerischen Volkspartei, unterschätzen. Richtig aber ist wohl, daß Herr von Knilling als Ministerpräsident zur Zeit unersetzbar ist und sein Rücktritt eine so verworrene innere Lage schaffen würde, daß nur die Diktatur als Ausweg erschiene.

Die Ereignisse der letzten Tage haben auch insofern die Politik Herrn von Knillings gerechtfertigt, als er die von den Rechtsradikalen drohenden Gefahren[1079] richtig einschätzte und durch die Ernennung Herrn von Kahrs verhinderte, daß die hinter diesem stehenden Organisationen sich der rechtsradikalen Bewegung bedingungslos anschlossen. Allerdings wirft Herr von Knilling Herrn von Kahr vor, daß er bei den hoffnungsvollen Versuchen, Hitler für sich zu gewinnen, diesen habe zu groß werden lassen.

Bei den Gegensätzen zwischen Knilling und Kahr sowie innerhalb des Kabinetts und bei der starken Amtsmüdigkeit Knillings kann es sich nur um die Aufrechterhaltung eines labilen Gleichgewichts handeln, dem eine längere Dauer nicht zu prophezeien ist. Immerhin ist für die nächste Zeit damit zu rechnen, daß Kahr und Knilling auf ihren Posten verbleiben werden.

Haniel

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