2.103 (bau1p): Nr. 102 Bericht des Preußischen Staatskommissariats für die Überwachung der öffentlichen Ordnung über Rückwirkungen der Räumung des Baltikums vom 11. November 1919

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Nr. 102
Bericht des Preußischen Staatskommissariats für die Überwachung der öffentlichen Ordnung über Rückwirkungen der Räumung des Baltikums vom 11. November 1919

R 43 I /1847 , Bl. 25–26 a Abschrift1

1

Die Abschrift übersendet StKom. von Berger dem UStSRkei mit folgendem Anschreiben vom 15. 11.: „In der Anlage wird ein hier eingegangener Bericht über die Lage in Ostpreußen zur gefälligen Kenntnisnahme ergebendst übersandt. Die darin zum Ausdruck gebrachten Befürchtungen hinsichtlich Ostpreußens verdienen besondere Beachtung.“ Am Rand des Anschreibens notiert GehRegR Brecht: „Die Berichterstatter des Staatskommissars scheinen z. T. selbst Sympathien mit dem Baltikumunternehmen zu haben.“ – Sichtparaphe des RK vom 29.11.19.

Über den Einfluß der linksradikalen Partei in Ostpreußen habe ich wiederholt berichtet; eine unmittelbare Gefahr von dieser Seite ist meines Erachtens zur Zeit nicht zu erwarten, dagegen nimmt in den weitesten Kreisen der Provinz[384] die Mißstimmung gegen die Regierung auf Grund der von dieser im Baltikum betriebenen Politik überhand. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß sich diese Mißstimmung etwa nur auf deutschnationale oder ihnen verwandte Kreise stütze und daß sie ausschließlich oder doch in erster Linie bei den Großgrundbesitzern und den Offizieren ihren Sitz habe. Im Gegenteil ist nach meinen Beobachtungen diese Stimmung ebenso verbreitet unter den sogenannten kleinen Leuten bis zu einem Teil der Arbeiterschaft hinab. In ganz Ostpreußen wird die Handlungsweise derjenigen Truppenteile, Offiziere und Mannschaften, die sich im Baltikum mit den russischen Truppen in dem Kampf gegen den Bolschewismus vereint haben, als eine nationale und patriotische Tat gepriesen und bewundert. Ostpreußen hat die Überzeugung, daß sie [!] es lediglich den russischen, conterrevolutionären Heeresverbänden und deren deutscher Unterstützung zu verdanken hat und zu verdanken haben wird, wenn der ostpreußische Boden von dem vernichtenden Einfalle bolschewistischer Elemente verschont bleibt2.

2

Zum Gesamtzusammenhang vgl. Dok. Nr. 53, P. 2.

Dementsprechend hat die Bevölkerung nicht nur kein Verständnis dafür, daß die deutsche Regierung, soweit es überhaupt in ihrer Macht steht, den russischen conterrevolutionären Truppen und ihren deutschen Helfern Schwierigkeiten bereitet; sie hält diese vielmehr für eine schmähliche und in verbrecherischer Weise deutschen Boden der bolschewistischen Gefahr aussetzende Handlung. Wollte die Regierung es versuchen, mit Gewalt gegen die deutschen Truppen im Baltikum, sobald sie den Boden Ostpreußens betreten, vorzugehen, so würde sie ein unerhörtes Fiasko erleben.

Keiner der Reichswehrtruppenteile Ostpreußens würde bereit sein, auf Befehl der Regierung gegen einen deutsch-baltischen Truppenteil einzuschreiten; ein solches Vorgehen würde dem betreffenden Reichswehrtruppenteil von der gesamten Bevölkerung Ostpreußens als der niederträchtigste Verrat am Vaterlande und am patriotischen Gefühl ausgelegt werden.

Aus dieser Stimmung heraus kann sich sehr wohl in Zukunft eine sehr große Gefahr für das Weiterbestehen Ostpreußens als Bestandteil Preußens und des Deutschen Reiches ergeben. Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, daß die Lage in Westrußland und dem Baltikum die deutschbaltischen Truppen eines Tages zwingen wird, nach Ostpreußen überzutreten. Dieser Fall wird umso wahrscheinlicher, je mehr durch die Maßnahmen der Regierung jenen Truppen der Nachschub an Bekleidung usw. gesperrt wird3. Als was und in welcher Absicht würden dann die deutschbaltischen Truppen nach Preußen übertreten? Bleiben sie in der Hand ihrer Führer, so dürfte das Wahrscheinliche sein, daß sie voll Wut und Entrüstung über den „Verrat“ der Regierung zurückkehren mit der Absicht, von Preußen aus eine gewaltsame Bewegung zum Sturz dieser[385] Regierung einzuleiten4 oder aber die Provinz Ostpreußen vom Reiche loszulösen und als Autonomstaat zu erklären5 . Daß sie in beiden Fällen sehr bedeutende Teile Ostpreußens hinter sich haben werden, kann man nach der heutigen Stimmung in der Provinz ohne weiteres annehmen, und zwar umso mehr, je näher durch den Verfall des westrussischen Unternehmens die bolschewistische Gefahr den ostpreußischen Grenzen rückt. – Sehr wohl möglich ist es aber auch, daß die baltischen Truppen, die heute noch volles Vertrauen zu ihren Führern haben, und die nach allgemeinem Urteil disziplinar sehr hoch stehen, bei einem Zusammenbruch der ostpreußischen Aktion ihre Wut und ihre Enttäuschung nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen ihre Offiziere richten, die ihnen falsche Versprechungen gemacht hätten. Tritt dies, was allerdings von Kennern der Verhältnisse als der unwahrscheinlichere Fall bezeichnet wird, tatsächlich ein, so wäre damit zu rechnen, daß sich die Masse der führer- und disziplinlosen Truppen den regierungsfeindlichen linksradikalen Elementen anschließen würden, wodurch diese ohne weiteres zur absoluten Macht in Ostpreußen gelangen würden. Wie sich dann die Entente verhalten würde, ist umso weniger zu übersehen, als das linksradikale Ostpreußen selbstverständlich in engste Beziehungen zu Sowjetrußland treten würde.

3

Vgl. die Kabinettsbeschlüsse vom 13.10.19 (Dok. Nr. 77, P. 3).

4

General Turner, das brit. Mitglied der Interall. Baltikumkommission, berichtet unter dem 5.12.19 Einzelheiten über Staatsstreichpläne, die von Offizieren der „Eisernen Division“ Major Bischoffs z. Z. offen diskutiert würden. Ziele seien der Sturz der gegenwärtigen Berliner Reg., die Errichtung einer Militärdiktatur und die Nichtanerkennung des VV. Auslösender Vorwand sollten angezettelte spartakistische Unruhen in Berlin sein. Der Zeitpunkt stehe noch nicht fest; die Verzögerung der Baltikumsräumung diene aber offensichtlich dem Ziel, die „Eiserne Division“ als voll ausgerüsteten und geschlossenen Truppenkörper nach Deutschland zurückzuführen (DBFP, 1st Series, Vol. III, No. 210; vgl. auch Nos 211–214). Diese Informationen werden am 8. 12. dem RAM durch Vertreter der IMKK in Berlin zur Kenntnis gebracht (Mitteilung des RAM an den RK und den RWeM vom 11.12.19; Durchschrift mit Sichtparaphe des RK vom 16. 12.; R 43 I /48 , Bl. 151 f.).

5

Der Gedanke, einen sog. Oststaat zu schaffen, war im Zusammenhang mit Widerstandsbewegungen gegen die Annahme des VV im Sommer 1919 bereits ernsthaft erwogen worden (vgl. Dok. Nr. 29, Anm. 2). In einer Analyse der Motive der hinter diesen Planungen stehenden Kräfte war in einer der RReg. mit Anschreiben vom 25.6.19 durch den PrIM u. d. T. „Die Ostdeutsche Republik“ vorgelegten Denkschrift u. a. ausgeführt worden: „Ein [unabhängiges ostdeutsches] Staatswesen könnte in Deutschland leicht so aufgefaßt werden, als ob es ein Hort reaktionärer Tendenzen werden wolle, als ob vom Osten her die Reaktion komme. Tatsächlich spielt ja bei dem Gedanken der ostdeutschen Republik auch der innerpolitische Gegensatz gegen Berlin eine Rolle, und es ist klar, daß derartige innerpolitische Tendenzen in einem unabhängigen Staat verhältnismäßig leichter zur Herrschaft kommen können als in preußischen Provinzen“ (R 43 I /1830 , Bl. 41–45). Nach dem Zusammenbruch der Oststaatspläne ist die Denkschrift ohne aus den Akten ersichtliches Echo geblieben.

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