1.19 (wir2p): Nr. 254 Staatssekretär Hemmer an Ministerialrat Wever. Genua, 22. April 1922.

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 5). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Wirth I und II (1921/22). Band 2Bild 146III-105Bild 183-L40010Plak 002-009-026Plak 002-006-067

Extras:

 

Text

RTF

[732] Nr. 254
Staatssekretär Hemmer an Ministerialrat Wever. Genua, 22. April 1922.

R 43 I /471 , Bl. 27 f. Durchschrift

[Betrifft: Politische Lage nach Abschluß des Rapallovertrages]

Lieber Herr Wever!

Wenn ich Ihnen auf jeden einzelnen Ihrer Berichte nicht geantwortet habe, so bitte ich daraus nicht zu entnehmen, daß Sie mir nicht eine wünschenswerte Orientierung über das, was in unserem Hause vorgeht, bieten1. Auch der Herr Reichskanzler liest Ihre Briefe mit großem Interesse.

1

Zu den fast täglichen Berichten Wevers an Hemmer siehe Dok. Nr. 253 Anm. 1.

Es läßt sich nicht verkennen, daß in der Heimat eine gewisse Nervosität entstanden ist. Sie wissen, daß ich selbst für derartige Stimmungen ein besonderes Organ habe und leicht geneigt bin, die Ursachen solcher Erregungen auf diejenigen, die sie verursachen, zurückzuführen. In dem aktuellen Falle muß ich allerdings sagen, daß mir dieses Hin und Her in der Heimat nicht recht verständlich erscheint. Ich darf vielleicht in kurzen Zügen auf die Sache selbst eingehen. Meiner Auffassung nach mußte der deutsch-russische Vertrag gemacht werden, andererseits war bei der Delikatesse der Verhandlungssituation in Genua nicht möglich, von jedem Schritt und von jeder Phase die Heimat zu unterrichten. Wir sind sicher mit dem besten Willen nach Genua gefahren, die Heimat und namentlich natürlich die obersten Stellen in Berlin über alles auf dem laufenden zu halten. Wer aber solche internationalen Konferenzen mitmacht, überzeugt sich sehr bald, daß Wendungen, die zum Entschluß Veranlassung geben könnten, plötzlich auftauchen und eben die Entscheidung fordern. Es ist theoretisch richtig, daß immer noch soviel Zeit dafür ist, sich die Bestätigung seiner Auffassung an anderer Stelle zu holen, aber es sind ja in einem solchen Augenblick die verschiedensten Erwägungen und Fluida, die eine Lage schaffen, in der ein Entschluß eine Minute später widerrufen werden muß. Sachlich war, wie gesagt, der Schritt notwendig. Er mußte getan werden, wenn wir nicht mit dem Odium belastet nach Hause zurückkehren wollten, daß wir uns in Genua, wo wir als gleichberechtigte Nation zugelassen sind, von den Alliierten unsere Haltung in der Russenfrage diktieren ließen. Wir sind in Deutschland durch die zahlreichen Demütigungen, die wir von der Feindesseite erhalten haben, etwas stumpf geworden gegen aktive Äußerungen der deutschen Politik. Ich bin überzeugt, daß die Heimat hinter der Delegation und ihrer Politik stehe, aber ich verstehe nicht diejenigen, die dieselbe Mentalität an den Tag treten lassen wie die Alliierten selbst. Es ist der erste Schritt einer selbständigen Politik, den wir nicht etwa nur seit 1918, sondern seit 1914 getan haben, und wenn man genau im einzelnen weiß, welches die eigentlichen Motive der Verstimmung[733] bei den Alliierten sind, so ist man davon überzeugt, daß der Schritt richtig war.

Wie ich Ihnen telegrafierte, ist Herr v. Simson nach Berlin gefahren. Er ist, wenn Sie diese Zeilen bekommen, ja längst dort und wird auch seinen Vortrag bereits gehalten haben2. Aus Gründen, die ich schriftlich nicht niederlegen kann, halte ich es für notwendig, daß der Reichskanzler, wenn auch nur kurze Zeit, es kann aber auch noch längere Zeit dauern, hierbleibt. Es muß eine Spitze hier sein. Es haben sich in der Delegation die selben Erscheinungen gezeigt, wie man sie seit den Waffenstillstandsverhandlungen kennt3. Ich halte dies für sehr bedauerlich, bitte dies aber nicht zu überschätzen. In dem Augenblick als Lloyd George erklärte, der Zwischenfall ist erledigt, wollten wieder alle dabei gewesen sein.

2

In einer Anlage zum Bericht Wevers vom 19.4.22 hatte Kempner angeregt, einen Beamten aus Genua zur Berichterstattung nach Berlin zu entsenden (siehe Dok. Nr. 253 Anm. 6).

3

Vgl. Dok. Nr. 251.

Die deutsche Politik ist meiner Auffassung nach gekennzeichnet dadurch, daß wir im Glück übermütig sind, daß aber sofort eine starke Reaktion eintritt in dem Augenblick, wo das Land eine Gefahrenzone durchmacht. In anderen Ländern ist es umgekehrt, da ist man stark in der Gefahr und fällt nicht von hinten her den Leuten, die in der Schützenlinie stehen, in den Rücken.

Ich bitte Herrn Kempner, nicht darüber verstimmt zu sein, daß der Herr Reichskanzler ihn bat, seine Reise aufzuschieben. Ich nehme an, daß Herr Kempner hierher kommen wollte, um nachher Berlin zu informieren. Er wird mit mir derselben Auffassung sein, daß es besser ist, daß Herr von Simson, der die ganzen Verhandlungen von Anfang an kennt, die Berichterstattung in Berlin übernimmt4. Es bleibt dabei, daß, wenn der Herr Reichskanzler und ich zurückkehren, Herr Kempner hierher gebeten werden wird.

4

In seinem Bericht vom 25.4.1922 (Nr. 14) antwortet Wever darauf unter P. 6: „Aus meinem Bericht Nr. 11 Ziffer 1 [Dok. Nr. 253] werden Sie ersehen haben, daß ich durch Herrn Kempner nicht Berlin informieren wollte, sondern daß es mir darauf ankam, worauf ich auch in meinem Fernschreiben vom 20. 4. hinwies, die dortigen Herren über die hiesige Stimmung zu informieren. Daß Herr von Simson heraufkam, war auf alle Fälle notwendig.“ (R 43 I /471 , Bl. 53 f.).

Über die Beanstandung des Begriffs Kabinettssitzung für unsere Sitzungen hier in Genua, möchte ich mich nicht weiter auslassen. Ich glaube, es handelt sich um einen Streit mit Worten. Die Fragen, die das Reichskabinett als solches angehen, werden hier ja auch nicht präjudiziert5.

5

Siehe dazu Dok. Nr. 247, P. 1 und Dok. Nr. 252, P. 4 und Anm. 10.

Ich hatte mir erlaubt, Ihnen für Ihre Kinder einige Orangen zu übersenden. Ich bitte nachträglich um die Erlaubnis hierzu. Mit der Bitte, mich allen Herren unseres Hauses zu empfehlen, bin ich, sehr geehrter Herr Wever, mit den besten Grüßen

gez. Hemmer

P.S. Besonders dankbar bin ich Ihnen, daß Sie immer vor Abgang eines Schreibens an mich zu Hause anrufen, um sich zu erkundigen, wie es dort geht.

Extras (Fußzeile):