2.37.1 (cun1p): [Politische Lage]

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Das Kabinett Cuno Wilhelm Cuno Bild 183-1982-0092-007Französischer Posten Bild 183-R43432Posten an der Grenze des besetzten Gebietes Bild 102-09903Käuferschlange vor Lebensmittelgeschäft Bild 146-1971-109-42

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Text

RTF

[Politische Lage]

Der Herr Reichspräsident eröffnete die Sitzung. Er habe die Herren zum Kabinettsrat gebeten, da in dieser ernsten Lage alles darauf ankomme, mit Klarheit, festem Willen, ruhiger Einsicht und völliger Einigkeit den kommenden Ereignissen entgegenzugehen. Im Einvernehmen mit dem Herrn Reichskanzler und den zuständigen Ministern habe er heute nachmittag einen Aufruf an die Bevölkerung des bedrohten Gebietes gerichtet. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung stehe noch nicht genau fest. Der Herr Reichspräsident verlas hierauf den Aufruf1.

1

Aufruf des RPräs. und des RK an die Ruhrbevölkerung in R 43 I /203 , Bl. 61, abgedruckt in Schultheß 1923, S. 4. Der Aufruf wurde am 9.1.23 telefonisch und telegrafisch an den Polizeipräs. von Essen gegeben mit der Bitte, „im Benehmen mit dem RPräs. die Drucklegung und Verbreitung durch Anschlag, Verteilung und Veröffentlichung in der Presse im neu zu besetzenden Gebiet zu veranlassen.“ (Büro des RPräs. an RK vom 9.1.23 in R 43 I /203 , Bl. 58).

Der Herr Reichskanzler teilte mit, daß von der Reichsregierung ein Aufruf an die gesamte Bevölkerung des Reiches beabsichtigt sei und verlas den vorläufigen Entwurf hierfür2.

2

Aufruf des RPräs. und der RReg. vom 11.1.23 in R 43 I /203 , Bl. 89-91, gedruckt im Weißbuch ‚Aktenstücke über den französisch-belgischen Einmarsch in das Ruhrgebiet‘, das als RT-Drucks. Nr. 5555, Bd. 376 , am 15.2.23 vom AA an den RT geleitet wird; ebenso in Schultheß 1923, S. 8 f. sowie in Ursachen und Folgen Bd. V, S. 21 f.

Sodann legte der Herr Reichskanzler die Auffassung der Reichsregierung über die gegenwärtige Lage und die zu treffenden Maßnahmen im Sinne der Anlage dar3. Er bemerkte hierbei noch besonders: der Botschafter in Paris wird abberufen in der Form, daß er die Geschäfte dem Botschaftsrat zu übertragen habe und Paris zu verlassen angewiesen werde. Das Vorgehen in Rom und Brüssel hänge von der tatsächlichen Beteiligung Belgiens und Italiens am Einbruche ab. Den französischen, belgischen und allenfalls auch den italienischen[124] Mitgliedern der interalliierten Kontrollkommissionen in Deutschland werde durch ihre Botschafter Mitteilung zugehen, daß wir unter den gegenwärtigen Umständen Garantie für ihre Sicherheit nicht übernehmen können.

3

Eine entsprechende Anlage fehlt; doch findet sich in den Akten eine fünfseitige undatierte Aufzeichnung Hamms, zum größten Teil handschriftlich, die lt. Vermerk Wevers am 12. 8., also anläßlich der Demission des Kabinetts Cuno, zu den Akten gegeben wurde. Sie hat wahrscheinlich dem RK in dieser Sitzung als Vorlage gedient. Sie lautet: „Wenn es nun zu Sanktionen und Gewaltmaßnahmen im Rheinland kommt, so wird die nächste Folge wohl eine starke nationale Welle sein. Es gilt, diese Welle dem Staate dienstbar zu machen, sie nicht sich selbst zu überlassen und nicht etwa unter das Zeichen des Hakenkreuzes, auch nicht der schwarz-weiß-roten Flagge kommen zu lassen, sondern dafür zu sorgen, daß sie von vornherein der Einigung und Versöhnung im deutschen Volke diene, und daß sie, fern jeder Hurrabegeisterung, den Willen stärke, schwere Not zu tragen, die nun kommen wird. Wenn der Dollar steigt, der Brotpreis und alle anderen Preise weiter maßlos in die Höhe gehen, wenn die französische Beherrschung des Kohlengebiets die Kohlenversorgung Deutschlands aufs schwerste schmälern, verwirren und durcheinanderwerfen wird, die von Frankreich vielleicht erhobene Kohlengoldsteuer die Beschaffung von Kohlen auch finanziell in weitem Umfange unmöglich machen wird, wenn dann auch infolge der erlahmenden Kaufkraft die Inlandsbeschäftigung sinkt, die Beschäftigung für das Ausland, die zunächst durch den Marksturz wieder wirtschaftliche Möglichkeiten erhielte, infolge von Kreditschwierigkeiten in der Rohstoffbeschaffung oder aus anderen Gründen eingeschränkt wird, werden viele, die heute Abweisung jeglicher Forderungen der Gegner verlangen, in Unmut sich gegen die Regierung wenden. Hiernach wird die Arbeit der nächsten Zeit einzustellen sein auf die folgenden Gesichtspunkte: 1) Protest der Regierung, Protestbewegung des Volkes. 2) Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, Weisung an die Behörden in den den Sanktionen unterworfenen Gebieten, Überprüfung der Polizeimaßnahmen für Unruhezeiten. 3) Vorsorge für Ernährung. 4) Vorsorge für Zeiten der Arbeitslosigkeit durch Bereitstellung von Notstandsarbeiten und durch sonstige Maßnahmen. 5) Auch in anderen Verwaltungszweigen wird Beschleunigung durch die Not geboten werden, so für Maßnahmen zur Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs, der Mißstände der Fremdeneinwanderung, der Wucherbekämpfung, der Kleinrentnerfürsorge. 6) Maßnahmen im Osten.

Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten könnten sich bis zur Auflösung des Reiches steigern; aus Arbeitslosigkeit könnte eine vielleicht mit nationalistischen Elementen durchsetzte Linksbewegung starke Kräfte ziehen. Würde dann die staatliche Ordnung in Norddeutschland schwach und schwankend, so bestünde die Gefahr, daß in Bayern die nationalistische Bewegung separatistisch wird, nicht im Willen vielleicht, aber in der Wirkung, besonders wenn Frankreich die Trennung mechanisch durch Abschnürung am Main, psychologisch durch Verhetzung gegen Norddeutschland und eine weiche Politik dem Süden gegenüber, wirtschaftlich durch entsprechende Ausnutzung der dann von Frankreich beherrschten drei großen Kohlengebiete – Ruhr, Saar, Schlesien – vorbereitet. Auch die Stellung Wiens wird in diesem Zusammenhang bedeutungsvoll. Alle diese Gefahren können kein Abweichen von der Linie des Rechtes und des Protestes nahelegen. Sie zwingen vielmehr, auf diesem Wege erst recht folgerichtig zu bleiben, weil jetzt alles darauf ankommt, die geschichtliche Moral auf unserer Seite festzuhalten und sie zu Kraft in unserem Volk zu bringen. Sie zeigen aber auch, wie täglich sich erneuernde Aktivität, innen in der Richtung der großen Linie, auch von Parteien, Wirtschaftern und Presse zu fordern sein wird.“ Sodann folgen in der Aufzeichnung Einzelmaßnahmen: „Rechtsverwahrung: 1) an alle Unterzeichner des VV, 2) an Völkerbund, 3) an Papst, 4) Rückberufung des Botschafters in Paris und allenfalls des Gesandten in Brüssel. Internationale Kundgebungen: Gewerkschaften-Internationale: Aufruf zu Kundgebungen, Episkopat an Papst, Evang. Kirchenbund (vgl. zurückgestellte Kriegsschuldkundgebung), Pazifisten, Liga für Völkerrecht usw., Frauenweltbund; Nationale Kundgebungen: Kundgebung des RPräs., der RReg. und des RT; Anschlag besonders in den bedrohten Gebieten, Versammlungen im ganzen Reich zu bestimmter Stunde, auf freiem Platz, Glocken, … Gleichzeitig eine Stunde Arbeitsstillstand aller Behörden, Betriebe, Läden und allen Verkehrs (auch der Autos und Straßenbahnen in den Städten) mit Ausnahme der Eisenbahn. Trauertag: Schließung von Varietés usw.; Kino nur für bestimmte Aufführungen, ebenso Theater; Verbot jeglicher Musik; Polizeistunde 10 Uhr, insbesondere auch für große Luxushotels. Durch längere Zeit hindurch Versammlungen, mit Stoff zu versorgen von Reichszentrale für Heimatdienst und Arbeitsgemeinschaft der Verbände, und zwar über die Vertikalorganisationen der Parteien wie die Horizontalorganisationen der Standesvereinigungen usw. Tanzverbot und Musikbeschränkung. Boykott französischer Waren. Länger dauernde scharfe Unterdrückung des Alkoholmißbrauchs.“ (R 43 I /214 , Bl. 266-269).

Der Herr Reichswehrminister teilte mit, daß der Reichsarbeitsminister, der nach der heutigen Besprechung erneut erkrankt sei, ihn gebeten habe, den Wunsch vorzubringen, daß ein Aufruf der Deutschen Regierung an die Völker der Erde ergehen müsse.

Der Herr Reichsminister des Auswärtigen äußerte die Meinung, daß wir von einer Politik der Appelle uns frei halten sollten. Er wäre darin durch eine Mitteilung des Gesandten Dr. Müller in Bern bestärkt, der vor solcher Politik warne. Auch er selbst habe während seines vierjährigen Auslandsaufenthaltes bestätigt gefunden, daß durch solche Appelle Sympathien nicht gestärkt und nicht geweckt würden. Belgien und namentlich Italien gegenüber sei vorsichtige Behandlung geraten. Eine nicht starke Beteiligung dieser Staaten an der Gewaltpolitik Frankreichs werde zweckmäßigerweise übersehen werden können. Eine Beteiligung italienischer Ingenieure brauche nicht sofort als eine Beteiligung Italiens betrachtet zu werden4. Für den französischen Botschafter in Berlin sei erhöhter Schutz vorgesehen. Gesellschaftlichem Zusammentreffen mit Vertretern der an der Gewaltpolitik beteiligten Mächte werde auszuweichen sein. Die schwierigste Frage sei die der künftigen Verhandlungen. Unser nationaler Widerstand könne sich immerhin leider nur in bescheidenen Formen äußern. Verhandlungen mit der Reparationskommission könnten wir jedenfalls nicht führen. Verhandlungen über die Räumung des Ruhrgebiets wären nur mit den Regierungen möglich.

4

Am 12. 1. vermerkt der RAM, der ital. Botschafter Bosdari habe offiziös mitgeteilt, „daß Italien nur, um dem französischen Druck eine Konzession zu machen, der Übersendung von zwei italienischen Ingenieuren ins Ruhrgebiet zugestimmt habe.“ (AA Büro RM 8, Italien Bd. 1). Am 18. 1. bietet Bosdari in einem Gespräch mit dem RK Italiens Vermittlung im Ruhrkonflikt an; Cuno lehnt ab: „Unter dem Druck der Bajonette mit Frankreich zu verhandeln, sei uns nicht möglich.“ (Aufzeichnung StS Hamms im AA a.a.O.). Auch in der Folgezeit bekundet die ital. Reg. wiederholt ihre Vermittlungsbereitschaft, die von der RReg. aber nicht in Anspruch genommen wird.

Der Herr Reichspräsident glaubt, daß die Frage künftiger Verhandlungen zurückgestellt werden könne. Nach seiner Auffassung sei nach dem, was der Herr Reichskanzler vorgetragen, von der Reichsregierung alles erwogen und das Notwendigste geschehen. Dabei komme es nicht so sehr darauf an, ob nun das einzelne stark genug herauskomme oder nicht, als vielmehr auf die sachliche Haltung. Appelle an die Welt seien stark abgegriffen und haben uns bisher wenig Erfolg gebracht. Wenn wir die Erkenntnis durchblicken lassen, daß wir in dieser schweren Zeit auf unsere eigene Kraft und Festigkeit angewiesen sind, so werde das in der Welt den besten Eindruck machen. Sehr wichtig seien die Erklärungen zur Rechtsfrage; dabei müsse man sehr vorsichtig sein, um nicht den Franzosen die Möglichkeit zu geben, daß nun auch sie der Vertragsverpflichtungen sich frei und ledig erklären. Deshalb werde auch von Suspensionen des Vertrages nur hinsichtlich unserer Leistungen zu reden sein5.[125] Das werde jeder verstehen, daß wir nicht mehr leisten können, nachdem man uns unsere Wirtschaftskraft und unsere Wirtschaftsseele aus dem Leibe zu reißen versucht. Nach dem Londoner Ultimatum habe man die Botschafter nicht förmlich abberufen, aber zu einer Besprechung hierher berufen, sie ein paar Wochen hier sein lassen und die Botschaftsräte mit der Führung der Geschäfte betreut. Es habe sich damals aber doch dies Fehlen der wichtigsten Vertreter in solcher Zeit als ein Mangel erwiesen. Er bitte daher, in dieser Frage vorsichtig zu sein und, wenn möglich, die Maßnahme auf Paris zu beschränken und auch dort in eine Form zu kleiden, daß sich daraus keine Verschärfung ergebe6.

5

Dazu schreibt OB Adenauer am 9. 1. an den RK: „Der hiesige britische Bezirksdelegierte hat mit mir die Frage erörtert, ob es zweckmäßig sei, wenn Deutschland als Antwort auf das Vorgehen Frankreichs erkläre, der Versailler Vertrag bestehe nicht mehr. Als seine Meinung und die Meinung des britischen Vertreters in der Irko erklärte er, ein solches Vorgehen im gegenwärtigen Augenblick würde englische Sympathien für Deutschland gefährden. Er erachte es für richtiger, wenn Deutschland sich die Möglichkeit, eine solche Konsequenz aus dem französischen Vorgehen zu ziehen, aufhalte, um je nach dem Lauf der Entwicklung davon Gebrauch zu machen. Der Eindruck des französischen Vorgehens in England werde für Deutschland überaus günstig sein. Vielleicht würde in einigen Wochen ein solcher Schritt Deutschlands sehr gut erscheinen.“ (R 43 I /203 , Bl. 62). Der RK antwortet darauf am 11. 1. u. a.: „Die RReg. ist in eingehenden Beratungen zu demselben Ergebnis gekommen.“ (R 43 I /203 , Bl. 64).

6

Am 11. 1. werden Botschafter Mayer aus Paris und Gesandter Landsberg aus Brüssel abgerufen mit der Weisung, die Geschäfte dem betr. Botschafts- bzw. Gesandtschaftsrat zu übertragen.

Die Stellung zur Reparationskommission sei sehr wichtig; die Maßnahmen, gegen die wir uns wenden, seien nicht von ihr, sondern von der französischen Regierung beschlossen, wenn auch die Kommission (obgleich nicht mit Stimmenmehrheit)7 die Verfehlung festgestellt habe8. Man solle sich daher überlegen, ob man nicht die Verbindung mit ihr aufrechterhalten solle. Ihr gehöre der englische Vertreter an, und es sei wichtig, einen Punkt zu behalten, wo wir wieder einsetzen können9.

7

Muß heißen: (obgleich nicht einstimmig).

8

Die Repko hatte in ihrer Sitzung am 26.12.22 gegen die Stimme des engl. Vertreters Bradbury eine vorsätzliche Nichterfüllung der Holzlieferungen durch Deutschland festgestellt und den beteiligten Regierungen notifiziert (RT-Drucks. Nr. 5555, Bd. 376, S. 3 ). Die Nichterfüllung der Lieferungsprogramme für Holz und Kohle wird von der frz. Regierung in ihrer Note vom 10.1.23 als Grund für die Ruhrbesetzung genannt (RT-Drucks. Nr. 5555 , S. 20 ff.). Zur dt. Reaktion s. Anm. 17.

9

Die dt. Stellung zur Repko umreißt v. Rosenberg am 12. 1. der Dt. Kriegslastenkommission in Paris wie folgt: „Vertrag von Versailles gilt nicht als aufgehoben, daher wird Verhältnis zu Repko grundsätzlich und rechtlich durch französisches und belgisches Vorgehen und durch Abreise Botschafters nicht berührt. Geschäftsführung mit Repko geht daher weiter. Empfehle jedoch, französischen und belgischen Mitgliedern gegenüber tunlichste Zurückhaltung. Die Folgen in materieller Hinsicht ergeben sich aus heute an französische und belgische Missionen in Berlin übergebenen Antwortnoten, die Ihnen zwecks Mitteilung an Repko alsbald gedrahtet werden. Daraus ergibt sich Einstellung aller Leistungen aus Vertrag von Versailles an die am Einmarsch beteiligten Mächte, solange vertragswidriger Zustand und seine tatsächlichen Folgen andauern.“ (R 2 /3124 , Bl. 27).

Den Darlegungen über die innenpolitischen Maßnahmen stimme er lebhaft zu. Insbesondere unterstütze er die Ausführungen des Herrn Reichskanzlers über das Kohlensyndikat. Das Verhalten unserer Arbeiter, besonders der Bergarbeiter, werde stark davon abhängen, ob das Kohlensyndikat den beabsichtigten Schritt ganz und energisch mache10. Die Arbeiterschaft im Westen werde[126] Prüfungen über sich ergehen lassen müssen und auch manchen Versuchungen ausgesetzt sein. Es sei klug, daß die Zechenbesitzer den ersten Schritt tun und das erste Opfer bringen. Es müsse dies aber so sein, daß es der Arbeiterschaft Respekt und Mut einflöße. Über die technischen Notwendigkeiten und Zweckmäßigkeiten müsse man das Syndikat selbst entscheiden lassen; im Lande aber müsse man so verfahren, daß für die Kohlenerfassung und -verteilung die Franzosen nicht einen Apparat übernehmen können, sondern sich die Organisation selbst aufbauen müßten.

10

Gemeint ist die Verlegung des Kohlensyndikats von Essen nach Hamburg, die auf einer Mitgliederversammlung am 9.1.23 abends bei Stimmenthaltung von drei Zechen einstimmig beschlossen und dann sogleich durchgeführt wurde. Damit wurde den Franzosen die wichtigste organisatorische Grundlage für die Erfassung und Verteilung der Kohlen genommen. Protokoll der Versammlung in Ursachen und Folgen Bd. V, S. 13 ff. Bereits am 5. 1. hatte der RAM an Botschafter Mayer telegrafiert: „Wir beabsichtigen, uns möglichst passiv zu verhalten; aus außer- und innerpolitischen Gründen keinen Streik zu provozieren und Kohlensyndikat zwar nicht aufzulösen, aber vielleicht durch Abreise seiner wichtigsten Mitglieder für Franzosen unbrauchbar zu machen. Abbruch diplomatischer Beziehungen nur für den Fall äußerster französischer Brutalität ins Auge gefaßt. Dagegen wird auch für den Fall von weniger brutalen Maßnahmen Abberufung unseres Botschafters erwogen.“ (Archiv des AA, Büro RM 5, Reparationen Bd. 10).

Im Osten sähe er noch keine Gefahr. Alle vorsichtigen Fühlungen haben ergeben, daß sich nichts rührt. Für selbstverständlich aber halte er, daß, wenn unsere Grenzen rechtswidrig verletzt werden, wir uns zur Wehr setzen. Vorerst werde aber dieser Gesichtspunkt zurücktreten können, zumal er geeignet sei, Mißtrauen zu wecken.

Im ganzen sei er mit dem, was die Reichsregierung beabsichtigt, durchaus einverstanden und erkläre sich aus voller Überzeugung mit ihr solidarisch. Der Herr Reichspräsident schließt mit dem Wunsche, daß alle Schritte, sorgfältig überlegt, zu dem Ziel und Erfolge führen möchten, unser ganzes Volk in geschlossener Einheit hinter der Regierung zu halten.

Der Herr Preußische Ministerpräsident legte dar, daß auch er die Maßnahmen der Reichsregierung für durchaus richtig und für geeignet halte, die bevorstehende Zeit zu bestehen. Es werde aus politischen Gründen sehr wichtig sein, es dahin zu bringen, daß die Franzosen nicht in kurzer Zeit mehr Kohlen herausholen könnten, als sie bisher durch unsere Lieferungen erhielten. Das werde freilich nicht ganz einfach sein. Immerhin werde es, wenn die Herren des Verteilungsapparates herausgehen, für die Franzosen nicht ganz leicht sein, Lücken auszufüllen, auch wenn das untergeordnete Personal bliebe und die Arbeiten fortsetze. Natürlich sollte nicht, etwa durch Franken angelockt, ein größerer Arbeitseifer an den Tag gelegt werden. Die Franzosen werden vielleicht die für den Osten bestimmten Kohlen aufhalten und nach dem Westen bringen. Für den Erfolg komme es sehr auf den Eisenbahnbetrieb an. Es wäre natürlich falsch, wenn die Beamten sich offen weigern würden, denn dann würden die Franzosen einige Eisenbahnregimenter schicken und die Eisenbahn in ihre Verwaltung nehmen. Viel zweckmäßiger werde es sein, wenn die deutschen Beamten ihre Pflicht weiter in dem Ausmaß erfüllen, daß weniger herauskomme als bisher. Dringend notwendig sei, die Lohnfrage im Bergbau in Ordnung zu bringen. Auch im Innern des Landes komme alles darauf an, größere Lohnkämpfe zu vermeiden; solche drohen im Metallgewerbe, weil die Arbeitgeber seit längerer Zeit im Hinblick auf die schwebende Stabilisierung[127] der Mark Erhöhungen nicht mehr bewilligen11. Wenn in Berlin ein Ausstand von 250 000 Metallarbeitern eintrete, würde das die Geschlossenheit sehr gefährden. Eingreifen sei umso notwendiger, als Preiserhöhungen bereits einsetzen und in den Geschäften die Warenpreise bereits rege erhöht würden. Diesen Preisforderungen müsse entgegengetreten werden12.

11

Am 2. 1. hatten die Arbeitgeber Lohnerhöhungen in der Metallindustrie abgelehnt; daraufhin hatte am 5. 1. im RArbMin. ein Schiedsgericht sich für Lohnerhöhungen in bescheidenerem Umfang ausgesprochen, doch wurde dieser Schiedsspruch von den Gewerkschaften als unzureichend abgelehnt.

12

In der ersten Januarhälfte kam es zu starken Erhöhungen der Bahn- und Posttarife sowie der Kohlen- und Brotpreise, wodurch das gesamte Preisgefüge in Bewegung geriet. Der Dollarkurs der Mark stieg von 7 260 am 2. 1. auf über 10 000 am 10.1.23.

Eine einheitliche Kundgebung, etwa am nächsten Sonntag [14. 1.], würde er für zweckmäßig halten. Sie würde vor allem die Möglichkeit geben, die Bevölkerung, die seit 4 Jahren allzusehr abgestumpft sei, auf den Ernst der Lage hinzuweisen.

Im Preußischen Landtag werde morgen beim Wiederzusammentritt von der Regierung ein kurzes Wort zur Besetzung des Ruhrgebietes zu sagen sein, dem der Landtag sich anschließen werde13.

13

Erklärung Brauns vor dem PrLT am 10.1.23 in PrLT-Protokolle Bd. 10, Sp. 14028 ff., auch in Schultheß 1923, S. 7 f.

Herr Reichsfinanzminister Dr. Hermes hält es für wichtig, dahin zu streben, daß die Franzosen nicht mehr Kohlen ergreifen können. Indessen werde das durch Maßnahmen des Kohlensyndikats nicht sehr stark behindert werden können. Die wirksamste Waffe würde die Einstellung der Zahlung der Reparationskohle sein. In französischen Blättern sei auch das Mittel der Beschlagnahme der Kohlensteuer angedeutet worden. In solchem Falle würde die Reichsregierung den Zechen des besetzten Gebietes die Kohlensteuer zu stunden haben.

Die Funktionäre der Metallindustrie haben den Schiedsspruch unter Hinweis auf den gestrigen Schiedsspruch im Bergbau abgelehnt14. Die Verhandlungen mit den Reichsbeamten und Arbeitern verliefen sehr ruhig und werden heute wohl noch zu gutem Ende gehen15. Sobald die Lage zu übersehen sei, werde neue Fühlung mit Bradbury zu suchen sein.

14

Über die Lohnforderungen der Bergarbeiter hatte am 5. 1. ein Schiedsgericht verhandelt, doch war der Schiedsspruch von den Gewerkschaften abgelehnt worden; daraufhin kam es am 8. 1. abends im RArbMin. zu einem neuerlichen Schiedsspruch, der den Lohnforderungen der Gewerkschaften weiter entgegenkam und von diesen akzeptiert wurde. In ähnlicher Weise wird der Schiedsspruch in der Metallindustrie vom 5. 1. (s. Anm. 11) zu Gunsten der Arbeitnehmer abgeändert und so ein Streik in der Berliner Metallindustrie abgewendet.

15

Am 8. und 9. 1. fanden im RFMin. die entspr. Verhandlungen mit den Gewerkschaften statt und führten zu einer Einigung (vgl. Dok. Nr. 39, P. 1).

Der Herr Reichspräsident regte die Frage an, ob über den genauen Inhalt des von der Deutschen Regierung für Paris ausgearbeiteten Vorschlages etwas gesagt werden solle.

Der Herr Reichskanzler legt in Übereinstimmung mit Herrn Reichsminister Dr. von Rosenberg und Herrn Bergmann die Gründe dar, warum die Nennung der Zahlen nicht zweckmäßig sei16.

16

Vgl. Anm. 2 zu Dok. Nr. 34.

[128] Der Herr Reichspräsident tritt dieser Auffassung bei und würde es für taktisch unklug halten, Frankreich jetzt die Zahlen zu nennen.

ReichsschatzministerAlbert empfiehlt, auf die Bearbeitung der öffentlichen Meinung des Auslandes besonders einzugehen und hierzu besonders den Rechtsstandpunkt in der deutschen Note wirksam zu betonen17.

17

In ihrer Note vom 12. 1. weist die RReg. die frz. Begründung des Ruhreinmarsches, wie sie in der frz. Note vom 10. 1. gegeben wird, scharf zurück: „Die Deutsche Regierung muß den Schleier zerreißen, den die Französische Regierung mit ihrer Darstellung über den wahren Charakter ihres Vorgehens zu werfen sucht. Die Deutsche Regierung erklärt, daß die Beschlüsse der Repko und die angeführten Vertragsbestimmungen keinerlei Rechtsgrundlage für die Aktion im Ruhrgebiet enthalten, daß diese Aktion vielmehr eine Verletzung des Völkerrechts und des Vertrages von Versailles darstellt. Nach den ausdrücklichen Festsetzungen der Repko in ihrer Note vom 21.3.22 [‚Ursachen und Folgen‘ Bd. IV, S. 388 ff.] würde eine Verfehlung bei den Holz- und Kohlenlieferungen nichts anderes als die Forderung von Barzahlungen rechtfertigen, so daß die Anordnung anderweitiger Maßnahmen aufgrund der §§ 17, 18 in diesem Falle ausgeschlossen ist. Selbst bei rechtmäßiger Anwendung der §§ 17, 18 würden aber nur solche Maßnahmen, die ihnen dem Wesen und der Bedeutung nach gleichzustellen sind, gegen Deutschland getroffen werden dürfen. Das könnten nur Maßnahmen sein, welche die Alliierten in ihrem eigenen Hoheitsgebiet durchführen, nicht dagegen Maßnahmen, die, wie der gegenwärtige Einbruch von Truppen und Beamten in das Ruhrgebiet, die denkbar schwerste Verletzung der deutschen Hoheitsrechte bedeutet. Endlich können nach dem Vertrag etwa zulässige Maßnahmen gegen Deutschland nur von den an den Reparationen beteiligten Mächten gemeinsam, nicht von einzelnen Mächten auf eigene Faust getroffen werden.“ (R 43 I /203 , Bl. 164 f.; abgedruckt in RT-Drucks. Nr. 5555 ‚Aktenstücke über den frz.-belg. Einmarsch in das Ruhrgebiet‘ [Bd. 376 ] sowie in ‚Ursachen und Folgen‘ Bd. V, S. 26 ff.; hier auch die frz. Note vom 10. 1. und weitere Dokumente zum Ruhreinbruch). In ähnlicher Weise bestreitet der RAM bereits am 9. 1. in einer durch WTB verbreiteten Erklärung der frz. Reg. das Recht zum Ruhreinmarsch (RT-Drucks. Nr. 5555 , S. 18 ff.), der in den Morgenstunden des 11.1.23 beginnt.

Der Herr Reichsminister des Innern spricht seine Zustimmung zu der geplanten Kundgebung aus und will sich deswegen an die Länder und die beteiligten Stellen wenden18.

18

Durch VO der Landesregierungen wird daraufhin am 11.1.23 der folgende Sonntag, der 14.1.23, zum nationalen Trauertag erklärt, an dem in allen Teilen des Reichs Protestversammlungen stattfinden.

Der Herr Reichskanzler stimmt dem zu und verweist auf die von der Reichszentrale für Heimatdienst eingeleiteten Vorbereitungen.

Auf eine Bemerkung des Herrn Reichspräsidenten erklärte der Herr Reichskanzler daß in den Aufruf der Reichsregierung wohl in einem kurzen Satze aufgenommen werden könne, daß auch weiter nichts von der Reichsregierung unterlassen werde, das Unheil zu lindern. An den Schluß könne ein Hinweis auf die Kundgebung des nächsten Sonntags gesetzt werden.

Der Herr Reichspräsident schließt die Sitzung mit dem Ausdruck der Übereinstimmung mit der Reichsregierung und der Hoffnung, daß die Gefahren überwunden werden.

Wenige Minuten nach Schluß der Sitzung wird die Beratung wieder aufgenommen.

Herr Reichswirtschaftsminister teilt mit, daß nach soeben mit Herrn Stinnes geführtem Telefongespräch die Generalversammlung des Kohlensyndikats einstimmig dessen Verlegung nach Hamburg beschlossen habe19. Man wolle ferner versuchen, den ganzen technischen Apparat heute noch mit Kraftwagen[129] oder Sonderzug wegzuschaffen. Die Beamten gingen allerdings nur zum kleinsten Teil von Essen weg. Nun ergäbe sich die Schwierigkeit, daß die Dezemberausstände der Zechen rund 120 Milliarden Mark betragen und die Verlegung des technischen Apparates nach Hamburg die Rechnungstellung um 8 – 10 Tage verzögern werde. Die Zechen könnten sich selbst über diese Zeit nicht hinweghelfen. Er erbitte daher eine Zusicherung des Kabinetts oder der Reichsbank oder beider, daß über diese Geldverlegenheit mit Reichsmitteln weggeholfen werde. Das ließe sich vielleicht vorbehaltlich näherer Prüfung so ermöglichen, daß die Zechen Wechsel von der Reichsbank diskontieren ließen und diese nach Hamburg zur Unterschrift des Syndikates gäben. Der Herr Reichsbankpräsident wolle soweit irgend möglich helfen, doch könne er Wechsel mit der einen Unterschrift nicht diskontieren. Vielleicht könne man sich durch Unterschrift einer befreundeten Bank helfen, vielleicht auch dadurch, daß man den Vertreter des Syndikates in die nächste Nähe des besetzten Gebietes setzt. Der Herr Reichsfinanzminister und der Herr Reichsbankpräsident werden die Sache sofort weiter behandeln, damit noch in dieser Stunde nach Essen genügende Zusicherung gegeben werden könne20.

19

Vgl. Anm. 10.

20

In einer späteren Übersicht des RFMin. über die Kreditgewährung an die Ruhrindustrie heißt es zu diesem Punkt: „Die Rbk hat den Ruhrkohlenzechen für Dreimonatswechsel, die in der Zeit vom 10. 1. bis zum 15.2.23 von einer Zeche des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats auf eine andere Zeche oder auf das Kohlensyndikat gezogen waren, unter der Garantie des RFM einen Kredit bis zum Gesamthöchstbetrage von 150 Mrd. M eröffnet, um die Geldversorgung der Ruhrkohlenzechen für den Fall sicherzustellen, daß infolge der Verlegung des Kohlensyndikats nach Hamburg die von diesem zu erwartenden Überweisungen nicht rechtzeitig eingehen sollten.“ (Übersicht vom 31.7.23 in R 43 I /214 , Bl. 160-167).

Der Herr Reichskanzler und der Herr Reichsfinanzminister stimmen dem zu.

Der Herr Reichspräsident regt noch an, auf die Beamten einzuwirken, daß möglichst viele abreisen sollten.

Als Auszug mitzuteilen21:

21

Handschriftliche Verfügung Offermanns vom 9. 1. auf einem gesonderten Blatt.

Das Kabinett stimmt dem Vorschlage des Herrn Reichsarbeitsministers vom 2. Januar betreffend Erhöhung der Wohnungsbauabgabe zu22.

22

Mit Schreiben vom 2. 1. hatte der RArbM gebeten, die am 27.11.22 vom Kabinett beschlossene Wohnungsbauabgabe (Dok. Nr. 7, P. 3) von 1000% der Friedensmiete auf 1500% zu erhöhen (R 43 I /2343 , Bl. 4).

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