2.104.3 (bru1p): 3. Außenpolitische Fragen.

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3. Außenpolitische Fragen.

Der Reichskanzler machte darauf aufmerksam, daß die Außenpolitik durch die Nationalsozialisten bei dem Wahlkampf im stärksten Maße in den Vordergrund gerückt werde. Er richtete an die Mitglieder des Reichskabinetts die Bitte, in ihren Äußerungen über außenpolitische Dinge möglichst vorsichtig zu sein und sich vor Äußerungen in der Öffentlichkeit mit dem Reichsminister des Auswärtigen bzw. mit ihm ins Benehmen zu setzen.

Der Reichsminister des Auswärtigen führte aus, daß in letzter Zeit in der Öffentlichkeit insbesondere die Frage des Verhältnisses zwischen West- und Ostpolitik behandelt werde. Es werde teilweise behauptet, daß die Reichsregierung ihre Westpolitik nur betrieben habe, um hinterher im Osten freie Hand zu haben. Eine derartige Auffassung sei falsch und auch ein Unrecht gegenüber den Erfolgen, die im Westen erzielt worden seien. Es sei ein Wunder, daß die Rheinlandräumung jetzt vollzogen sei. Hierauf müsse in der Öffentlichkeit immer wieder hingewiesen werden.

Was nun den Osten anlange, so sei sich wohl die deutsche Öffentlichkeit darüber einig, daß der gegenwärtige unmögliche Zustand beseitigt werden müsse. Zur Beseitigung dieses Zustandes könne man jedoch jetzt noch nicht entscheidend vorgehen.

Noch während die Young-Verhandlungen schwebten, habe er mit Rußland Fühlung genommen, um den Boden für eine wenigstens teilweise Rückgewinnung[386] des Korridors dort ganz allmählich vorzubereiten. Diesem Ziel dienten letzten Endes auch Verhandlungen Deutschlands mit Litauen, die zunächst verhindern sollten, daß Litauen und Polen sich alsbald einigten. Mit Österreich seien intime Verhandlungen schon unter dem früheren Reichskabinett geführt worden8.

8

Diese Verhandlungen fanden während des Besuchs des Österreichischen Bundeskanzlers Schober in Berlin im Februar 1930 statt: s. diese Edition, Das Kabinett Müller II, Dok. Nr. 453.

Von entscheidender Bedeutung in der Korridorfrage sei naturgemäß Frankreich. Die Mehrheit der Bevölkerung in Frankreich wünsche eine Verständigung mit Deutschland. Frankreich gewinne allmählich Verständnis dafür, daß die Korridorfrage für Deutschland von grundlegender Bedeutung sei.

Um auch die Vereinigten Staaten von Nordamerika für diese Frage zu interessieren, habe er den Botschafter Sackett gebeten, nach dem Osten zu reisen. Er habe erreicht, daß dieser sich nunmehr für das Korridorproblem in starkem Maße interessiere9. Eine gewisse Auflockerung der öffentlichen Meinung in dieser Frage sei bereits erzielt worden. Er sehe nun vor allen Dingen drei Gefahren:

9

Der RegPräs. von Westpreußen, Budding, hatte den RK in einem Schreiben vom 14.8.30 über einen Besuch Sacketts in Marienwerder unterrichtet. Der US-Botschafter sei von der Künstlichkeit der Grenzziehung stark beeindruckt gewesen; er halte den Korridor und Ostpreußen für eine Gefahrenzone, die im Interesse des Weltfriedens beseitigt werden müsse. Pünder hatte in seinem Dankschreiben an Budding, das er im Auftrag des RK verfaßt hatte, darauf hingewiesen, daß nach der Lösung der Westfragen in der nächsten Zukunft die Ostfragen zweifellos mehr in den Vordergrund der dt. Außenpolitik rücken würden (Konzept des Schreibens vom 16.8.30 in R 43 I /124 , Bl. 325). ORegR Planck stellte in einem Vermerk vom 23. 10. fest, das AA teile die Ansicht Buddings, „daß an der Ostgrenze Teillösungen vermieden werden müssen, um nicht die Gesamtlösung im deutschen Sinne zu verbauen“ (R 43 I /124 , Bl. 326).

a)

Die Gefahr einer zu frühen Lösung. Diese Gefahr sei deshalb so groß, weil eine zu frühe Lösung zwangsläufig unvollständig sei.

b)

Die Gefahr einer negativen Festlegung der in Betracht kommenden politischen Faktoren, nicht nur Polens.

c)

Die Gefahr, daß die deutsche Öffentlichkeit ihre Erwartungen zu hoch spanne, wenn man jetzt zu viel von der Korridorfrage spreche.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete habe die Wirkung seiner ersten Rede über die Korridorfrage10 durch sein Rundfunkgespräch11 wieder[387] abgeschwächt. Inzwischen sei jedoch ein Interview mit ihm in der Königsberger Allgemeinen Zeitung erschienen12, das die Öffentlichkeit neu errege.

10

Auf einer Veranstaltung der heimattreuen Ostverbände zur Erinnerung an die 10. Wiederkehr des Abstimmungstages in West- und Ostpreußen hatte Treviranus u. a. ausgeführt: „Nun fordert der Osten Einheit und Einsatz des ganzen deutschen Volkes, Willen, Zukunftshoffnung. Wir gedenken in der Schwere und Tiefe unserer Seele des zerschnittenen Weichsellandes, der ungeheilten Wunde in der Ostflanke, diesem verkümmerten Lungenflügel des Reiches. Wir denken daran, unter welch schnödem Druck Wilson zur unnatürlichen Abschnürung Ostpreußens gepreßt, zu welchem Zwitterzustand das deutsche Danzig verurteilt wurde. Die Zukunft des polnischen Nachbars, der seine staatliche Macht nicht zum geringsten Teil deutschen Blutopfern verdankt, kann nur gesichert sein, wenn Deutschland und Polen nicht durch eine ungerechte Grenzziehung in ewiger Unruhe gehalten werden. Die Grenzen des Unrechts halten nicht stand gegen Volksrecht und nationalen Lebenswillen […]. Der Tag wird kommen, wo der Kampf für das Recht Deutschland und Europa befreit hat“: DAZ Nr. 369–370 vom 12.8.30; vgl. auch Schultheß 1930, S. 188–189.

11

Am 12. 8. war Treviranus von einem Redakteur des Berliner Börsen-Curiers im Rundfunk interviewt worden. Der RMbesGeb. hatte die Unterstellung zurückgewiesen, daß er Krieg wolle. Er war auf den Locarno-Vertrag und den von Stresemann mehrfach ausdrücklich hervorgehobenen Unterschied zwischen den Bestimmungen über die Westgrenzen und den Verhältnissen im Osten eingegangen. Er [Treviranus] sei davon überzeugt gewesen, daß seine Ausführungen eine Friedensrede und nicht eine Kriegsrede gewesen seien. Für Dtld. sei der Frieden die Voraussetzung der Lebensmöglichkeiten, allerdings ein Friede, der ehrlich, der rein und klar sein müsse: „Wir sind davon durchdrungen, daß aus Unrecht Recht werden muß und daß nur durch dieses Recht unser Vaterland und Europa glücklich werden kann“ (DAZ Nr. 373–374 vom 14.8.30).

12

In diesem Interview hatte der RMbesGeb. mit äußerstem Nachdruck betont, die Not des dt. Ostens werde bestehen bleiben, solange nicht eine vernünftige, den wirtschaftlichen Interessen der Grenzbevölkerung entsprechend neue Grenzregelung erfolge. Sie sei die nächste dringende Frage, die gelöst werden müsse. Darin gehe er mit dem RK, mit seinen Ministerkollegen und 90% der dt. Bevölkerung konform. Der Vorschlag des Grafen Wladimir d’Ormesson in der „Revue de Paris“, das Korridor-Problem etwa dergestalt zu lösen, daß souveräne dt. Querverbindungen nach Danzig und Ostpreußen geschaffen werden würden, allerdings nur in der Breite eines Federstriches, sei gänzlich verfehlt: „Die gerechte Lösung des Korridor-Problems ist es, die wir mit allen politischen und diplomatischen Mitteln erstreben. […] Man unterschätzt mich, wenn man mir unterstellen will, daß ich mir die Lösung des Korridor-Problems auf kriegerischem Wege vorstelle. Nein, diese Angelegenheit ist zunächst eine Sache des Völkerbundes. Danach ließe sich auch eine Konferenz der beteiligten Anrainer in die Wege leiten. Wann es soweit sein wird, wage ich nicht zu prophezeien, aber die Bereinigung der Ostfrage ist jetzt nach der Liquidation des Rhein-Problems akut. Sie steht auf dem nächsten außenpolitischen Programm der Reichsregierung“ (DAZ Nr. 375–376 vom 15.8.30).

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete bemerkte hierzu, daß er dem Redakteur der Königsberger Allgemeinen Zeitung, Dr. Heuer, keinesfalls ein Interview gegeben, sondern im Gegenteil jede Äußerung ihm gegenüber abgelehnt habe. Er werde eine Richtigstellung in der Zeitung verlangen13.

13

Dies ist nicht geschehen: s. Dok. Nr. 110.

Der Reichsminister des Auswärtigen machte darauf aufmerksam, daß Botschafter von Hoesch über die Wirkung der Äußerungen des Reichsministers für die besetzten Gebiete über die Korridorfrage in der französischen Öffentlichkeit sehr bestürzt sei14. Es bestehe die Gefahr, daß der auf Verständigung hinarbeitende Briand völlig in Frankreich diskreditiert werde15. Auch das Echo in England und Italien sei schlecht. In Polen bestehe besonders die Gefahr, daß es sich in der Frage der Minderheitenpolitik versteife16. Er habe auch gehört,[388] daß Polen beabsichtigte, das deutsch-polnische Liquidationsabkommen nicht zu ratifizieren. Er könne nur die dringende Bitte äußern, daß die Mitglieder des Reichskabinetts sich bei ihren Reden über außenpolitische Dinge so vorsichtig wie nur möglich äußerten. Nach der Geschäftsordnung der Reichsregierung hätte sich der Reichsminister für die besetzten Gebiete vor seinem Interview mit dem Auswärtigen Amt in Verbindung setzen müssen17. Vielleicht könne der Reichskanzler in einer öffentlichen Rede über diese Dinge beruhigend wirken18. Er, der Reichsminister des Auswärtigen, sei durch das Vorgehen des Reichsministers für die besetzten Gebiete in eine schwere Situation gekommen.

14

Hoesch hatte berichtet, daß die Rede „in der Tat hier böse gewirkt“ habe „und in der Presse schärfstens kritisiert“ werde (Telegramm Nr. 794 vom 11.8.30, Pol. Archiv des AA, Büro RM, 7 Akten betr. Frankreich, Bd. 20).

15

„Es ist nicht zu leugnen, daß die bekanntlich schon vorher wenig erfreuliche hiesige Stimmung gegen Deutschland durch die erwähnten beiden Ministerreden [gemeint ist außer der Treviranusrede eine Rede Wirths vom 11. 8. über die Unvollständigkeit der am Rhein erlangten Freiheit] einen ziemlichen Grad der Erregung erreicht hat. Gerade eben erzählte mir eine hochstehende, ganz zuverlässige Persönlichkeit, daß ein französisches Kabinettsmitglied ihr gegenüber heute früh geäußert habe, die außenpolitische Lage sehe angesichts des in deutschen Ministerreden zum Ausdruck kommenden Wiederauflebens deutschen Nationalismus außerordentlich düster aus. Man müsse sich jetzt wohl darüber Rechenschaft geben, daß Rheinlandräumung ein Fehler gewesen sei, und es werde angesichts dieser Entwicklung schließlich wohl nichts anderes übrig bleiben, als daß das französische Kabinett sich von Briand trenne“ (Telegramm Hoeschs Nr. 798 vom 12.8.30, Pol. Archiv des AA, Abt. II, Politik 2 Frankreich, Akten betr. Politische Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich, Bd. 22).

16

Vgl. Dok. Nr. 173, P. 1. Der poln. AM Zaleski hatte am 14. 8. beim dt. Geschäftsträger v. Rintelen gegen die Rede des RMbesGeb. protestiert. „Obwohl man von ihm in der Öffentlichkeit und auch in der Regierung eine scharfe Antwort verlangen könne, begnüge er sich mit dem Gesagten unter Hinzufügen, daß er hinsichtlich Weiter-Entwicklung deutsch-polnischer Beziehungen recht trübe in die Zukunft sehe“ (GesandtschaftsR v. Rintelen, Warschau, Telegramm Nr. 111 vom 14.8.30, Pol. Archiv des AA, Abt. IV a, Politik 2 Polen, Akten betr. die politischen Beziehungen Polens zu Deutschland vom 3. 6. bis 15.9.30, Bl. 73–75).

17

§ 12 Abs. 2 Satz 2 der GO der RReg. vom 3.5.24 lautete: „Ebenso dürfen Interviews, die die auswärtige Politik berühren, nur nach vorherigem Benehmen mit dem Auswärtigen Amte (Presseabteilung) gegeben werden“ (RMinBl. 1924, S. 174).

18

Der RK ging in einer Wahlrede in Trier am 31. 8. auf die Führung der Außenpolitik durch ihn und den RAM ein: s. Dok. Nr. 110, Anm. 3.

Der Reichskanzler machte darauf aufmerksam, daß neuerdings alle Parteien des Reichstags die Schwierigkeiten des Youngplans in auffälliger Weise betonten. Auch hier sei nach seiner Auffassung eine gewisse Zurückhaltung geboten, weil ein Moratorium nicht zu früh kommen dürfe.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete betonte, daß er nicht die Absicht gehabt habe, den Reichsminister des Auswärtigen in Schwierigkeiten zu bringen. Er werde bei seiner nächsten öffentlichen Rede erklären, daß Deutschland seine ganze Kraft auf die innenpolitische Bereinigung legen müsse19.

19

Vgl. dazu Dok. Nr. 110, Anm. 4.

Der Reichsminister des Innern führte aus, daß Frankreich in bezug auf die weitere Fortführung der Verständigungspolitik schon seit langem keine Geste mehr gezeigt habe. Nach seiner Auffassung solle die Reichsregierung nicht allzu zaghaft in der Behandlung außenpolitischer Fragen sein. In Deutschland könne keine bürgerliche Regierung existieren, die nicht eine warme nationale Note anschlage20.

20

Vgl. Anm. 15.

Der Reichskanzler richtete zum Schluß an die Mitglieder des Reichskabinetts die Bitte, sich mit dem Auswärtigen Amt in Verbindung zu setzen, bevor sie über Fragen der Außenpolitik sprächen. Er erklärte sich bereit, wahrscheinlich in einer Wahlversammlung in Trier am 1. September in vorsichtiger Weise die Korridorfrage zu berühren und teilte im übrigen mit, daß am 3. 9. eine Ministerbesprechung über die Genfer Verhandlungen stattfinden solle21.

21

S. Dok. Nr. 110 und Dok. Nr. 111.

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