2.92 (wir1p): Nr. 89 Der Vertreter der Reichsregierung in München an die Reichskanzlei München, 13. September 1921.

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Nr. 89
Der Vertreter der Reichsregierung in München an die Reichskanzlei München, 13. September 1921.

R 43 I /2229 , S. 199-201

[Betrifft: Rücktritt der bayerischen Regierung]

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Führer der bayerischen Volkspartei in der unnachgiebigen Haltung des Herrn von Kahr in der Konfliktfrage1 eine[261] schwere Gefährdung der inneren Politik des Reichs erblickten. Sie waren sich darüber klar, daß Bayern in seinen partikularistischen Sonderansprüchen allein dastehe und keine Unterstützung bei den anderen Ländern des Reichs finden werde. Auch die außenpolitische Situation und die Gefahr der verstärkten Wiederaufnahme der französischen Trennungspolitik haben höchstwahrscheinlich einen gewissen Eindruck auf die leitenden Geister der bayerischen Volkspartei hervorgebracht. So kam es denn am Freitag und Samstag der vorigen Woche zu sehr intensiven Beratungen und Verhandlungen über eine Fassung der bayerischen Vorschläge für die Berliner Besprechungen, und zwar nicht ohne Fühlungnahme mit Herrn von Kahr, der seinerseits wiederum mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln versucht haben soll, die bayerische Volkspartei zu seinem intransigenten Standpunkt zu bekehren. Innerhalb der Koalitionsparteien, mit Ausnahme der Mittelpartei, war aber der feste Wille vorhanden, einen Abbruch der Verhandlungen mit Berlin zu vermeiden, um nicht vor die Alternative der Unterwerfung oder der Separation gestellt zu werden. Die hetzerischen Drohungen der Presse der Rechten und namentlich der Aufruf der München-Augsburger Abendzeitung zum „Handeln“2 hatten in den besonnenen Kreisen erschreckt und verstimmt.

1

Seine Haltung hatte von Kahr in der Ministerratssitzung vom 9.9.1921 unmittelbar nach der Berichterstattung StS Schweyers über die Verhandlungen in Berlin wie folgt abgegeben: „Der Ministerpräsident würdigt das Ergebnis der Verhandlungen mit der Reichsregierung. Die VO stellte auch in der nunmehr zugestandenen Fassung einen starken Eingriff in die Rechte der Länder dar, auch darin liege ein schwer erträglicher Eingriff in die Landeshoheit, daß der bayerische Ausnahmezustand numehr aufgehoben werden solle. Eine Länderregierung, die nicht mehr das Recht besitze, selbst zu entscheiden, welches Mittel sie für die Aufrechterhaltung der Ordnung im eigenen Lande benötige, habe einen wesentlichen Bestandteil ihrer Hoheitsrechte eingebüßt und zwar auf einem außerordentlich wichtigen Gebiet, nämlich auf dem der Polizei. Maßgebend für das Verhalten der Reichsregierung seien nicht sachliche Erwägungen gewesen, sondern ausschließlich politische Gründe. Der Widerstreit zwischen bayrischer Regierung und Reichsregierung sei ein Widerstreit der Politik. Die bayrische Regierung sei eine Regierung der Mitte, während die Politik der Reichsregierung mehr nach links orientiert sei. Die Regierung werde das Vertrauen des bayrischen Volkes verlieren, wenn sie auf den Kompromißvorschlag eingehe. Es könne nicht durch das Vertrauen der Koalitionsparteien ersetzt werden, da diese in einem solchen Falle weite Kreise des Volkes nicht mehr hinter sich haben würden. Die Regierung würde im Falle der Annahme der Vorschläge nie mehr Glauben finden, wenn sie bei einer anderen Gelegenheit versichern würde, daß sie dies oder jenes beim Reiche nachdrücklichst vertreten werde. Die Regierung würde schließlich von selbst dazu kommen, zurückzutreten, ohne inzwischen fruchtbare Arbeit geleistet zu haben. Wenn man blutige Ereignisse von einer Ablehnung der Vorschläge erwarte, so sei zu beachten, daß eine Revolution nicht aufzuhalten sei, wenn der Boden hierzu vorbereitet sei. Es werde sich in diesem Falle nur darum handeln, ob die Regierung die Kräfte hinter sich habe, um die Entscheidung im Sinne der Aufrechterhaltung der Staatsordnung herbeiführen zu können. Der Ministerpräsident ist der Überzeugung, daß die Regierung gerade auf die Kräfte, die eine solche Entscheidung stützen und ermöglichen würden, im Falle der Annahme der Kompromißvorschläge nicht mehr zählen könne. Es sei also möglich, daß die Regierung sich zwar noch eine Zeit lang halte, aber gerade in kritischer Zeit nicht mehr Herr der Lage zu bleiben vermöge, weil sie nicht mehr genügend Anhänger habe. Der Ministerpräsident glaubt deshalb, den Abschluß eines Kompromisses auf der durch die Aussprache in Berlin geschaffenen Grundlage nicht empfehlen zu können.“ (GStA München, MA 99 516).

2

Unter der Überschrift „Es ist Zeit zum Handeln“ hatte die München-Augsburger Abendzeitung am 9.9.21 (Nr. 378) folgenden Artikel veröffentlicht: „Heute vormittag kommt die Kommission der bayrischen Regierungsvertreter und Parlamentarier aus Berlin zurück. Die Herren haben in Berlin tagelang verhandelt. Man hat den Eindruck, daß die Reichsregierung alle Mittel aufgewandt hat, um die bayrischen Interessen tot zu reden. Noch im Laufe des heutigen Tages wird sich die bayrische Regierung über das Ergebnis der Berliner Beratungen schlüssig zu machen haben. Wir sind der Meinung, daß jetzt keine Zeit mehr ist zum Verhandeln, sondern daß gehandelt werden muß. Der Worte sind wahrhaftig genug gewechselt. Wenn man sieht, wie die Abtrennungsbestrebungen in Franken immer weitere Kreise ziehen, wie von den Hilfstruppen der Berliner Regierung an der inneren Zertrümmerung Bayerns gearbeitet wird, dann ist es wahrhaftig überflüssig, noch irgend etwas über die Bedeutung der jetzigen Entscheidung zu sagen. Bayern kann und darf sich der Internationale nicht preisgeben. Ministerpräsident Dr. von Kahr wird heute vormittag um 10 Uhr aus Berchtesgaden in München eintreffen.“ (Ausschnitt in R 43 I /2229 , S. 184a).

[262] Es war daher eine herbe Enttäuschung für die Häupter der bayerischen Volkspartei, und namentlich für den Abgeordneten Held, als Herr von Kahr die Vorschläge für die Berliner Besprechungen nur mit dem Zusatz, der Ausnahmezustand solle, „sobald es die Verhältnisse gestatteten“, aufgehoben werden, annehmen zu können erklärte3. Die Ablehnung der Kahr’schen Fassung führte sodann zur Rücktrittserklärung der Herren von Kahr und Roth4.

3

Die Vertreter der bayerischen Regierung und die Abgeordneten der Koalitionsparteien hatten in Berlin mit der RReg. eine Neufassung der umstrittenen VO als Verhandlungsgrundlage vereinbart (Text siehe Münchner Post vom 12.9.21, Ausschnitt in R 43 I /2215 , Bl. 62). Diese Neufassung der VO sollte auf Antrag Helds (BVP) wie folgt eingeleitet werden: „Die Bayrische Staatsregierung hat sich mit den Verhandlungen in Berlin befaßt. Sie ist dann in der Lage, den Vorschlägen beizutreten, wenn die Polizeihoheit der Länder wieder hergestellt wird und wenn die §§ 4 und 7 [der VO des Reichspräsidenten] nachfolgende Fassung erhalten: „Der Schluß der Vereinbarung sollte lauten: ‚Unter der Voraussetzung, daß die Reichsregierung dem Wunsche der bayrischen Regierung entspricht, erklärt sich diese bereit, der Aufhebung des Ausnahmezustandes näherzutreten.‘“ Von Kahr hatte in der Vormittagssitzung des Ministerrats vom 11.9.1921 wie folgt zu diesem Beschluß des Ständigen Landtagsausschusses Stellung genommen: „Ich bin bereit, aus der Not des Volkes heraus, um Bayern über die gegenwärtige Krise hinwegzuführen, den Versuch zu machen, auf der Grundlage des gestrigen Beschlusses des Ständigen Landtagsausschusses in der Streitfrage der Ausnahmeverordnung der Reichsregierung zu einer friedlichen Lösung zu gelangen. Mit Rücksicht auf die Staatsautorität und mein eigenes Ansehen in den Kreisen des Volkes kann ich das aber nur unter der Bedingung tun, daß der gestern vom Ständigen Ausschusse beschlossenen Fassung, wie ich schon gestern in der Koalitionssitzung anregte, noch der Zusatz beigefügt wird: „sobald die Verhältnisse es gestatten“. In einem Begleitschreiben würde ich dies dahin erläutern: Die Bayrische Regierung wolle mit diesem Zusatze die Angelegenheit nicht etwa ad calendas Graecas verschieben, sondern sie sei entschlossen, von sich aus, sobald die gegenwärtigen Unruhen endgültig beteiligt [sic] sind, an den Abbau des Ausnahmezustandes heranzutreten und jetzt schon alle für seine Aufhebung erforderlichen Vorbereitungen treffen. Das ist mein letztes Wort. Ich habe Auftrag gegeben, daß an Herrn Geheimrat Held ein Brief dieses Inhalts geschrieben und ihm anheimgegeben wird, hierüber sofort mit den Führern der Koalitionsparteien in Fühlung zu treten. Ich bringe mit dieser Stellungnahme ein großes Opfer meiner persönlichen Überzeugung, die ich rückhaltlos in den Partei- und Koalitionsbesprechungen dargelegt habe. Weiter kann ich nicht gehen.“ (GStA München, MA 99 516).

4

Die Rücktrittserklärung erfolgte in der Nachmittagssitzung vom 11.9.1921, eine Ministerratssitzung über die Frage, ob das Gesamtministerium zurückzutreten habe, wurde auf den 12.9.21 festgesetzt. Bis zu diesem Zeitpunkt sollten auch die abwesenden Minister zurückgerufen werden (GStA München, MA 99 516).

Die Lage war sachlich nun zunächst so, daß das alte Kabinett Kahr ohne seine Spitze und Herrn Roth als Rumpfministerium im Amte verblieb unter der vertretungsweisen Führung des Kultusministers Matt. Es setzten sofort Besprechungen ein, die darauf hinzielten, Herrn von Kahr trotz seines offiziell erklärten Rücktrittes im Amte zu erhalten. Die Mittagsblätter der bayerischen Volkspartei am gestrigen Montag waren ganz auf einen Ton gestimmt, der den Konflikt zwischen Herrn von Kahr und der Partei verwischen sollte.

Um die Mittagsstunde des Montags fand sodann ein Ministerrat statt, von dessen Ergebnis eingeweihte Kreise vermuteten, daß er mit einer Restitution des Herrn von Kahr enden würde. An Versuchen zu einer derartigen Lösung soll es nicht gefehlt haben. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß hierbei die Sorge[263] vor den rechtsstehenden Kreisen, ihrer skrupellosen Agitation und vor der Popularität des abgetretenen Ministerpräsidenten eine mehr oder weniger bewußte Rolle gespielt haben5.

5

In der genannten Ministerratssitzung vom 12.9.1921, 11 Uhr wurde lediglich die Frage erörtert, ob der Rücktritt des Ministerpräsidenten nach der Bayrischen Verfassungsurkunde (§ 58) auf alle Fälle den Rücktritt der Minister zur Folge habe. Nachdem mit Ausnahme des Handelsministers Hamm sämtliche Minister die Auffassung vertreten hatten, der Rücktritt des Gesamtministeriums sei staatsrechtlich erforderlich, wurde der Rücktritt beschlossen; das alte Kabinett erklärte sich mit der Weiterführung der Geschäfte bis zur Neuwahl einverstanden. An die RReg. erging durch den Bayerischen Gesandten in Berlin eine entsprechende Erklärung (GStA München, MA 99 516).

Zu einer Rückkehr des Herrn von Kahr kam es jedoch nicht, anscheinend teils wegen der ablehnenden Haltung des Ministerpräsidenten, teils wohl auch, weil man sich von der politischen Unmöglichkeit einer derartigen Aktion Rechenschaft gab. Stattdessen trat das Gesamtkabinett zurück, um die provisorische Leitung der Geschäfte bis zur Bildung einer neuen Regierung zu übernehmen. Zu dem zurückgetretenen Gesamtkabinett gehören auch die Herren von Kahr und Roth, so daß beide Herren naturgemäß mit an dem geschäftsführenden Ministerium teilnehmen.

Die weitere Entwicklung läßt sich noch nicht übersehen. Zunächst wird der Landtag einberufen werden müssen, um eine Neuwahl des Ministeriums vorzunehmen6. Ob die Koalition in der alten Form erhalten bleibt, ist ebenfalls noch ungewiß. Über die Stellungnahme der bayerischen Volkspartei, deren Presse, wie erwähnt, gestern eine so bemerkbare Schwenkung zu Herrn von Kahr zurück vollzog, läßt sich ebenfalls noch nichts sagen, da der Abgeordnete Held gestern von München abwesend war.

6

Am 21.9.1921 wird Graf Hugo von Lerchenfeld zum neuen Ministerpräsidenten gewählt, am 22. 9. gibt er dem Landtag die Zuammensetzung des Kabinetts bekannt: Inneres: Schweyer; Unterricht und Kultus: Matt; Finanzen: Krausneck; Soziale Fürsorge: Oswald; Landwirtschaft: Wutzlhofer; Handel: Hamm; Justiz: Graf Lerchenfeld (Mitteilung der Bayerischen Gesandtschaft an den RK vom 26.9.21, R 43 I /2215 , Bl. 151).

Die Lage ist jedenfalls reichlich verwickelt und wird einige Zeit zur Klärung brauchen. Vielleicht sucht man hier auch Zeit zu gewinnen, um mehr Stützen für den bayerischen Standpunkt zu gewinnen. Ich glaube Grund zur Annahme zu haben, daß der hiesige Vertreter Preußens in sehr engem Einvernehmen mit den Kreisen der bayerischen Volkspartei steht, welche um Hilfe für ihre partikularistischen Tendenzen werben.

Frerichs

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