1.1 (wir1p): I Die beiden Kabinette Wirth

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Die Kabinette Wirth I und II (1921/22). Band 1Bild 146III-105Bild 183-L40010Plak 002-009-026Plak 002-006-067

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I Die beiden Kabinette Wirth

1. Regierungsbildung

Am Abend des 4. Mai 1921 hatte die Regierung Fehrenbach ihre Demission bekanntgegeben: das am 5. Mai 1921 durch die Ententemächte übermittelte Londoner Ultimatum2 erreichte eine zurückgetretene, nur noch die Geschäfte wahrnehmende Regierung, während im übrigen Reichspräsident, Parlament und Parteien um die Neubildung der Regierung, d. h. um eine tragfähige parlamentarische Mehrheit rangen. Zwar hätte grundsätzlich auch die geschäftsführende alte Regierung das Ultimatum beantworten können – und diese Möglichkeit tauchte während der schwierigen Verhandlungen um die Neubildung der Regierung immer wieder auf –, sie wurde indessen mehreren Quellen zufolge durch die entschlossene Haltung Eberts, der offenbar damit gedroht hatte, für diesen Fall sein Amt niederzulegen, nicht verwirklicht3 .

2

Siehe dazu Fehrenbach Dok. Nr. 247 ff.

3

Siehe Aufzeichnung ten Hompels vom 10.5.1921. Nachlaß ten Hompel /16, und übereinstimmend Tagebucheintragung Koch-Wesers vom 10.5.1921, 10.30 Uhr, Nachlaß Koch-Weser/28.

Als „Londoner Ultimatum“, für dessen Beantwortung es also eine Regierung zu finden galt, bezeichnete man in der politischen Diskussion wie in den Akten alsbald die Alliierten Erklärungen vom 5. Mai, die aus drei inhaltlich zusammenhängenden Teilen, nämlich der Mantelnote, dem Zahlungsplan und dem Londoner Protokoll bestanden4.

4

Zum Textabdruck siehe Dok. Nr. 3, Anm. 1.

[XX] In der Mantelnote forderten die Alliierten, die deutsche Regierung solle innerhalb von sechs Tagen ohne Vorbehalt und Bedingung („without reserve or condition“) 1. die im Zahlungsplan als Reparationsschuld festgesetzte Summe anerkennen, 2. den Zahlungsplan akzeptieren, 3. die im Versailler Vertrag festgesetzte Entwaffnung pünktlich durchführen und 4. die Aburteilung der deutschen Kriegsverbrecher vor deutschen Gerichten einleiten. Für den Fall, daß Deutschland bis zum 11. Mai 1921 diesen Forderungen nicht zustimme, sollten die gegen das Reich bereits im Anschluß an die Londoner Konferenz verhängten Sanktionen (Besetzung der Städte Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort sowie wirtschaftliche Sanktionen durch Erheben einer Ausfuhrabgabe) durch die Besetzung des Ruhrgebietes ausgedehnt werden.

Der Londoner Zahlungsplan vom 5. Mai 1921 sollte in zwölf Artikeln die gesamte Zahlungsverpflichtung Deutschlands nach den Artikeln 231, 232 und 233 des Versailler Vertrages sicherstellen; er ging von einer Gesamtschuld in Höhe von 132 Milliarden Goldmark aus. In dieser Höhe sollte die deutsche Regierung Schuldverschreibungen in drei Serien ausgeben, von denen zwei vom Jahre 1921 an verzinst und amortisiert werden sollten, die dritte Serie erst dann, wenn die gesamten deutschen Reparationsleistungen einen jährlichen Betrag ergäben, der über die Verpflichtungen dieser Schuldverschreibungen der ersten beiden Serien hinausgingen. Als jährliche Belastung sah der Plan 1. eine Barleistung in feststehender Höhe von 2 Milliarden Goldmark sowie 2. eine in der variablen Höhe von 26% des Wertes der deutschen Ausfuhr vor5. Nach 25 Tagen sollte die erste Milliarde fällig werden. Zur Durchführung und Sicherstellung des Planes sollte im übrigen ein Garantiekomitee als Unterkommission der Reparationskommission zu bilden sein, dem die deutsche Regierung alle für diese Tätigkeit notwendigen Informationen zu geben hatte. Auf Verlangen einer alliierten Macht sollte Deutschland außerdem durch Sachlieferungen und gegebenenfalls Arbeitskräfteeinsatz den Wiederaufbau zerstörter Gebiete fördern. Das Londoner Protokoll, das zwei Artikel des Versailler Vertrages modifizierte, braucht hier nicht weiter zu interessieren. Die Vorgänge, die zur Bildung der Regierung Wirth führten, haben naturgemäß keinen Niederschlag in den Akten der Reichskanzlei hinterlassen; zur Rekonstruktion der Ereignisse ist daher ein Exkurs in die Tagespresse, in Partei- und Fraktionsakten und in private Aufzeichnungen oder Memoiren einzelner Verhandlungsteilnehmer vonnöten6.

5

Einzelheiten dazu siehe Dok. Nr. 3, Anm. 3 und Anm. 6.

6

Der folgende kurze Abriß basiert hauptsächlich auf den Meldungen der DAZ des in Frage kommenden Zeitraums und auf Aufzeichnungen aus den Nachlässen ten Hompel und Koch-Weser und den Protokollen der Zentrumsfraktion aus den Handakten Leo Weismantels [Kl.Erw. 476].

Hatte die Deutsche Allgemeine Zeitung noch am 5. Mai „aus parlamentarischen Kreisen“ erfahren, „daß das Kabinett auf derselben politischen Grundlage, wie das bisherige gebildet werden wird, das heißt durch die bisherigen Koalitionsparteien Zentrum, Demokratie und Deutsche Volkspartei“, so mußte sie zwei Tage später mitteilen, daß sich diese Erwartungen nicht erfüllt hätten,[XXI] weil die Fraktionen sich darüber einig geworden seien, daß zunächst einmal ihre Haltung zum Ultimatum der Entente geklärt werden müsse7.

7

DAZ Nr. 208 vom 5.5.1921 und DAZ Nr. 210 vom 7.5.1921.

Die Stellungnahme aller Parteien zum Ultimatum lag erst am 10. Mai endgültig vor, nachdem einige Fraktionen sich schon am 9. Mai entschieden hatten. Zu diesem Termin traten auch die Verhandlungen um die Regierungsbildung in ihre entscheidende Phase. Für die Annahme des Ultimatums hatten sich USPD, MSPD und Zentrum erklärt, die DDP hatte ihren Abgeordneten das Votum im Reichstag freistellen müssen, da die ablehnende Haltung der Fraktion auf einem nur knappen Mehrheitsverhältnis beruhte (16:15 Stimmen)8. Die stärkste Fraktion des Reichstages, die MSPD hatte daraufhin die Regierungsbereitschaft der USPD eruiert. Da die USPD jedoch nicht bereit war, mit dem Zentrum zusammen eine Koalition zu bilden, sondern allenfalls eine rein sozialistische Minderheitsregierung anstrebte, bemühte sich nun zunächst das Zentrum, eine breitere Mehrheit von der DVP bis einschließlich der MSPD für die Regierungskoalition zu gewinnen9. Mit ihrem Votum vom 10.5.21 gegen das Ultimatum schied die DVP als möglicher Koalitionspartner aus, obwohl es auch in der DVP Kräfte gab, die die Annahme des Ultimatums befürwortet hatten10. Nach Tagen der Spekulationen war mit dieser Entscheidung klar, daß der Kanzlerkandidat von MSPD oder Zentrum gestellt werden würde. Im Gespräch waren die Namen Löbe und Bauer aus der MSPD11 – möglicherweise nur aus taktischen Gründen –, während im Zentrum Adenauer und Wirth genannt wurden, nachdem man auch schon die Namen Stegerwald und Hermes gehört hatte12. Die Bereitwilligkeit zur Regierungsübernahme scheint im Zentrum von vornherein vorhanden gewesen zu sein, während die Sozialdemokratie, die sich nur unter dem Druck der angedrohten Sanktionen für die Annahme des Ultimatums hatte entscheiden können, sich nur zögernd zum Eintritt in die Regierung bewegen ließ13.

8

Aufzeichnung Koch-Wesers vom 9.5.1921, Nachlaß Koch -Weser/28.

9

DAZ Nr. 215 vom 10.5.1921. Zum Ereignis der Reichstagswahl siehe auch „Das Kabinett Fehrenbach“, S. VIII f..

10

Zu einer offenbar angestrebten Kanzlerkandidatur Stresemanns siehe dessen Tagebucheintragung vom 13.5.1921 in Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 20.

11

DAZ Nr. 214 vom 10.5.1921 und Aufzeichnung Koch-Wesers vom 13.5.1921, Nachlaß Koch -Weser/28.

12

Siehe Aufzeichnung ten Hompels über die Vorstandssitzung vom 9. 5. und 10.5.1921, Nachlaß ten Hompel /16, und Protokoll der Fraktionssitzung des Zentrums vom 10.5.1921, Kl.Erw. 476/1.

13

Siehe dazu die Erklärung des Abg. Wels am 10.5.1921 im Reichstag, RT-Bd. 349, S. 3630  und u. a. Keil, Erinnerungen, S. 232 f.

Die Ereignisse innerhalb der Zentrumsfraktion, die letztlich zur Kandidatur Wirths geführt haben, stellt der Zentrumsabgeordnete ten Hompel in seiner Aufzeichnung vom 10.5.21 dar: In der Vorstandssitzung vom 10.5.21 habe zunächst Adenauer sich bereit erklärt, für das Kanzleramt unter vier Bedingungen zu kandidieren: „1. Die Parteien müßten seinem Steuerprogramm, vor allem den indirekten Steuern zustimmen unter Aufhebung der Novelle zum Einkommensteuergesetz. – 2. Es dürfe in nächster Zeit nicht sozialisiert[XXII] werden. – 3. Die neunte Arbeitsstunde müsse eingeführt werden. – 4. Er müsse sich seine Minister unabhängig von den Parteien wählen und später eventuell wechseln können.“ Diese Bedingungen seien nicht als verklausulierte Ablehnung gestellt, sondern seien Grundlage für den ernsten Versuch, das Reparationsproblem zu lösen. In der anschließenden Diskussion wurde die Kandidatur Adenauers fallengelassen, später soll der Parteivorsitzende Trimborn sogar geäußert haben, man habe die Kandidatur Adenauers gar nicht erst mit Ebert erörtert. Wirth war in der Diskussion vor allem von ten Hompel und Stegerwald mit dem Argument bekämpft worden, seine Person werde einer künftigen Verbreiterung der geplanten Weimarer Koalition zur DVP hin im Wege stehen. Als er jedoch offenbar verspätet in der Sitzung erschien, habe er das Einverständnis des Reichspräsidenten bereits besessen14.

14

Nachlaß ten Hompel /16, weniger detailliert auch Kl.Erw. 476/1.

Am Abend des 10. Mai 1921 konnte Wirth dem Reichstag ein neues, wenn auch noch nicht ganz vollständiges Kabinett vorstellen15 und mit einer kurzen Regierungserklärung, in der er unter dem Druck der angedrohten Sanktionen für die Annahme des Ultimatums eintrat und damit zur Rettung der Einheit des Reiches auf den Weg der Erfüllungspolitik wies, die Abstimmung hierüber einleiten.

15

Das AA, das RMinWiederaufbau blieben vorläufig unbesetzt, das RFMin. sollte bis zur endgültigen Besetzung vom Kanzler geführt werden.

Das Ultimatum wurde mit 220 gegen 172 Stimmen bei einer Stimme Enthaltung angenommen16. Noch in der Nacht zum 11. Mai ging die folgende, von Wirth unterzeichnete Note zur Übermittlung an die Deutschen Botschaften von London, Paris, Rom, Brüssel und Tokio: „Auf Grund des Beschlusses des Reichstages bin ich beauftragt, mit Beziehung auf die Entschließung der alliierten Mächte vom 5. Mai 1921 namens der neuen Deutschen Regierung Folgendes, wie verlangt, zu erklären: Die Deutsche Regierung ist entschlossen:

16

Ergebnis der namentlichen Abstimmung siehe RT-Bd. 349, S. 3654 .

1. Ohne Vorbehalt oder Bedingung ihre Verpflichtungen, wie sie von der Reparationskommission festgestellt sind, zu erfüllen;

2. ohne Vorbehalt oder Bedingung die von der Reparationskommission hinsichtlich dieser Verpflichtungen vorgeschriebenen Garantiemaßnahmen anzunehmen und zu verwirklichen;

3. ohne Vorbehalt oder Verzug die Maßnahmen zur Abrüstung zu Land und zu Wasser und in der Luft auszuführen, die ihr in der Note der alliierten Mächte vom 29. Januar 1921 notifiziert worden sind, wobei die rückständigen sofort und die übrigen zu den vorgeschriebenen Zeiten auszuführen sind;

4. ohne Vorbehalt oder Verzug die Aburteilung der Kriegsbeschuldigten durchzuführen und die übrigen unerfüllten, im ersten Teile der Note der alliierten Regierungen vom 5. Mai erwähnten Vertragsbestimmungen auszuführen. – Ich bitte die alliierten Mächte von dieser Note unverzüglich in Kenntnis zu setzen17.“

17

Siehe DAZ Nr. 217 vom 11.5.1921.

Die Regierung, die sich auf dieses Programm der Erfüllungspolitik festgelegt hatte, verfügte im Reichstag zwar über keine Mehrheit – von insgesamt 459[XXIII] Abgeordneten gehörten 206 der Koalition an –18, doch konnte sie auf der einen Seite bis zu einem gewissen Grade mit einer Tolerierung der Reparationspolitik durch die USPD rechnen, auf der anderen Seite hatten die Verhandlungen mit der DVP und schließlich das Abstimmungsergebnis im Reichstag, bei dem einige DVP-Abgeordnete entgegen dem Parteibeschluß mit den Koalitionsparteien gestimmt hatten, auch hier begrenzte Möglichkeiten der Kooperation offen gelassen.

18

Zentrum: 64, DDP: 39 und SPD: 103.

2. Kabinettsmitglieder

Als Wirth im Alter von nur 42 Jahren das Amt des Reichskanzlers übernahm, konnte er bereits auf eine politische Laufbahn zurückblicken, die ihn in hohe Ämter geführt hatte. Er war 1879 in Freiburg i. Br. als Sohn eines Maschinenmeisters des Herder-Verlages geboren und hatte nach seiner Schulzeit Mathematik und Nationalökonomie studiert. Nach der Promotion im Jahre 1905 trat er in den badischen Schuldienst ein. 1911 begann er seine politische Laufbahn als Stadtverordneter des Zentrums in Freiburg, 1913 wurde er in den badischen Landtag, 1914 über den Wahlkreis Offenburg in den Reichstag gewählt. Im Krieg arbeitete er im Lazarettdienst des Roten Kreuzes. Im November 1918 betrat er endgültig die politische Bühne, als er in der vorläufigen badischen Volksregierung das Amt des Finanzministers neben seinem Mandat in der deutschen Nationalversammlung übernahm. Im März 1920 berief ihn Hermann Müller als Nachfolger Erzbergers ins Reichsfinanzministerium, wo er auch unter Fehrenbach verblieb19.

19

Zur Biographie Wirths siehe auch Kabinett Fehrenbach, S. XXVII. Eine abschließende Biographie Wirths fehlt bisher, Memoiren hat er nicht veröffentlicht und sein privater Nachlaß ist der Forschung bisher nicht zugänglich. Ob im Nachlaß allerdings die Weimarer Zeit, abgesehen von nachträglichen Aufzeichnungen, noch dokumentiert ist, scheint unsicher, da Wirths Berliner Wohnung während seiner Emigration von der Gestapo zeitweise beschlagnahmt war.

Dem neuen Reichskanzler ging „auf der Linken ein guter Ruf voraus“20: mit der SPD hatte er in der badischen Volksregierung zusammengearbeitet, bis er von dem Sozialdemokraten Hermann Müller in das Reichsamt gerufen wurde. Aber die Sympathien, die Wirth links genoß, schwächten zugleich seine Stellung in seiner eigenen Partei und erschwerten ihm in der Regierungsarbeit jede Verbreiterung der Koalition nach Rechts21.

20

Stampfer, Die vierzehn Jahre, S. 217.

21

Die Beteiligung der DVP an der Regierungsbildung scheiterte offenbar auch an der Person Wirths, siehe Tagebucheintragung Stresemanns vom 22.10.1921 in Stresemann, Vermächtnis, S. 21.

In den Memoiren seiner Zeitgenossen ist das Spektrum der Charakterisierungen Wirths und seines Arbeitsstils infolgedessen breit22.

22

Exemplarisch sei hier auf folgende Belegstellen hingewiesen: auf die Memoiren der von ihm berufenen Minister Geßler, Reichswehrpolitik; Radbruch, Innerer Weg; Rosen, Wanderleben, Bd III/IV; Schiffer, Liberalismus, auf Arnold Brecht, Aus nächster Nähe, S. 343 f., der ihn von der Arbeit in der Reichskanzlei her beurteilt, auf die umfangreiche Studie von H. Köhler, Lebenserinnerungen, S. 169 ff., der Wirth aus einer 1927 zerbrochenen persönlichen Freundschaft kennt, auf F. Stampfer, Die vierzehn Jahre, S. 264 f. und schließlich auf die Tagebucheintragungen H. Graf Keßlers vom 13.4.1922 und vom 25.6.1922.

[XXIV] Ob er jedoch als badischer Eigenbrödler, als Klerikaler oder als der „Rote Wirth“ in der Erinnerung gesehen wird, in einem sind sich die Beurteilenden einig: nämlich in der Hervorhebung des ungewöhnlichen Rednertalents, mit dem Wirth immer wieder beeindruckt habe23.

23

Wirth wurde mit Formulierungen wie „dieser Feind steht Rechts“ (RT Bd. 356, S. 8054  ff.) und „erst Brot, dann Reparationen“ (siehe Hemmer, Reden, S. 427 u. Dok. Nr. 362) als Redner populär, auch, wenn es sich – wie im Falle des „Der Feind steht rechts“ – nur um die Abwandlung eines Zitates handelte (siehe Scheidemann, Memoiren, Bd II, S. 387).

Der rednerischen Begabung entsprechend sah Wirth offenbar sein Betätigungsfeld weit stärker in der mündlichen Verhandlung als in bürokratischer Arbeit an seinem Kanzlerschreibtisch; das bezeugen nicht nur Zeitgenossen24, sondern diese persönliche Eigenart hat auch die Dokumente der vorgelegten Edition geprägt, die einen hohen Prozentsatz von Besprechungsprotokollen aller Art enthalten. Darüber hinaus weisen die Protokolle Wirth trotz ihrer in der Sache liegenden Wortkargheit zu Beginn der Regierungszeit als einen Mann aus, der mit Entschlossenheit und Initiative sein Amt führt, dessen Spannkraft jedoch gegen Ende der Regierungszeit zu erlahmen scheint.

24

Brecht, Aus nächster Nähe, S. 344; Stampfer, Die vierzehn Jahre, S. 218.

Die von Wirth in seine beiden Kabinette berufenen Minister wiesen in ihren Reihen kaum Neulinge auf: mit Ausnahme von Rathenau, Rosen und Gradnauer, sowie im zweiten Kabinett Radbruch und Fehr hatten alle anderen mindestens in einem Reichskabinett schon Ministerrang besessen.

Der Vizekanzler und Reichsschatzminister, Gustav Adolf Bauer (MSPD), hatte nicht nur vom 21.6.1919 bis 27.3.1920 zunächst als Reichsministerpräsident, dann als Reichskanzler ein Kabinett geführt, sondern er hatte auch schon unter Scheidemann das Reichsarbeitsministerium und – nach seinem eigenen Rücktritt als Kanzler anläßlich des Kapp-Putsches – unter Müller das Reichsschatzministerium innegehabt25. Bauer war 1870 geboren, seit 1908 als zweiter Vorsitzender der Generalkommission der Gewerkschaften tätig, 1912 wurde er als Abgeordneter in den Reichstag gewählt und erlangte schließlich in der Regierung des Prinzen Max von Baden das Amt des Staatssekretärs im neugegründeten Reichsarbeitsamt. Von hier aus berief ihn Scheidemann in die Ministerverantwortlichkeit. Über die Rolle Bauers im Kabinett Wirth wird an anderer Stelle noch zu sprechen sein26.

25

Siehe Kabinett Scheidemann, S. XXIX und Kabinett Müller I, S. XXI.

26

S. u. S. XXVIII f.

Die drei das Zentrum vertretenden Minister der Koalitionsregierung übernahm Wirth von seinem Vorgänger:

Andreas Hermes, 1878 in Köln geboren, hatte das Amt des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft inne, seit es unter Müller wieder aus dem Reichswirtschaftsministerium ausgegliedert worden war27. Der promovierte Diplomlandwirt war 1918 als Referent in das Reichswirtschaftsministerium eingetreten und in kürzester Zeit zum Ministerialdirektor aufgestiegen. Im zweiten Kabinett Wirth vollzog er einen Amtswechsel zum Reichsfinanzministerium:[XXV] zunächst war er neben seinem alten Amt mit der Wahrnehmung der Geschäfte dieses Ressorts beauftragt, im März 1922 wurde er endgültig damit betraut28.

27

Siehe auch Kabinette Müller I, S. XXI und Fehrenbach, S. XXX.

28

Siehe Dok. Nr. 217 u. 218; zu seiner Biographie siehe Fritz Reichardt, Andreas Hermes.

Der 1868 geborene Heinrich Brauns hatte unter Fehrenbach erstmals Ministerrang erlangt und wie unter Wirth das Reichsarbeitsministerium geführt, nachdem er zuvor langjährig als Direktor der Zentralstelle des Volksvereins für das katholische Deutschland tätig gewesen war. 1919 war er zunächst in die Nationalversammlung, danach in den Reichstag gewählt worden29.

29

Siehe auch Kabinett Fehrenbach, S. XXXI.

Johannes Giesberts, Reichspostminister seit dem Kabinett Scheidemann, blieb auch unter Wirth in diesem Amte30.

30

Siehe Kabinett Scheidemann, S. XXIX, Müller I, S. XX und Fehrenbach, S. XXXII.

Die MSPD stellte im ersten Kabinett Wirth außer dem bereits erwähnten Vizekanzler und Reichsschatzminister Bauer zwei weitere Minister:

Robert Schmidt, unter Scheidemann und Bauer Reichsminister für Ernährung und unter Müller für Wirtschaft31, sollte wieder das Wirtschaftsressort einnehmen. Er war 1864 geboren, gehörte seit 1893 dem Reichstag an und hatte sich im übrigen als Redakteur des „Vorwärts“ und als Gewerkschaftssekretär einen Namen gemacht.

31

Siehe Kabinett Scheidemann, S. XXIX und Müller I, S. XVII.

Auch Georg Gradnauer (geboren 1866), der nun das Innenministerium übernehmen sollte, war seit 1898 Redakteur beim „Vorwärts“ gewesen und hatte im gleichen Jahr sein Mandat im Reichstag erlangt. Er hatte sich seit 1918 auf Landesebene einen politischen Namen erworben: 1918 war er in Sachsen zunächst Arbeits-, seit Januar 1919 auch Innenminister und von März 1919 bis zu seinem Eintritt in das Kabinett Wirth sächsischer Ministerpräsident. Nach der Demission des Kabinetts Wirth I, also im Oktober 1921, wurde er sächsischer Gesandter in Berlin.

Sein Nachfolger im Kabinett Wirth II wurde der ebenfalls der MSPD angehörende, 1883 geborene Adolf Köster. Er war Privatdozent an der Technischen Hochschule in München gewesen, wurde nach der Novemberrevolution Referent in der Reichskanzlei, darauf preußischer Gesandter in Hamburg und Staatskommissar für die Abstimmung in Nordschleswig, bis Müller ihn zum Reichsminister des Äußeren in sein Kabinett berief32.

32

Siehe Kabinett Müller I, S. XVI.

Nach dem formellen Austritt der DDP aus der Koalition anläßlich der Demission Wirths im Oktober 1921 konnte die MSPD ein weiteres Ressort besetzen: Der Demokrat Eugen Schiffer räumte seinen Platz im Reichsjustizministerium für Gustav Radbruch. Radbruch war 1878 in Lübeck geboren, hatte sein Studium in München, Leipzig und Berlin 1903 mit seiner Habilitation in Heidelberg abgeschlossen und war danach zunächst nach Königsberg gegangen. Seit 1918 hatte er einen Lehrstuhl in Kiel, seit 1920 ein Mandat für die MSPD im Reichstag inne33.

33

Radbruch hat seine Memoiren unter dem Titel „Der innere Weg“ veröffentlicht.

Die Demokraten hatten im ersten Kabinett Wirth zunächst zwei Ministerien besetzt:

[XXVI] Otto Geßler, Reichswehrminister schon unter Müller und Fehrenbach, blieb in seinem Amt34. Geßler, 1875 in Ludwigsburg geboren, hatte sein Jurastudium 1898 mit der Promotion in Erlangen abgeschlossen. 1905 begann er seine Laufbahn als Gewerberichter in München, 1910 wurde er Bürgermeister von Regensburg, 1913 Oberbürgermeister von Nürnberg. Im Oktober 1919 wurde er als Leiter des Wiederaufbauministeriums nach Berlin berufen, wo er im März 1920 nach dem Kapp-Putsch Noske im Amt ablöste.

34

Siehe Kabinett Müller I, S. XVIII und Fehrenbach, S. XXVI.

Zum Reichsminister der Justiz ernannte Wirth in seinem ersten Kabinett Eugen Schiffer. Er war 1860 in Breslau geboren und hatte seine Laufbahn im preußischen Justizdienst begonnen; 1903 wurde er ins preußische Abgeordnetenhaus, 1912 in den Reichstag gewählt. Scheidemann berief ihn in das Reichsfinanzministerium35, nachdem er zuvor Unterstaatssekretär im Reichsschatzamt gewesen war. Nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages legte er sein Amt aber nieder, bis Bauer ihn als Reichsjustizminister und Vizekanzler wieder in die Ministerverantwortung zurückberief. Nach dem Rücktritt des ersten Kabinetts Wirth anläßlich der Entscheidung über Oberschlesien kehrte er wegen der grundsätzlichen Haltung seiner Partei nicht in das Ministerium zurück, sondern übernahm das dornenvolle Amt des deutschen Kommissars für die Wirtschaftsverhandlungen mit Polen in Genf36.

35

Siehe Kabinett Scheidemann, S. XXXI.

36

Schiffers Memoiren sind unter dem Titel „Ein Leben dem Liberalismus“ erschienen; sein privater Nachlaß wird im Bundesarchiv (früher im Geheimen Staatsarchiv Berlin) verwahrt.

Schließlich hatte Wirth den parteilosen Wilhelm Groener, Reichsverkehrsminister auch unter Fehrenbach, in diesem Amt belassen. Groener, 1867 in Ludwigsburg geboren, war aus der Offizierslaufbahn hervorgegangen. 1914– 1916 war er Chef des Feldeisenbahnwesens und darauf bis 1917 Vorstand des Kriegsernährungsamtes gewesen. 1918 wurde er Nachfolger Ludendorffs als Generalquartiermeister37.

37

Siehe Kabinett Fehrenbach, S. XXXI, Wilh. Groener, Lebenserinnerungen, die allerdings nur bis 1919 reichen, und Dorothea Groener-Geyer: General Groener.

Für das Auswärtige Amt und das Wiederaufbauministerium – das letztere war unter Fehrenbach nicht besetzt gewesen – hatte Wirth noch niemanden nominiert, als er dem Reichstag am 10.5.1921 sein Kabinett vorstellte.

Am 23.5.1921 wurde das Auswärtige Amt mit dem Karrierediplomaten Friedrich Rosen besetzt, der am 27.5.1921 erstmals an einer Kabinettssitzung teilnahm38. Der parteilose Rosen war 1865 geboren und bis zu seinem Eintritt in den Auswärtigen Dienst im Jahre 1890 Dozent für Persisch und Hindustanisch in Berlin gewesen. 1905 wurde er zum Gesandten in Tanger, 1910 in Bukarest, 1912 in Lissabon und schließlich 1916 in Den Haag ernannt. Neben seiner Diplomatentätigkeit war er stets auch Gelehrter geblieben.

38

Dok. Nr. 16; im übrigen siehe Friedrich Rosen, Aus einem diplomatischen Wanderleben, Bd III/IV.

Wenige Tage später, am 29.5.1921, entschloß sich nach längerem Zögern39 der Großindustrielle Walther Rathenau, das Amt des Wiederaufbauministers[XXVII] zu übernehmen. Über Rathenau und über sein Verhältnis zu Wirth ist bereits so viel gesagt und geschrieben worden, daß es müßig erscheint, hier mehr als die äußeren Lebensdaten wiederzugeben. Er war 1867 als Sohn des Begründers der AEG geboren worden, seit 1899 selbst Vorstandsmitglied dieser Gesellschaft, deren Präsident er 1915 wurde; in der Folgezeit hatte er zunehmend auch andere Posten in Wirtschaft und Industrie inne. Wichtig für seine politische Laufbahn war die Organisation der Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium, mit der er 1914 betraut wurde. 1920 wirkte er u. a. als Mitglied in der Sozialisierungskommission. Mit dem um zwölf Jahre jüngeren Wirth hat er offenbar schon vor dessen Kanzlerzeit in persönlichem Kontakt gestanden40. Nach der Demission des ersten Kabinetts Wirth hat Rathenau sich zunächst aus der Regierungsverantwortung, nicht aber aus der Reichspolitik zurückgezogen. Er nutzte seine Beziehungen zu England und Frankreich und bereitete zunächst als Privatmann die Konferenz von Cannes vor, worüber er mehrfach dem Kabinett berichtete41. Am 1.2.1922 übernahm er das Auswärtige Amt, das er bis zu seiner Ermordung am 24. 6. 1922 innehatte. Wie Rosen hat auch er dem Reichstag nicht angehört.

39

Siehe dazu Dok. Nr. 18, Anm. 1, sowie verschiedene Briefe Rathenaus, etwa den an seine Mutter vom 27.5.1921 und vom 1.6.1921 (Rathenau in Brief und Bild, S. 391 f.).

40

Siehe H. Köhler, Lebenserinnerungen, S. 180.

41

Siehe Dok. Nr. 166; 167; 168; 173; 174; 175; 182.

Aus der Ära des zweiten Kabinetts Wirth bleibt schließlich noch der Minister für Ernährung und Landwirtschaft Anton Fehr zu erwähnen, der am 31. 3. 1922 ernannt wurde42. Er war als Abgeordneter des Bayerischen Bauernbundes in das Kabinett gelangt und warb in der Kabinettsarbeit insbesondere anläßlich der Republikschutzgesetzgebung und des daraus mit Bayern erwachsenden Konfliktes um Verständnis für bayerische Sonderinteressen.

42

Siehe Dok. Nr. 241a, Anm. 1.

Heinrich Albert, Staatssekretär der Reichskanzlei unter Scheidemann, Bauer, Müller und Fehrenbach, wurde auf Veranlassung Wirths am 24.5.1921 in den einstweiligen Ruhestand versetzt43. Mit der Wahrnehmung der Geschäfte betraute Wirth den dienstältesten höheren Beamten der Reichskanzlei, Ministerialrat Arnold Brecht, und endgültig – offenbar auf Drängen der Partei – am 3.8.1921 den Zentrumsangehörigen Heinrich Hemmer44. Der erst 35jährige Hemmer hatte bereits als Referent im Reichsfinanzministerium eng mit Wirth zusammengearbeitet, nachdem er als persönlicher Referent Erzbergers in der Waffenstillstandskommission tätig gewesen war.

43

Siehe dazu Dok. Nr. 14, Anm. 1.

44

Siehe dazu Dok. Nr. 63, P. 1.

Die in der Regel kargen Sitzungsprotokolle tragen zur Charakterisierung der Handelnden wenig bei: über den meist stichwortartig festgehaltenen Verlauf der Diskussion hinaus sind selten individuelle Verhaltensweisen oder Reaktionen zu erkennen. Einige politische Ereignisse von hervorragender Bedeutung haben jedoch sowohl die beteiligten Verhandlungspartner als auch den Protokollanten angeregt und aus der Reserve gelockt. Auf einige solcher Kristallisationspunkte, an denen etwas mehr über die Zusammenarbeit der Minister im Kabinett deutlich wird, sei im folgenden kurz hingewiesen.

[XXVIII] Eine gewisse Unvereinbarkeit politischer Anschauungen Rosens und seines Amtsnachfolgers Rathenau – schon bei der verspäteten Ernennung beider zutage getreten45 – wird zwar im Verlauf mancher Kabinettssitzung spürbar: so etwa bei der Diskussion des Friedensschlusses mit den Vereinigten Staaten oder des französischen Truppendurchzuges nach Oberschlesien46. Zum Eklat zwischen beiden kommt es jedoch, als Rosen die Zustimmung zu dem von Rathenau ausgehandelten Sachlieferungsabkommen mit Frankreich (Wiesbadener Abkommen) von der Aufhebung der von der Entente im März 1921 verhängten Sanktionen abhängig machen will47.

45

Siehe Rosen, Wanderleben, Bd III/IV, S. 317 ff. und Rathenau, Brief an seine Mutter vom 27.5.1921 (siehe Anm. 39).

46

Siehe insbesondere Dok. Nr. 52 und 66, sowie Dok. Nr. 55 und Dok. Nr. 56, P. 2.

47

Dok. Nr. 107.

Augenfälliger noch zeigt sich eine Gegnerschaft zwischen Hermes und dem Reichskanzler in den Dokumenten. Zwar stellen sich die anfänglichen Differenzen um den von Wirth forcierten Abbau der Brotgetreideverbilligung als Erbschaft aus gemeinsamer Ministerzeit unter Fehrenbach dar48, doch bietet sich Gelegenheit zu neuen Gegensätzen nach der Ernennung Hermes’ zum Reichsfinanzminister und damit Nachfolger Wirths in diesem Ressort (Dok. Nr. 217 und Dok. Nr. 218). Schon bei der Beratung einer deutschen Antwort auf die Noten der Reparationskommission vom 21.3.1922 setzt sich Hermes in einen sachlichen Gegensatz zum Kanzler49, der in der Folgezeit zu grundsätzlichen Differenzen in der Reparationspolitik führt: so kommt es zu erregter Auseinandersetzung mit Hermes nach dem Abschluß des Rapallo-Vertrages50, nach Hermes’ Abreise aus Genua läßt Wirth sich detailliert über dessen Berichterstattung in Berlin informieren51, und schließlich scheint der Gegensatz in der durch Hermes’ Paris-Verhandlungen eingeleiteten Reparationspolitik vollends aufzubrechen52. Auch in der erregten Kabinettsdebatte um die von Radbruch initiierte und von Wirth gestützte Republikschutzgesetzgebung kommt es zu scharfer Polemik zwischen Hermes und Wirth, in die allerdings auch Radbruch einbezogen ist53.

48

Siehe insbesondere Dok. Nr. 26, Anm. 4; Dok. Nr. 47, P. 7 und Dok. Nr. 50, P. 3.

49

Dok. Nr. 240.

50

Dok. Nr. 248 und Dok. Nr. 251.

51

Dok. Nr. 260, Anm. 2.

52

Insbesondere Dok. Nr. 280 und Dok. Nr. 286.

53

Dok. Nr. 300.

Die Behandlung des Eisenbahnerstreiks im Februar 1922 führt zu scharfer Konfrontation zwischen dem Reichskanzler und Verkehrsminister Groener, die auf eine Auseinandersetzung über die verfassungsmäßigen Kompetenzen beider hinausläuft54.

54

Siehe Dok. Nr. 199; Dok. Nr. 208 und Dok. Nr. 211, P. 4.

Schließlich bleiben noch einige Dokumente zu erwähnen, die Aussagen über die Rolle des Vizekanzlers Bauer und sein Verhältnis zu Wirth enthalten. Inwieweit Bauer darin vor allem als Persönlichkeit und inwieweit als erster Vertreter der stärksten Koalitionspartei und Sprachrohr Eberts zu sehen ist, soll hier nicht entschieden werden.

[XXIX] Während der langen Abwesenheit Wirths in Genua und durch den unerwarteten Abschluß des Rapallo-Vertrages erhielt Bauer Gelegenheit, das Amt des Vizekanzlers über das Routinemäßige hinaus aufzuwerten. Die räumliche Trennung zwischen Delegation und Regierung führte zu Kompetenzstreitigkeiten55 und zu Initiativen Bauers, die Delegation in Genua zur Revision bereits gefaßter Beschlüsse zu bringen, wie in der Frage der Beantwortung der Note der Reparationskommission vom 13.4.192256. Als nach der Rückkehr Wirths aus Genua die Paris-Verhandlungen des Ministers Hermes die Gefahr einer Kabinettskrise heraufbeschwören, erscheint Bauer im Kabinett offenbar als Vermittler im Auftrage des Reichspräsidenten57. Die Motive seines Verhaltens anläßlich der Demission des zweiten Kabinetts Wirth sind auf der Quellengrundlage der Akten der Reichskanzlei allein nicht eindeutig faßbar; festzuhalten bleibt jedoch, daß er im Vorgriff auf die Kanzlerentscheidung die Notwendigkeit des Rücktritts der Regierung als Erster formulierte58.

55

Siehe u. a. Dok. Nr. 252, P. 4.

56

Siehe Dok. Nr. 246, P. 2; Dok. Nr. 262; Dok. Nr. 264 und Dok. Nr. 266, Anm. 4.

57

Siehe Dok. Nr. 280.

58

Dok. Nr. 408.

3. Koalitionsverhandlungen

In seiner Regierungserklärung vom 1. Juni 1921 hatte Wirth zur Abdeckung der nach dem Londoner Zahlungsplan vorgesehenen Verbindlichkeiten als wichtigste Maßnahme einen Ausbau des Steuersystems angekündigt59. Bei der Erarbeitung des Steuerprogramms, von dem an anderer Stelle noch die Rede sein wird, zeichnete sich von Anfang an ab, daß an dieser Frage die Minderheitsregierung zu scheitern drohte, wenn es nicht gelänge, eine ausgewogene Gesetzesnovelle vorzulegen, ausgewogen – wie Wirth es im Interfraktionellen Ausschuß formulierte – „im Sinne des Ausgleichs: hie Konsum – hie Besitzsteuern“60.

59

RT Bd. 349, S. 3711 .

60

Dok. Nr. 87, P. 2.

So ist im Zusammenhang mit der geplanten Steuerreform im Kabinett auch mehrfach die Rede von einer möglichen Gefährdung der Koalition, und der Reichskanzler selbst hält vor Vertretern der Industrie nicht nur den Konflikt, sondern auch die Notwendigkeit zu Neuwahlen für möglich61.

61

Bauer am 29.6.21, Dok. Nr. 40 und Besprechung vom 7.9.21, Dok. Nr. 82.

Nach Fertigstellung der insgesamt 15 Gesetzentwürfe62 war die Situation tatsächlich zwar klarer, doch nicht problemloser geworden: die stärkste Partei der Koalition, die MSPD, hatte keinen Zweifel darüber gelassen, daß sie dem Gesetzeswerk in der vorliegenden Form nur mit dem Vorbehalt zustimmen könne, daß eine stärkere Belastung des Besitzes hinzukäme63. Bei dieser Sachlage war es nur natürlich, wenn der Reichskanzler das politische Terrain nach Möglichkeiten sondierte, seine Regierung auf eine breitere Grundlage zu stellen. Zunächst wandte er sich an die Vertreter des Reichsverbandes der deutschen[XXX] Industrie mit der Frage, welche Möglichkeiten die Industrie zur Beschaffung von ca. 1½ Milliarden Goldmark für das Reich sähe64. Parallel zu den sich hieraus ergebenden weiterführenden Verhandlungen über die freiwillige Leistungsbereitschaft der Industrie vollzog sich die Kontaktaufnahme mit der DVP. Zwar hatte die MSPD zunächst in der Sitzung des Interfraktionellen Ausschusses vom 13.9.1921 ihre zukünftige Haltung zur Frage der Verbreiterung der Koalition noch offengelassen65, nachdem aber auf dem Görlitzer Parteitag die Entscheidung grundsätzlich zugunsten einer Koalitionsbereitschaft gefallen war66, konnte am 28.9.1921 die Vorbesprechung zwischen Vertretern der Koalitionsparteien und der DVP über diese Frage stattfinden67. Die weiteren Verhandlungen im Interfraktionellen Ausschuß hierüber kreisten um das Problem, ob das von der Industrie zu erwartende Kreditangebot von der MSPD als ausreichendes Äquivalent für die Hinnahme der Verbrauchssteuern angesehen werden könne68. Während der Reichskanzler und Rathenau die Opferbereitschaft der Industrie darzutun versuchten, die zwar zu Vorleistungen auf dem Kreditsektor, nicht jedoch – wie der Reichskanzler es formulierte – zum Reichsnotopfer bereit sei69, beharrte Hermann Müller für die MSPD auf dem Standpunkt, daß das freiwillige Angebot der Industrie kein vollgültiger Ersatz für Besitzsteuern sein könne70. Der sozialdemokratische Abgeordnete Wilhelm Keil argumentierte für seine Partei, daß aus außenpolitischen Gründen vor der von der Regierung angestrebten Revision des Londoner Ultimatums ein Eingriff in die Substanz als größere Anstrengung unternommen werden müßte, insbesondere, da die Kreditaktion wenig aussichtsreich erscheine71. Als die Pläne der Industrie entgegen der Annahme der MSPD zunächst dennoch fortentwickelt wurden72, führte Keil in einer Besprechung vom 20.10.1921 seine Argumentation fort und plädierte für eine Gesetzesgrundlage, die das Reich gegebenenfalls ermächtigen sollte, die Sachwerte in dem Augenblick und Ausmaß zu erfassen, in denen ein Ausfall in der Kreditaktion eintrete73. Zwei Tage später, am 22.10.1921, demissionierte das Kabinett Wirth anläßlich der Entscheidung der Botschafterkonferenz über Oberschlesien74, ohne daß die Verhandlungen um die Verbreiterung der Koalition erkennbar Fortschritte gemacht hätten.

62

Aufzählung siehe Dok. Nr. 82, Anm. 1.

63

Dok. Nr. 82 und deutlicher Dok. Nr. 87, P. 2.

64

Dok. Nr. 82.

65

Dok. Nr. 87, P. 3.

66

Siehe Dok. Nr. 87, Anm. 6.

67

Dok. Nr. 102.

68

Siehe Dok. Nr. 106; Dok. Nr. 114; Dok. Nr. 115; Dok. Nr. 116.

69

Dok. Nr. 106, ähnlich Dok. Nr. 115.

70

Dok. Nr. 114; Dok. Nr. 115 und Dok. Nr. 116.

71

Siehe Dok. Nr. 106.

72

Siehe Dok. Nr. 115, Anm. 1.

73

Siehe Dok. Nr. 116.

74

Siehe Dok. Nr. 117, Anm. 1 und unten S. LIII f.

Am 25.10.1921 betraute Reichspräsident Ebert erneut Wirth mit der Regierungsbildung. In seinem diesbezüglichen Schreiben stellte er ausdrücklich fest, daß die Große Koalition, die er im Einvernehmen mit Wirth stets und bei der Regierungsbildung im besonderen erstrebt habe, gescheitert sei75. Die[XXXI] Verhandlungen, die zur Bildung des um den Koalitionspartner DDP (Geßler blieb als Fachminister) geminderten zweiten Kabinetts Wirth geführt haben, haben in den Akten der Reichskanzlei wiederum keinen dokumentarischen Niederschlag hinterlassen.

75

Dok. Nr. 123.

Dürfen wir den Aufzeichnungen des Zentrumsvertreters ten Hompel vom 25.10.1921 glauben, so hat der Parteivorsitzende Marx in der Vorstandssitzung vom 25.10.1921 mitgeteilt, daß sich Vertreter der MSPD, des Zentrums, der DDP und der DVP am 24.10.1921 abends beim Reichspräsidenten bereits dahingehend geeinigt hätten, das Genfer Ultimatum anzunehmen und gleichzeitig eine Rechtsverwahrung gegen die Entscheidung über Oberschlesien einzulegen. Eine solche Verwahrung habe bereits im Wortlaut festgestanden. In diesen Verhandlungen habe aber die MSPD auch den Standpunkt vertreten, daß das Ultimatum erforderlichenfalls auch ohne Rechtsverwahrung angenommen werden müsse. In der Fraktionssitzung der DVP um 23 Uhr habe die Partei dann überraschend den Beschluß gefaßt und ihn in einem von Stresemann gezeichneten Schreiben an den Reichspräsidenten mitgeteilt, „daß die Deutsche Volkspartei aus dem Umstand, daß die Mehrheitssozialisten gegebenenfalls auch bereit wären, ohne Rechtsverwahrung das Genfer Diktat anzunehmen, die Folgerung gezogen habe, daß es ihr unmöglich sei, mit einer solchen Partei in die Koalition zu treten und deshalb endgültig jede Verbindung ablehne und auch gegen die Entsendung eines Kommissars in die Dreier-Kommission auf Grund des Genfer Ultimatums sei“76.

76

Nachlaß ten Hompel /16.

Nachdem der Beschluß der DDP, unter allen Umständen zur Regelung der oberschlesischen Frage die Bildung einer Regierung mit den Sozialdemokraten abzulehnen, und die Haltung des Zentrums, das die Regierung nicht allein mit der MSPD bilden wollte, bekanntgeworden waren, habe Wirth nach Rücksprache mit dem Reichspräsidenten bei seiner Fraktion angefragt, ob sie ihm untersagen werde, die Neubildung des Kabinetts für seine Person zu übernehmen. Ein entsprechender Antrag und schließlich auch ein Antrag Fehrenbachs, der die Bereitschaft des Zentrums zur Regierungsbildung mit der MSPD erklärte, wurden angenommen77.

77

Nachlaß ten Hompel /16.

In seiner Regierungserklärung vom 26.10.1921 stellte Wirth die Kabinettsmitglieder nicht als Vertreter einer Koalitionsregierung, sondern als Politiker seines Vertrauens vor78. Das Reichsministerium für Wiederaufbau war unbesetzt geblieben, das Auswärtige Amt sollte vom Reichskanzler selbst, das Reichsfinanzministerium vom Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft Hermes wahrgenommen werden79. Hier blieb also noch ein Spielraum für eine Verbreiterung der Koalition, zu der die DVP wegen ihrer Haltung in der Oberschlesienfrage sich zunächst nicht hatte bereit finden können. Hier blieb vor allem auch ein Spielraum, eine Mehrheit für die Verabschiedung des Steuerprogramms zu gewinnen, denn natürlich hatte sich auch die neue Regierung[XXXII] Wirth vor dem Reichstag zur Erfüllungspolitik verpflichtet80, und ihr verblieb die gleiche Notwendigkeit zur Erschließung von Geldquellen wie der vorherigen. In der Besprechung vom 9. Januar 1922 traten die Parteiführer für eine Verabschiebung der Steuerausschußberatungen ein, um eine drohende Verhärtung der Fronten zu vermeiden: angesichts der erneut vertretenen Forderung der MSPD nach einer Erfassung der Sachwerte und der Abneigung gegen eine Zusammenarbeit mit der DVP versuchte der Reichskanzler, seinen Koalitionspartner zum Einlenken zu bewegen, indem er sich auf die Argumentation Keils bezog: Nun, nachdem der Weg der Moratoriumsverhandlungen beschritten sei81, könne eine Sachwerterfassung, die das Ultimatum zu etwa 80% für tragbar erkläre, den angestrebten Abbau des Londoner Ultimatums nur verhindern. Man sei daher gezwungen, zu einem Kompromiß zu gelangen82. Eine Annäherung der Standpunkte zwischen DVP und MSPD ist in den Akten der Reichskanzlei zu dem Zeitpunkt nicht erkennbar, an dem Wirth mit Urkunde vom 31.1.1922 Rathenau zum Außenminister ernannte83. Nach dieser von der DVP als Affront aufgefaßten Ernennung84 schnitt der Reichskanzler zwar noch einmal die Frage an, ob die Erarbeitung des Steuerkompromisses mit der Bildung der Großen Koalition verknüpft werden solle85, doch wurde eine Einigung der offenbar wegen einer möglichen Annäherung an die USPD zögernden MSPD und der DVP86 nicht erzielt. Nach der endgültigen Besetzung des Reichsfinanzministeriums mit Hermes und der Ernennung Fehrs zum Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft87 stand Wirth für seine Koalitionspolitik nur noch die Besetzung des Reichsministeriums für Wiederaufbau zur Verfügung.

78

Siehe Dok. Nr. 123, Anm. 3.

79

Kabinettsliste siehe Dok. Nr. 123, Anm. 3.

80

Siehe Sitzung vom 26.10.1921, RT Bd. 351, S. 4733  ff.

81

Siehe dazu unten S. XXXVII f.

82

Dok. Nr. 185.

83

Siehe Dok. Nr. 191 und Dok. Nr. 196, Anm. 1.

84

Dazu siehe Dok. Nr. 201 und Dok. Nr. 205, Darstellung der Ereignisse durch Stresemann und Erwiderung des Reichskanzlers.

85

Dok. Nr. 209, P. 6.

86

Zu ihren Vorbedingungen siehe Dok. Nr. 205, Anm. 3.

87

Zur Ernennung Hermes’ siehe Dok. Nr. 218, Anm. 5, zur Ernennung Fehrs, Dok. Nr. 241a, Anm. 1.

Diese Situation änderte sich wieder nach der Ermordung Rathenaus, dessen Ernennung zuvor die Regierungsbereitschaft der DVP stark gedämpft hatte. Zu welchem Zeitpunkt neue Koalitionsverhandlungen begannen, läßt sich aus den Akten der Reichskanzlei nicht feststellen88. Das erste Dokument neuer Kontakte findet sich in den Akten der Reichskanzlei zu einem Zeitpunkt, zu dem man es vielleicht nicht erwartet hätte; seit der Vereinigung von MSPD und USPD am 24.9.1922 in Nürnberg basierte die Regierung Wirths im Parlament auf einer zahlenmäßig soliden Mehrheit89 – einen Monat später, am 23.10.1922 gab Wirth dem Kabinett die Erklärung ab, er plane eine Umbildung der Reichsregierung und wolle dafür alle politischen Kräfte heranziehen90.[XXXIII] Und in der Tat wurde die Notwendigkeit für eine Verbreiterung der Koalition einen Tag später sichtbar, als die Solidarität seiner Parlamentsmehrheit bei der Abstimmung über die Getreideumlage am 24.10.1922 in Frage gestellt wurde: die bürgerlichen Parteien verabschiedeten die Gesetzesvorlage gegen die Stimmen der stärksten Koalitionsfraktion, der SPD91. Am 10.11.1922 brachte Wirth die Regierungsumbildung vor Parteiführern erneut zur Sprache; dieses Mal erklärte er, der Reichspräsident habe ihn hierzu ersucht92. Inzwischen hatten offenbar Kommissionen die Annäherungen der Parteien vorzubereiten versucht, ohne daß hierüber Genaueres in die Akten der Reichskanzlei gelangt wäre93.

88

Im Nachlaß Erkelenz  findet sich die Abschrift eines vom Zentrum und der DDP unterzeichneten Schreibens vom 6.7.22 an den Vorstand der DVP, das die Bereitschaft der DVP zur Beteiligung an der Regierung sondieren soll (Erkelenz/136).

89

Sie verfügte nun über 289 der insgesamt 459 Mandate.

90

Dok. Nr. 391.

91

Siehe Dok. Nr. 380, Anm. 2 und RT Bd. 357, S. 8933 .

92

Dok. Nr. 404.

93

Siehe Dok. Nr. 404, Anm. 1. Der Nachlaß des DDP-Abg. Erkelenz verzeichnet außerdem Interfraktionelle Besprechungen vom 24. 10. und 18.11.22 (Erkelenz/136), der Nachlaß des Zentrums-Abg. ten Hompel vom 26.10.22 (ten Hompel/16). Als Ergebnis ist jedoch wohl die Veröffentlichung verschiedener programmatischer Erklärungen der Parteien anzusehen (siehe Dok. Nr. 404, Anm. 2 und 3).

Für den nur an den Akten der Reichskanzlei Orientierten stellt die Zuspitzung der Situation in der Kabinettssitzung vom 14.11.1922 eine Überraschung dar: Vizekanzler Bauer referiert den Beschluß der Vereinigten Sozialdemokraten, den von DDP und Zentrum gewünschten Eintritt der DVP in die Koalition abzulehnen und fügt hinzu, er halte daher den Rücktritt der jetzigen Regierung für erforderlich. Der Rücktritt der Regierung erfolgt, ohne daß der Reichskanzler die Frage des Ministers Köster eindeutig beantwortet: haben die bürgerlichen Parteien, hat der Reichspräsident oder Wirth selber den Anstoß für den Rücktritt gegeben und die Sozialdemokratie zu so eindeutiger Stellungnahme veranlaßt94?

94

Dok. Nr. 408.

Der Weg war frei nicht für die Bildung der Großen Koalition, sondern für die eines Kabinetts der Persönlichkeiten, für das Kabinett Cuno.

Extras (Fußzeile):